Herr Gößl, Sie sind seit fast 20 Jahren bei der IHK München und Oberbayern. Wie hat sich die Wirtschaft der Region in dieser Zeit entwickelt?
Unter dem Strich ergibt sich ein hervorragendes Bild. Wobei der Start nicht ganz so einfach war. Im Jahr 2000 hatten wir die Krise am Neuen Markt. Dann kam der 11. September 2001 mit all seinen Folgen. Aber es ist bemerkenswert, welche wirtschaftliche Entwicklung Oberbayern, aber auch Bayern insgesamt genommen haben. Der größte Erfolg aus Sicht der Menschen ist sicherlich die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. In den vergangenen 20 Jahren ist es gelungen, die Arbeitslosigkeit zu halbieren. Das ist etwas, worauf wir sehr stolz sein dürfen. Es zeigt einmal mehr: Wenn es der Wirtschaft gut geht, so ist das Fundament dafür gelegt, dass es auch den Menschen gut geht.
Der Spruch ‚Laptop und Lederhose‘ ist ja nicht nur in Deutschland bekannt, sondern weit darüber hinaus.
Manfred Gößl
Woher kommt diese Entwicklung? Liegt es an den Unternehmen oder auch an der Politik?
Es ist die Kombination aus wettbewerbsfähigen Unternehmen jeder Größe, einem gesunden Branchenmix und einem für die Wirtschaft hochattraktiven Standort. Hinzu kommen wichtige politische Weichenstellungen. Die Hightech-Offensive der Staatsregierung war absolut richtig. Sie hat Bayern auch nach außen hin das richtige Image gegeben: „Hier gibt es eine Staatsregierung, die sich ohne Wenn und Aber um den wirtschaftlichen Fortschritt bemüht.“ Der Spruch „Laptop und Lederhose“ ist ja nicht nur in Deutschland bekannt, sondern weit darüber hinaus. Die Botschaft lautet: Hier gibt es einen Hotspot mit hervorragender Infrastruktur und hoher Akzeptanz für die Wirtschaft. Das hat dazu geführt, dass Unternehmen sich vorwiegend hier in der Region angesiedelt haben. Es ist kein Zufall, dass Microsoft, Google und Co hier sind. Das haben sie getan, weil sie wissen, dass sie hier bestens ausgebildete berufliche und akademische Fachkräfte bekommen, dass sie hier in jeder Hinsicht ein attraktives Umfeld vorfinden und dass hier eine Politik gemacht wird, die die wirtschaftliche Dynamik fördert.
Wenn die Lage so toll ist, gibt es dann überhaupt noch was zu tun?
Das ist wie immer: Alles ist im Fluss, beständig ist nur der Wandel. In wirtschaftlich guten Zeiten erlahmt die Bereitschaft zu Veränderungen. Die Akzeptanz für wirtschaftliche Weiterentwicklung schwindet. Nicht mehr die Wachstumschancen stehen im Vordergrund, sondern der Wachstumsdruck. Den Wachstumsdruck spüren wir in München täglich, wenn wir unterwegs sind, wenn wir in die Arbeit fahren. Auf der Autobahn dauert es immer länger, die S- und U-Bahnen sind immer voller oder fallen wegen Überlastung aus. Die Leute denken sich ihren Teil dabei. Ein weiteres großes Problem ist die Knappheit an insbesondere bezahlbarem Wohnraum.
Zum Thema „Wohnen“ gibt es den Vorschlag, dass wieder mehr Firmenwohnungen gebaut werden. Wäre das eine Lösung?
Ja, das ist für uns ein Thema. Wir werden hier zusammen mit der Handwerkskammer eine Position entwickeln, denn es gibt noch ein paar Hemmnisse, was Werkswohnungen anbelangt.
Welche wären das?
Da geht es vor allem um den geldwerten Vorteil, wenn die Wohnungen günstig vermietet werden. Die Betriebsprüfer unterstellen die übliche Marktmiete. In Werkswohnungen auf dem Firmengelände herrscht aber mitunter eine eingeschränkte Wohnqualität zum Beispiel durch Lärmemissionen. Ein zweites Problem: Wenn Sie Werkswohnungen bauen wollen, brauchen Sie ein Grundstück. Da geht es um die Baulandmobilisierung. Und Bauland ist ein äußerst knappes Gut in München und Umland.
Eine Kehrseite des wirtschaftlichen Erfolgs ist auch der Mangel an Fachkräften. Was kann die IHK dagegen tun?
Aktuell fehlen uns in Bayern 260.000 Fachkräfte. Das soll sich bis 2030 noch verschärfen auf über 540.000. Wichtig ist, dass die Schulabsolventen nicht mehr ohne Qualifizierung ins Berufsleben starten. Wir müssen auch an jene Gruppen heran, die sich aus verschiedenen Gründen bisher überhaupt nicht mit dualer Ausbildung befasst haben. Da geht es unter anderem darum, junge Menschen ohne Mittelschulabschluss in die Qualifizierung zu bekommen – durch Trainings, Coachings, Nachqualifizierungen, auch durch vereinfachte Ausbildungsformen.
Was machen Sie konkret?
Wir veranstalten zum Beispiel jährlich Sommercamps. Da werden leistungsschwächere Schüler beziehungsweise Schüler, bei denen die Prognose besteht, dass sie ihren Mittelschulabschluss nicht ohne Weiteres schaffen werden, zusammengebracht. Dann werden sie in den Hauptfächern intensiv geschult. In dem Konzept spielt aber auch der Aufbau von Selbstvertrauen und Motivation eine ganz große Rolle. Wir bauen die jungen Menschen im wahrsten Sinne umfassend auf. Und das Erstaunliche ist, dass nahezu alle Teilnehmer, das sind immer jeweils um die 30 bis 50, so einen starken Impuls bekommen, dass sie selbst ins Lernen übergehen. Und letztlich schaffen wir es mit einer Quote, die bei 98 Prozent liegt, dass diese Schüler ihren Mittelschulabschluss schaffen. Wir können das als IHK aber nicht flächendeckend für ganz Bayern leisten. Aber wir wollen der Politik über solche Pilotprojekte zeigen, was möglich ist. Letztlich wollen wir damit beweisen, dass man mit einem überschaubaren Einsatz an Finanzmitteln und persönlicher Betreuung leistungsschwache Schüler zum Schulabschluss führen kann. Jeder in die Schüler investierte Euro zahlt sich aus, denn der Schulabschluss ist Voraussetzung für die Berufsqualifizierung und dieses sichert berufliches Fortkommen und persönliche Sicherheit.
Stillstand ist kein Konzept. Was wir brauchen, ist ein nachhaltiges, breitenwirksames und dauerhaftes Wirtschaftswachstum.
Manfred Gößl
Es gab ja auch die Hoffnung, dass die vielen Migranten, die nach Deutschland kommen, das Fachkräfteproblem lösen. Wie sehen Ihre Erfahrungen aus?
Diese Euphorie haben wir nicht geteilt. Die Schul- und Berufsqualifizierung der Migranten lag beziehungsweise liegt bei der Mehrheit deutlich unter dem Niveau eines hochentwickelten Landes wie Deutschland. Entscheidend ist letztlich, dass wir Migranten mit Bleibeperspektive für unseren Arbeitsmarkt qualifizieren und somit integrieren können. Eine Riesenherausforderung ist dabei natürlich die Überwindung der Sprachbarriere. Gemeinsam mit unseren Unternehmen, Berufsschulen und der Staatsregierung ist es uns gelungen, den „Integrationspakt der bayerischen Wirtschaft“ zum Erfolg zu führen. Bis Ende 2019 sollten 60.000 Geflüchtete in Praktika, Ausbildung oder Jobs gebracht werden. Das haben wir jetzt schon „übererfüllt“ – denn wir stehen bei deutlich über 160.000 Integrationen in Praktika, Ausbildung und Arbeit. Das ist in keinem anderen Bundesland gelungen.
Eine andere Folge des großen wirtschaftlichen Erfolgs ist, dass gerade in München und Oberbayern viel Menschen sagen: „Mir reicht das mit dem Wachstum, mehr brauche ich nicht.“ Wie gehen Sie damit um?
Es geht ohne Wachstum. Nur geht es uns dann allen schlechter. Das ist die ehrliche Konsequenz. Die deutsche Wirtschaft erzielt im Jahr Produktivitätsfortschritte von knapp einem Prozent. Das würde bei Nullwachstum vereinfacht bedeuten, dass die Beschäftigung jedes Jahr um ein Prozent sinkt. Kein Wachstum bedeutet letztlich Jobabbau und steigende Arbeitslosigkeit. Stillstand ist kein Konzept. Was wir brauchen, ist ein nachhaltiges, breitenwirksames und dauerhaftes Wirtschaftswachstum.
Problem Nummer eins ist weiterhin und mit Abstand der Fachkräftemangel.
Manfred Gößl
Wie sieht nachhaltiges Wachstum aus?
Nachhaltiges Wachstum bedeutet, dass der Verbrauch an Rohstoffen, Energie oder auch Fläche weniger zunimmt, als die Wirtschaft wächst. Das muss Ziel eines gesellschaftlich verantwortlichen Wirtschaftens sein. Abgewogene wirtschaftspolitische Positionen berücksichtigen deshalb auch immer soziale und ökologische Aspekte.
Zur Zeit mehren sich die Anzeichen, dass sich die wirtschaftliche Lage eintrübt. Was macht Ihnen da gerade am meisten Sorgen? Ist das die Politik von Donald Trump, ist es der Brexit, der noch nicht gelöst ist?
Wir fragen unsere Mitgliedsunternehmen regelmäßig, wo ihre Probleme liegen. Gerade die jüngst abgeschlossene Konjunktur-Umfrage zeigt: Problem Nummer eins ist weiterhin und mit Abstand der Fachkräftemangel. Danach folgen die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen, Tendenz deutlich steigend. Dazu zählt als Dauerproblem die zunehmende bürokratische Belastung, die umso größer ausfällt, je kleiner die Unternehmen sind. Die wichtigste wirtschaftspolitische Maßnahme, die wir selbst in der Hand haben, ist deshalb eine mutige Entlastungsoffensive für Existenzgründer sowie kleine und mittlere Betriebe. Die internationalen Probleme beschäftigen vor allem die exportorientierten Industrieunternehmen. Da gibt es drei Themen, die alles beherrschen. Das erste sind die von Washington ausgehenden Handelskonflikte, das zweite ist mit dem Brexit in London lokalisiert und das dritte ist die Wachstumsschwäche in China. China hat mit 6,5 Prozent die niedrigste Wachstumsrate seit 28 Jahren.
Was kann die Politik da machen?
Man muss ganz klar sagen: Deutschland, die deutsche Politik wird kein Weltproblem lösen.
Kann die deutsche Politik wirklich gar nichts tun?
Sie kann einen Beitrag leisten über die EU. Die EU könnte ein Taktgeber in der Handelspolitik oder in der Klima- und Energiepolitik sein. Aber Europa ist derzeit in einer defensiven Haltung aufgrund des Ausscheidens von Großbritannien. Deutschland hat als wirtschaftlich stärkstes Land in Europa die Verantwortung und natürlich auch das Interesse, dass die EU zusammengehalten wird und als globaler Akteur auftritt.
Wie sehen Sie die Bedeutung der Europawahl?
Extrem hoch. Das ist dieses Jahr definitiv eine Schicksalswahl, in der es um Stabilität und Handlungsfähigkeit in der EU geht. Bleibt Europa auf einem Kurs der Vernunft? Bleibt Europa auf einem Kurs des Miteinanders? Nehmen die EU-Mitgliedsländer ihre Ordnungs- und Diskursverantwortung für Europa wahr? Können Kompromisse im Interesse aller geschlossen werden? Oder geht es über in ein Gegeneinander, gipfelnd in der Forderung, das EU-Parlament abzuschaffen. Das sind jetzt die großen Fragen, um die es bei der Europawahl im Mai gehen wird. Die Wirtschaft braucht ein stabiles, ein geeint auftretendes Europa. Sie braucht – ganz wichtig – ein gemeinsames Agieren der europäischen Staaten. Nur in einem Miteinander der europäischen Nationen im Rahmen der EU kann unsere Zukunft liegen.
Das Interview führte Thomas Röll.