Sie bekommen Gesellschaft: Eine neue Frühverrentungswelle schwappt durch Deutschland; ganz zum Leidwesen der Unternehmen, die immer mehr Fachkräfte verlieren. Bild: Imago
Rente mit 63

Mehr Fluch als Segen

Die abschlagsfreie Rente mit 63 feiert nächste Woche ihren ersten Geburtstag. Vor allem die Arbeitgeberseite verflucht das Wahlgeschenk der SPD schon jetzt, weil immer mehr Fachkräfte verloren gehen. Die Frühverrentung war bekanntlich eine der Kröten im Koalitionsvertrag, die die Union schlucken musste.

Aktualisiert am 24. Juni 2015, 16 Uhr

Seit dem 1. Juli 2014 darf in Deutschland jeder den ihm zustehenden vollen Rentenbeitrag beziehen, der 45 Jahre in die Versicherung eingezahlt hat. 300.000 Anträge gingen bis Ende April dieses Jahres ein, bewilligt wurden bis Ende 2014 schon 136.000. Und es dürften auch in Zukunft nicht weniger werden: Nach einer Befragung des Nürnberger Instituts- für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) rechnen die Firmen deutschlandweit bis 2018 mit rund 560.000 vorzeitigen Rentnern.

Öffentliche Verwaltung trifft es am härtesten, dicht gefolgt vom produzierenden Gewerbe

Laut IAB sind bundesweit elf Prozent der Betriebe von der Rente mit 63 betroffen. In diesen Firmen seien Mitarbeiter entweder bereits ausgeschieden oder ihre Frühverrentung wird erwartet. Während die Branchen Kunst, Unterhaltung, Erholung, Information und Kommunikation sowie das Gastgewerbe weniger unter der Rente mit 63 leiden (weniger als fünf Prozent), trifft es vor allem die öffentliche Verwaltung mit voller Wucht. Behörden und andere öffentliche Arbeitgeber haben mit 30 Prozent den Löwenanteil zu tragen; dicht gefolgt von den Wirtschaftszweigen Wasserversorgung und Abfallentsorgung (28,7 Prozent), Chemie, Kunststoff, Glas, Baustoffe (26,2 Prozent) und Maschinen, Elektrotechnik, Fahrzeuge (26,1 Prozent). Vor allem die letztgenannten haben bekanntlich einen nicht unerheblichen Anteil am derzeitigen wirtschaftlichen Aufschwung in Deutschland.

IHK zieht schon im Februar verheerende Bilanz

Die Industrie- und Handelskammer (IHK) in Bayern hatte bereits im Februar eine erste Bilanz gezogen, die schlimmer nicht hätte ausfallen können. „Die Rente mit 63 belastet die bayerische Wirtschaft stärker als befürchtet“, hieß es. „Der Ansturm auf die Rente mit 63 verschärft den Fachkräftemangel zur Unzeit und durchkreuzt in vielen Firmen die Personalplanung“, sagte Eberhard Sasse, Präsident des Bayerischen Industrie- und Handelskammertages (BIHK), der 4000 Firmen im Freistaat befragt hatte. Besonders stark betroffen waren demnach Betriebe in der Industrie und in der Baubranche. Drei Viertel der betroffenen Firmen würden unter dem Verlust von Fachwissen leiden, über Probleme beim Nachbesetzen von verwaisten Stellen berichteten 47 Prozent der betroffenen Unternehmen. Ein Drittel beklagte hohe Kosten für Zwischenlösung, bei einem Viertel würde der kurzfristige Fachkräfte-Aderlass sogar derart große Lücken in die Personaldecke reißen, dass Betriebsabläufe gestört werden, berichtete die IHK.

Falsche Antwort auf demografischen Wandel und Fachkräftemangel

„Die Rente mit 63 sorgt dafür, dass dringend erfahrene Fachkräfte dem Arbeitsmarkt entzogen werden“, klagt auch Bertram Brossardt, Hauptgeschäftsführer der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw), die ihrerseits in dieser Wochen eine verheerende Bilanz gezogen hat: Infolge der Rente mit 63 sei erstmals seit langem die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten in der Altersgruppe der über 63-Jährigen wieder zurückgegangen. „Damit werden die erfolgreichen Maßnahmen der letzten Jahre, die zu einer zunehmenden Beschäftigung Älterer geführt haben, konterkariert“, so Brossardt. In Bayern ging laut vbw im dritten Quartal 2014 die Zahl der Arbeitnehmer, die älter als 63 Jahre sind, um knapp fünf Prozent zurück. Besonders stark sei der Rückgang dabei mit beinahe zehn Prozent bei den technikorientieren Fachkräften ausgefallen. „Der Aderlass gerade bei diesen gut qualifizierten Facharbeitern ist für die bayrische Wirtschaft, die sich durch eine starke Industrie auszeichnet, besonders schwer zu verkraften“, sagt der Hauptgeschäftsführer und fordert erneut, „dass die Rente mit 63 am besten rückgängig gemacht werden sollte“. Sie sei „die falsche Antwort auf den demografischen Wandel und den Fachkräftemangel“.

Unternehmen locken mit Geld und Beförderungen

Nach Angaben der IAB versucht mittlerweile knapp ein Viertel der bundesweit betroffenen Firmen die für die Rente mit 63 infrage kommenden Mitarbeiter mit attraktiven Angeboten zu locken. Schwer ersetzbaren Spezialisten werden demnach höhere Löhne geboten, Prämien oder sogar Beförderungen. Vor allem hochqualifizierte Akademiker sollen so zum Bleiben bis zum vollendeten 65. Lebensjahr bewogen werden.