Bernd Sibler ist Bayerns Wissenschaftsminister. (Foto: StMWK)
Fachkräfte

„Wir schließen die letzten weißen Flecken“

Interview Wissenschaftsstaatsekretär Bernd Sibler erklärt im BAYERNKURIER-Interview, warum es wichtig ist, Hochschulen gerade in strukturschwachen Regionen zu errichten und wie Studienabbrecher dabei helfen können, den Fachkräftemangel zu bekämpfen.

Herr Sibler, in Bayern studieren mehr junge Menschen als jemals zuvor. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?

Die hohe Zahl an Studierenden bildet den Trend zu höheren Bildungsabschlüssen ab. Wir konnten in den vergangenen Jahren deutlich steigende Übertrittszahlen ans Gymnasium verzeichnen und auch deutlich steigende Zahlen bei den Studienanfängern. Derzeit studieren in Bayern über 380.000 junge Menschen, darunter rund 75.000 Studienanfänger. Diese Zahlen werden auch in den kommenden Jahren noch leicht steigen. Erst wenn die geburtenschwächeren Jahrgänge nachkommen, wird sich die Studierendenzahl einpendeln.

Wie passt dieser Trend zu den Klagen der Unternehmen, dass ihnen die gut ausgebildeten Fachkräfte fehlen? Allein in technischen Berufen sind es etwa 100.000 Bewerber pro Jahr.

Das muss man differenziert betrachten. Bei den akademischen Berufen sieht die Lage deutlich besser aus als bei den Ausbildungsberufen. In den besonders begehrten MINT-Fächern – Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik – haben wir an den Hochschulen sehr erfreuliche Entwicklungen. In diesen Bereichen konnten wir in den vergangenen zehn Jahren die Studierendenzahlen um über 80 Prozent steigern. Das ist im Vergleich zu allen übrigen Fächern ein überproportionaler Anstieg! Und auch bei den Frauen stieg in den MINT-Fächern die Zahl der Studienanfängerinnen signifikant. Trotz dieser erfreulichen Entwicklung muss es unser Ziel sein, hier die absoluten Zahlen noch zu steigern. Wir haben in den vergangenen zehn Jahren große Anstrengungen unternommen und sehen nach und nach die Erfolge.

Woher kommen dann die Klagen?

Es besteht ein Unterschied zwischen dem akademischen und dem dualen Bereich. Hier klagen viele Handwerker darüber, dass sie kaum noch Fachkräfte finden. Das hängt auch mit dem gerade beschriebenen Trend zu immer höheren Bildungsabschlüssen zusammen. Dabei sind einige Ausbildungsberufe ins Hintertreffen geraten.

Was kann man dagegen tun?

Eine Strategie besteht darin, die Mittelschule weiter zu stärken. Wir haben sie im Gegensatz zu anderen Bundesländern nicht aufgegeben, sondern ihr ein klares Profil der beruflichen Orientierung gegeben: dazu gehören Kooperationen mit den Kammern, Praktika in Betrieben, der Ausbau von Ganztagsangeboten und Jugendsozialarbeit. Ich bin überzeugt: Hätten wir das nicht gemacht und stattdessen wie in anderen Bundesländern Gesamtschulen eingeführt, hätten wir den Trend zu formal höheren Abschlüssen noch verstärkt. Wir in Bayern dagegen wollen auf unsere Mittelschulen als Teil unseres qualitätsvollen und durchlässigen Schulsystems nicht verzichten. Gleichzeitig haben wir das duale Studium – also die Kombination von akademischer und beruflicher Ausbildung – massiv ausgebaut. Das ist eine weitere, entscheidende Antwort auf den Fachkräftemangel. Dieses Angebot wollen wir noch vergrößern. Damit schaffen wir, etwas pathetisch gesagt, die Versöhnung zwischen beiden Bereichen.

Wir müssen die Erfolgsquoten im Studium erhöhen. Hohe Abbrecherzahlen sind kein Qualitätskriterium.

Bernd Sibler, Staatssekretär für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst

Sie haben die hohen Studentenzahlen in den MINT-Fächern angesprochen. Gerade in diesen Studiengängen sind aber auch die Abbrecherzahlen besonders hoch.

Zunächst gilt: Wir müssen die Erfolgsquoten im Studium erhöhen. Hohe Abbrecherzahlen sind kein Qualitätskriterium. Mit entsprechender Methodik und Didaktik kann man junge Menschen darin unterstützen, ihr Studium erfolgreich abzuschließen. Deswegen haben wir zum Beispiel das Zentrum für Hochschuldidaktik in Ingolstadt eingerichtet. Hier unterbreiten wir den Lehrenden Fortbildungs- und Beratungsangebote, vermitteln pädagogisches Wissen und tragen so zur Verbesserung der Lehre bei. Zugleich legen wir großen Wert auf die Beibehaltung unserer hohen Qualitätsstandards. Deswegen müssen junge Menschen an den Schulen auf die Anforderungen eines Studiums vorbereitet werden. Dazu dienen an den Gymnasien etwa die W- und P-Seminare. Hier lernen die Jugendlichen wissenschaftliches Arbeiten und können einen ersten Blick in die Berufspraxis werfen. Inzwischen bieten einige Gymnasien auch die Möglichkeit an, ein Praktikum zu absolvieren. So können die jungen Menschen besser einschätzen, was sie später einmal machen wollen und wofür sie vielleicht weniger geeignet sind. An den Hochschulen ist es uns besonders wichtig, die Studienabbrecher zu beraten. Dazu müssen wir mit ihnen in Kontakt kommen. Die wenigsten verkünden ihr Scheitern offensiv.

Wie schafft man das?

Wir sprechen mit den Fachschaften, den studentischen Beratungsstellen, den Studentenwerken und mit den Hochschulgeistlichen, um diese jungen Menschen zu identifizieren. Dann kann die Beratung gezielt erfolgen. Mit der „Allianz für starke Berufsbildung in Bayern“, die wir gemeinsam mit dem Sozialministerium auf den Weg gebracht haben, knüpfen wir das Beratungsnetz noch enger: Die neu berufenen Akquisiteure an unseren Hochschulen arbeiten eng mit der Arbeitsagentur und Wirtschaftsorganisationen zusammen, um den Studienabbrechern Karriereoptionen in vielfältigen Berufsfeldern zu eröffnen.

Wie kommt das bei den Unternehmen an? Haben die keine Vorurteile gegenüber gescheiterten Studenten?

Ganz im Gegenteil. Die Unternehmen, aber auch die Kammern sind sehr interessiert. Die jungen Menschen haben an den Hochschulen bereits Leistungen erbracht, auf die sie aufbauen können. Ein wichtiger Ansatzpunkt ist hier das Thema Lehrzeitverkürzung. Ein ehemaliger Elektrotechnikstudent benötigt dann beispielsweise für seine Ausbildung zum Elektroniker nicht mehr dreieinhalb Jahre, sondern nur noch zwei. Wir bemühen uns gemeinsam mit den Kammern um pragmatische Lösungen. Das ist eine lohnenswerte Anstrengung: Wir geben den jungen Menschen eine Perspektive und schaffen Fachkräfte für den Arbeitsmarkt.

Früher war immer die Frage: Kehrt jemand, der in München oder Erlangen studiert, wieder zurück in seine Heimat?

Bernd Sibler, Staatssekretär für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst

Der Freistaat hat in den vergangenen Jahren viele neue Fachhochschulen gegründet – die meisten nicht in den großen Ballungsräumen. Was hat diese Politik bewirkt?

Diese Gründungswelle war segensreich. Sie haben völlig recht: Aschaffenburg, Ansbach, Amberg-Weiden, Deggendorf, Hof, Ingolstadt oder Neu-Ulm – keiner dieser Standorte liegt wirklich in einem Ballungsraum. Aber hierin besteht gerade die besondere Chance: Mit diesen Angeboten in den Regionen haben wir für die Menschen in allen Teilen Bayerns mehr örtliche Erreichbarkeit geschaffen, was zu der gestiegenen Zahl von Studierenden beigetragen hat. Ein weiterer positiver Effekt ist, dass auch das Angebot an Fachkräften in der Region damit deutlich größer ist. Früher war immer die Frage: Kehrt jemand, der in München oder Erlangen studiert, wieder zurück in seine Heimat? In München hatte man schon immer eine große Auswahl an Fachkräften. Jetzt gibt es diese auch in Neu-Ulm und Hof.

Existieren noch Lücken in Bayern?

Mit den Angeboten, die wir in der Region Mühldorf und Altötting und in Pfarrkirchen in Niederbayern auf den Weg gebracht haben, haben wir eigentlich die letzten weißen Flecken auf der Landkarte getilgt. In Mühldorf gibt es jetzt zum Beispiel einen berufsbegleitenden Studiengang zum Maschinenbau-Bachelor. Das ist ein Angebot, das gut in diese Region passt. Dazu kommen als besondere Einrichtungen die Technologietransferzentren, an denen es keine klassische Lehre gibt, dafür aber Forschung. Ein gutes Beispiel ist hier Teisnach im Landkreis Regen. Hier unterhält die Technische Hochschule Deggendorf eine Außenstelle. Gemeinsam mit dem Unternehmen Rohde & Schwarz wird hier Forschung betrieben. Das bringt Wertschöpfung und Know-how in die Region. Zudem schaffen wir mit unseren Technologietransferzentren adäquate und hochwertige Arbeitsplätze in den Regionen. Damit erzielen wir strukturpolitische Effekte, die gerade dem Ministerpräsidenten sehr wichtig sind. Gebiete, die besonders vor der demografischen Herausforderung stehen, erhalten so neue Perspektiven. Hier sind auch neue Firmen entstanden. Neben der Behördenverlagerung ist das eine weitere wichtige strukturpolitische Maßnahme.

Wir brauchen die Zuwanderer, die uns nützen, und nicht die, die uns ausnützen.

Bernd Sibler, Staatssekretär für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst

Strittig ist die Frage, inwieweit Zuwanderung eine Lösung für den Fachkräftemangel sein kann. Wie sehen Sie das?

Viele der Menschen, die jetzt gekommen sind, können uns dabei noch nicht helfen. Wir müssen große Anstrengungen unternehmen, diejenigen zu qualifizieren, die eine echte Bleibeperspektive haben. Fördern muss aber immer Hand in Hand gehen mit Fordern. Das heißt zuallererst: Sprache, Sprache, Sprache. Dazu haben wir, nimmt man den weiteren Ausbau im aktuellen Doppelhaushalt hinzu, 2.500 zusätzliche Stellen für die Aufnahme dieser Kinder und Jugendlichen in unsere Schulen geschaffen, darunter rund 600 speziell für unsere Berufsschulen. Ansonsten halte ich es bei der Zuwanderung mit Günther Beckstein: Wir brauchen die, die uns nützen, und nicht die, die uns ausnützen. Wenn wir über Zuwanderung reden, muss es die von Hochqualifizierten sein.

Das Interview führte Thomas Röll.