Das eigenartige Leuchten der Bierzelte: Augustiner-Festhalle in der Abenddämmerung. (Foto: R. Viertlböck)
Bierzelte

„Die Wiesn zum letzten Mal in freier Wildbahn“

Am Samstag-Mittag sticht Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter das erste Fass Oktoberfestbier an. Dann brummt wieder 17 Tage lang das größte Volksfestfest der Welt. Fotograf Rainer Viertlböck hat alle zwölf Wiesn-Zelte erst ohne und später mit Publikum abgelichtet. Der Bayernkurier hat ihn befragt.

Bayernkurier: Sie haben zwei Jahre in Folge insgesamt 34 volle Tage auf dem Oktoberfest verbracht, um sämtliche Bierzelte und Fahrgeschäfte zu fotografieren. Haben Sie langsam genug von der ganzen Gaudi?

Rainer Viertlböck: Ich bin gebürtiger Münchner, und eigentlich nicht mal großer Wiesn-Fan. Bei der Arbeit an der Fotoserie habe ich keinen Alkohol getrunken. Da ist der Spaß ja bekanntlich eher begrenzt. Aber das war notwendig, sonst werden die Bilder nicht scharf. In den Zelten war es anstrengend. Da wollte ich von der Empore runterfotografieren und habe die Leute gebeten, die an ihren reservierten Tischen saßen, dass sie mir kurz Platz machen. Da brauchst du Geduld. Aber alles in allem hatte ich gute Laune. Das Oktoberfest ist halt ein Riesenspektakel.

Bayernkurier: Können Sie beschreiben, worin die Wucht besteht?

Viertlböck: Die kommt aus der Masse der Menschen, vergleichbar höchstens mit der Energie bei Fußballspielen. Dieses orgiastische Feiern in der Menge, daraus speist sie sich. Dem Bildband vorangestellt habe ich einen Text des US-Schriftstellers Thomas Wolfe von 1927. Darin beschreibt er, in was für einen „Zyklon“ aus Rausch und Schweinswürsteln und Schaubunden-Sensation er gerät. Damals haben sie neben dem hellen Oktoberfestbier sogar noch Dunkles ausgeschenkt. Oh mei, oh mei. Wir denken heute immer so nostalgisch, wie gemütlich und ruhig die Wiesn früher gewesen sein muss. Aber Wolfe schildert das genauso wild und überfüllt, wie es heute ist.

Bayernkurier: Sie haben alle Zelte leer und später voller Publikum fotografiert. Quasi mit Vorher/Nachher-Effekt. Warum?

Viertlböck: Wenn sie leer sind, erkennt der Betrachter die Innenarchitektur besser. Mit der zechenden Menge transportiert sich die Stimmung. Aber dann erscheinen die Zelte auch austauschbarer. Auf die Idee bin ich gekommen, weil der langjährige Leiter der „Neuen Sammlung“, Florian Hufnagl, mal sehr interessant über ihre Innen-Gestaltung geschrieben hat.

Bayernkurier: Was denn?

Viertlböck: Wie traditionelle Elemente und modernes Design dort ineinanderfließen. Das Augustinerzelt mit seinen historisierenden Mittelalter-Anklängen, mit den hölzernen Heroldsfiguren und Fahnenträgern. Das Hacker-Zelt, das schon fast Hollywood ist. Mit den Sternen und Wolken an der Decke – der „Himmel der Bayern“. Den hat der oscar-prämierte Filmszenenbildner Rolf Zehetbauer gestaltet, der auch die Kulissen für „Das Boot“ und „Die unendliche Geschichte“ entwarf. Dann das Armbrustschützen-Zelt, dessen Figuren die Wirtin selbst jedes Jahr neu bemalt. Oder das Schützen-Festzelt mit den langen bunten Stoffbahnen an der Decke, das wie eine Disko aussieht. Da könnte man auch einen Techno-Rave drin veranstalten.

Bayernkurier: Mit welcher Technik haben sie fotografiert?

Viertlböck: Mit einer hochauflösenden Scanning-Technik, die man sonst eher verwendet, um Kathedralen von innen oder ganze Michelangelo-Fresken abzutasten. Mit 1 Gigapixel Auflösung lassen sich die Fotos auf bis zu zehn Meter Höhe entwickeln. Die Bilder von den Fahrgeschäften sind mit Fachkamera und einem 80 Megapixel-Digital-Back entstanden. Es gibt ja unzählige Bildbände über die Wiesn. Aber die meisten widmen sich der Herzlromantik, den Dirndln und Lederhosen und den putzigen Toilettenhäuseln. Aber die Karussells, Achterbahnen, Autoscooter ganz früh morgens, wenn gerade die Kehrmaschine durchgefahren ist und noch kein Mensch unterwegs – das hat eine eigenartig kühle, direkte Wirkung.

Bayernkurier: Gehen Sie dieses Jahr wieder hin?

Viertlböck: Ach, auf eine Maß Spezi und ein Hendl gerne. Bier trinke ich sowieso nie.

Bayernkurier: Keine Angst?

Viertlböck: Nein nein, ich habe keine Sorge, dass was passiert. Wir hatten ja schon 1980 dieses Bombenattentat. Damals waren die Menschen weniger ängstlich. Da gab es nach dem Anschlag einen Tag Pause –und dann ging’s weiter. Seit 9/11 wähnen wir uns in einem permanenten Kriegszustand. Aber wenn Terroristen zuschlagen, dann können sie das auch am Hauptbahnhof oder am Marienplatz. Als Fotograf denke ich: Mit dem neuen Sicherheitskonzept wäre mein Oktoberfest-Projekt in der Form ab sofort nicht mehr möglich.

Bayernkurier: Wieso?

Viertlböck: Meine Fototasche hat mehr als drei Liter Fassungsvermögen, die dürfte ich gar nicht mehr mitbringen. Dazu noch das Stativ. Also für Fotografen wird es dort nicht leichter. Wahrscheinlich habe ich die Wiesn das letzte Mal in freier Wildbahn vor die Linse gebracht.

 

Das Interview führte Gregor Dolak.