Staatskanzleichef Marcel. (Foto: Büro Weisgerber)
Interview

„Wir sind an der Belastungsgrenze“

Interview Im Interview mit Chefredakteur Marc Sauber sprach Staatskanzleichef Marcel Huber nach dem zweiten Asylgipfel der Ministerpräsidenten bei Bundeskanzlerin Angela Merkel über die innere Zerrissenheit zwischen Hilfsbereitschaft und Überforderung, sein Konzept für eine gelingende Integration, die Veränderungen, die auf unsere Gesellschaft zukommen werden, und die Sorge um die Zukunft Europas.

Herr Minister, wie schwer ist es in diesen Tagen, die richtige Balance zu finden? Auf der einen Seite steht die Hilfsbereitschaft für die vielen Menschen, die vor Krieg und Elend geflohen sind und auf der anderen Seite die Überlegung, wie wollen wir das angesichts der enorm hohen Flüchtlingszahlen überhaupt schaffen?

Marcel Huber: Im Moment bewegen wir uns zwischen zwei Polen: Der Bereitschaft zu Solidarität und Hilfe für Menschen in Not auf der einen Seite und der Grenze der Belastbarkeit auf der anderen Seite. Wenn man sieht, wie dankbar die Flüchtlinge nach einer schweren Zeit auf der Flucht für einen positiven Empfang in Deutschland sind, ist das persönlich sehr bewegend. Gleichzeitig erhalte ich zahlreiche Hilferufe von denen, die tagtäglich dafür sorgen, dass die hier ankommenden Menschen eine Unterbringung, Kleidung, Verpflegung oder medizinische Untersuchungen erhalten. Da sind Anrufe aus den Gemeinden, von Landräten oder Oberbürgermeistern, die sagen, es geht nicht mehr, unsere Kapazitäten sind erschöpft. Besorgte Bürger berichten von Einzelsituationen, von konkreten Fällen aus der Praxis, wo sich Flüchtlinge auch fehlverhalten. Zwischen diesen beiden Polen zerreißt es einen förmlich. Bayern ist ein humanes und helfendes Land, aber wir dürfen die enorme Hilfsbereitschaft der Bürger nicht überstrapazieren. Umso wichtiger ist es, dass jetzt nach dem zweiten Asylgipfel bei der Kanzlerin Aussicht auf eine gewisse finanzielle Entlastung der Länder und Kommunen ist.

Was sind die wichtigsten Ergebnisse des Asylgipfels bei der Kanzlerin für Bayern?

Huber: Es wurden aus bayerischer Sicht wichtige Verhandlungsergebnisse erzielt, die als Zwischenschritt zu werten sind. Erfreulicherweise hat der Bund durch den enormen Druck, der auf den Bundesländern und besonders auf Bayern lastet, erkannt, dass er seiner nationalen Pflicht gerecht werden muss. Der Bund stockt zur Bewältigung der Flüchtlingskrise seine Finanzhilfen für Länder und Kommunen auf. Die Länder erhalten insbesondere einen pauschalen Betrag pro Flüchtling, pro Monat. Das ist bei der rasant steigenden Zahl an Flüchtlingen unerlässlich. Die Praxis wird zeigen, ob es reicht oder nicht. Ein weiteres wichtiges Ergebnis ist die Beteiligung des Bundes an den Kosten für die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge – in Bayern sind es derzeit allein 12.000! Es bleiben aber nach wie vor drängende Probleme ungelöst. Über allem stehen eine Begrenzung der Zuwanderung und eine gerechte Verteilung der Flüchtlinge innerhalb Deutschlands und Europas.

„Die ersten Zwischenschritte sind erfreulich – die Praxis wird zeigen, ob das reicht oder nicht.“

Wenn man sich die aktuellen Entwicklungen in Syrien anschaut, scheint das Land noch lange von kriegerischen Auseinandersetzungen geprägt zu sein. Es gibt Zahlen, die sagen, dass derzeit über 10 Millionen Syrer vor den Konflikten in ihrem Land geflohen sind und woanders Zuflucht suchen – auch bei uns. Angesichts dieser Zahlen wird Deutschland auch mit den Menschen, die berechtigt nach Asyl suchen, womöglich an seine Grenzen stoßen. Wie will man das in den Griff bekommen?

Huber: Wir schauen auf Wochen zurück, in denen sich die Zahl der Flüchtlinge – vor allem der in München Ankommenden – in einer Dimension erhöht hat, die noch vor kurzem als absolut undenkbar erschien. Im September kamen beispielsweise innerhalb von 10 Tagen rund 77.000 Flüchtlinge nach Bayern! Daraufhin hat Ministerpräsident Horst Seehofer erfolgreich beim Bund darauf gedrängt, wieder Kontrollen an der Grenze zu Österreich einzuführen. Mit Blick darauf, dass die Situation bei der Einreise über die Balkanroute vollkommen unkontrollierbar geworden ist, brauchte es ein klares Signal an die bayerische Bevölkerung: Der Staat nimmt seine Kernaufgabe innere Sicherheit mit Konsequenz wahr. Es brauchte aber auch ein deutliches Signal an Europa: Deutschland kann die Flüchtlingskrise nicht alleine stemmen. Wir brauchen eine faire Verteilung innerhalb Europas. Die Grenzkontrollen sollen zudem belegen, dass unser Land für Hilfesuchende offen steht – aber nur im Rahmen eines geordneten Systems und mit klaren Regeln.

Was ist jetzt zu tun? Die Bürgerinnen und Bürger erwarten Lösungen.

Huber: Auf europäischer Ebene müssen eine stärkere Sicherung der Außengrenzen und eine faire Lastenteilung innerhalb Europas erfolgen. Es ist auch Aufgabe des Bundes, die Verteilung der Flüchtlinge innerhalb Deutschlands zu übernehmen und zwar wirksam und schnell. Die Verteilung nach dem Königsteiner Schlüssel auf alle Länder muss sofort nach der Einreise erfolgen. Im Moment trägt Bayern die Last so gut wie allein. Wenn der Bund keine Abhilfe, z. B. durch weitere Drehkreuze, schafft, wird Bayern das nicht mehr hinnehmen. Neben den drängenden aktuellen Themen, geht es auch um wichtige Weichenstellungen bei den langfristigen Herausforderungen – z.B. der Frage, wie die Integration der dann hier lebenden Asylbewerber erreicht werden kann.

Wie lautet Ihr Konzept – wie soll Integration gelingen?

Huber: Die Bayerische Staatsregierung hat die Weichen für ein umfangreiches Maßnahmenpaket zur Integration von Asylbewerbern mit hoher Bleibeperspektive in Bayern gestellt. Wir brauchen ein umfassendes Konzept, das von Sprachunterricht, Kindergärten und Schulen, über medizinische Versorgung bis zur Schaffung von Wohnraum reicht. Wir müssen das Thema Bildung intensiv bearbeiten und eine gelingende Integration in den Arbeitsmarkt organisieren. Gerade hier werden größere Aufwendungen nötig sein, als es sich mancher in letzter Zeit vorgestellt hat. Selbst Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles rechnet nur mit 10 Prozent an Flüchtlingen, die sich direkt in den Arbeitsmarkt integrieren lassen! Es wird also eine Mammutaufgabe sein, die Flüchtlinge in ein selbstversorgtes Leben zu führen. Der Schlüssel zu einer gelungenen Integration ist die Sprache. Deshalb müssen wir alle Register ziehen, um den Asylbewerbern die deutsche Sprache und unser Wertegerüst nahezubringen – das ja Grundlage für alle ist, die hier leben wollen. Grundsätzlich gilt: Wir sind hilfsbereit, soweit es möglich ist. Aber wir geraten an eine Belastungsgrenze. Deshalb steht als großes Dach über allem, dass die weitere Zuwanderung in unser Land begrenzt wird. Und unser klares Ziel ist: Wir wollen die Integrationslast so stemmen, dass der einheimischen Bevölkerung nichts an Leistungen weggenommen wird!

Erst die Eurokrise, dann die Flüchtlingskrise – inwieweit geht es in der EU jetzt ans Eingemachte?

Huber: Wenn sich Europa klein macht und darauf reduziert, die Stärke von Staubsaugermotoren zu regeln und bei diesem grundlegenden Thema, der Bewältigung der Flüchtlingskrise auseinanderdriftet, dann stellt das Europa in Frage. Für so ein Europa haben die Menschen kein Verständnis. Um diese enormen Herausforderungen zu lösen, braucht es genau den europäischen Gedanken, die Solidarität der Wertegemeinschaft und die Idee des gegenseitigen Unterstützens. Es geht um einheitliche europaweite Standards und um die gerechte Verteilung der gesellschaftlich-politischen und auch finanziellen Belastung. Wir brauchen einen Sonderbeauftragten für Asylfragen. Die Balance eines ganzen Kontinents ist in Gefahr. Der europäische Gedanke ist ein entscheidender Fortschritt des letzten Jahrhunderts, aber er steht jetzt vor einer großen Bewährungsprobe. Ich bin dankbar, dass Manfred Weber und unsere CSU-Europaabgeordneten genau diese Positionen  permanent anmahnen.

Der Hilferuf nach Europa ist das eine, die Hausaufgaben, die der Bund zu erledigen hat, sind das andere. Warum dauert es beispielsweise so lange, genügend Mitarbeiter zu finden, um die über 250.000 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge anhängigen Asylanträge schneller abarbeiten zu können?

Huber: Das ist einer der Punkte, wo ich wirklich sauer bin. Schon im Oktober letzten Jahres war es eine unserer zentralen Forderungen an den Bund, mehr Personal einzustellen und die Verfahren zu beschleunigen. Da waren es 100.000 Asylverfahren, die nicht bearbeitet waren, jetzt sind wir bei über 270.000 und es kommen jeden Tag tausende hinzu. Mittlerweile ist die Erkenntnis im Bund da, dass das Drängen der CSU berechtigt und ein Beschleunigen der Verfahren dringend erforderlich ist. Der neue Präsident des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge hat jetzt eine Menge vor sich.

Welche Maßnahmen fordern Sie außerdem?

Huber: Das Konzept der bayerischen Staatsregierung steht auf drei Säulen: Erstens Humanität und Solidarität für die wirklich Hilfsbedürftigen, zweitens Schutz vor Missbrauch und drittens die Bekämpfung der Fluchtursachen in den Herkunftsländern. Stabilität und Sicherheit in den Regionen vor Ort haben oberste Priorität. Hier sind ganz klar die Vereinten Nationen am Zug. 50 bis 60 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht, zum Teil wegen Klimawandel, zum Teil wegen Misswirtschaft in den Heimatländern, aber ein sehr großer Anteil wegen Krieg und Terror. Es geht um West-Afrika, den Nahen und Mittleren Osten, Teile Zentralafrikas. Ein Großteil des Krieges wird von islamischen Fundamentalisten geschürt wie Boko Haram oder dem Islamischen Staat. Wie Erfahrungen in Afghanistan oder dem Irak zeigen, kann ein militärisches Eingreifen der westlichen Welt allein keinen fundamental islamischen Staat ändern. Demokratie im westlichen Sinne kann nicht herbeigebombt werden! Eine befriedende und Sicherheit schaffende Situation kann nur eine regionale Macht bzw. Allianz herbeiführen. Da führt im Moment aber kein Weg hin. Die Staaten sind durch innerislamische Konflikte so zerstritten, dass eine solche Allianz nicht absehbar ist. Deshalb muss die Weltgemeinschaft verstärkt für Sicherheit und Stabilität in der Region sorgen. Denn solange dort Krieg herrscht, versuchen die Menschen dort wegzukommen, das ist doch klar.

Der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Botschafter Ischinger, hat schon vor vielen Monaten davor gewarnt, dass aufgrund der vielen Krisen und Konflikte in der Welt Millionen von Menschen auf der Flucht seien und auch auf Deutschland gewaltige Probleme zukämen. Damals schien dieses Szenario noch so weit weg, jetzt kommen plötzlich jeden Tag viele tausend Menschen nach Deutschland. Können Sie sich diesen sprunghaften Anstieg erklären?

Huber: Das hat vielschichtige Gründe. Zum einen sind Flüchtlinge aus Syrien außerhalb Europas in Camps unter Bedingungen zusammengepfercht, die nicht tragbar sind. Sie sind in riesigen Zeltlagern in der Türkei, Libanon, Libyen und anderen Staaten. Zudem scheint der Strom nach Europa teilweise gesteuert zu sein. Der libysche IS-Chef spricht ganz bewusst von „Migration als Waffe“. So sollen die enormen Flüchtlingszahlen Europa destabilisieren. Aber ich halte das noch für eine Hypothese. Der italienische Innenminister spricht einen Aspekt offen an: Die Flüchtlinge, die in der Türkei, in Griechenland, in Mazedonien ankommen, sind bestens vernetzt und teilen sich via Mobiltelefon oder Internet die geeigneten Aufenthaltsorte und Fluchtrouten mit. So werden rasend schnell Botschaften verbreitet und entwickeln sich zu einer Welle. Ein weiterer Grund für die steigende Zahl der Flüchtlinge sind die kriminellen Schlepper, die mit den Flüchtlingen viel Geld verdienen. Deshalb fordert die Bayerische Staatsregierung auch, die Strafen für Schleuser zu verschärfen.

Solche extremen Herausforderungen, wie wir sie derzeit in Deutschland erleben, können dazu führen, dass eine Gesellschaft enger zusammenrückt und zusammenwächst. Es kann aber auch zu einer verstärkten Spaltung führen. In welche Richtung geht es?

Huber: Ich hoffe, dass das Zusammenrücken und die Hilfsbereitschaft weiter im Mittelpunkt stehen. Aber die praktischen Situationen vor Ort, die Überforderung, negativen Erlebnisse, die die Euphorie des Begrüßens und der freundlichen Aufnahme plötzlich überdecken, das alles kann in der Bevölkerung zu einem Umschwung führen. Wenn wir die Akzeptanz in der Bevölkerung erhalten wollen, muss die Zuwanderung begrenzt und verträglich gestaltet werden. Wir müssen die Gesellschaft stabil halten und Ängste und negative Erfahrungen klar ansprechen. Sonst entgleitet uns das Ganze und Rechtsradikale und Rechtsextreme gewinnen die Oberhand. Das darf bei uns nicht passieren. Da müssen wir uns mit aller Kraft dagegen stemmen. Im Moment sieht die ganze Welt mit Respekt und Anerkennung auf uns, wie wir mit Flüchtlingen umgehen. Aber die Welt darf sich nicht aus der Verantwortung stehlen und muss uns unterstützen.

Wenn wir einen Blick in die Zukunft werfen und davon ausgehen, dass jedes Jahr 800.000 Menschen oder mehr nach Deutschland kommen und viele von ihnen auch bei uns bleiben werden – inwieweit wird sich unsere Gesellschaft dadurch verändern?

Huber: Ich bin mir sicher, dass es zu spürbaren Veränderungen im täglichen Leben, in unserer Gesellschaft kommen wird. Wie sich Deutschland im Detail verändern wird, lässt sich nicht vorhersehen. Wichtig ist vor allem eins: Der Bund muss jetzt die notwendigen Maßnahmen ergreifen, um die Zuwanderung zu begrenzen. Um ein für alle verträgliches Miteinander zu ermöglichen, brauchen wir frühzeitig ein klares Integrationskonzept. Hier muss auch der Bund rechtzeitig Erhebliches leisten, damit Deutschland nicht gespalten wird.