Bayerns Bildungssystem schneidet gut ab. (Bild: Fotolia/Oksana Kuzmina)
Bildung

Der zweite PISA-Knick?

Die deutschen Schüler haben sich im internationalen Leistungsvergleich Pisa leicht verschlechtert – sowohl im Lesen als auch in Mathematik und Naturwissenschaften. Ein Anlass zur Sorge besteht aber aus verschiedenen Gründen nicht.

Die deutschen Schüler haben sich im internationalen Leistungsvergleich Pisa leicht verschlechtert. Sowohl im Lesen als auch in Mathematik und Naturwissenschaften ging der Punktwert im Vergleich zur vorherigen Pisa-Studie vor drei Jahren nach unten. Das teilte die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) am Dienstag in Berlin mit.

Über dem Durchschnitt

Nach mehrjährigem Aufwärtstrend bis 2013 erlebt Deutschland nun den zweiten Pisa-Knick in Folge. Die deutschen Schüler haben sich in allen drei Bereichen der internationalen Vergleichsstudie – Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften – leicht verschlechtert. Sie erzielten jeweils etwas weniger Punkte als bei der vorherigen Untersuchung, die 2016 veröffentlicht wurde. Auch damals waren die Werte in zwei Bereichen schon gesunken.

Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) wies bei der Vorlage der Zahlen aber auch darauf hin, dass die deutschen Schüler leistungsmäßig weiterhin über dem OECD-Durchschnitt und damit auf einem guten Niveau lägen. In Mathematik und Naturwissenschaften sei Deutschland sogar deutlich besser als der Durchschnitt der OECD-Länder. Der Abstand zur Spitzengruppe in Europa und Asien mit Singapur, Hongkong, Japan, Estland, Kanada oder Finnland bleibt dennoch groß.

Ursache Flüchtlingswelle?

„Einer der Faktoren hinter dem Leistungsrückgang können die seit der Flüchtlingskrise gestiegenen Ansprüche an das Bildungssystem sein“, hieß es sehr vorsichtig von der OECD. Der Anteil von Schülern „mit eigener Migrationserfahrung“ sei seit der letzten Pisa-Erhebung deutlich gestiegen, und deren Integration in das Bildungssystem sei eine große Herausforderung.

In Finnland etwa haben weniger als fünf Prozent der Schüler einen Migrationshintergrund. In Deutschland ist es das bis zu Zehnfache.

Josef Kraus

Fakt ist laut Studie: Schüler mit ausländischen Wurzeln schneiden beim Lesetest deutlich schlechter ab. In Deutschland kamen 15-Jährige aus zugewanderten Familien bei Lese-Tests nur auf 472 Punkte – Jugendliche ohne ausländische Wurzeln erreichten im Schnitt 524 Punkte. Da aber der Schwerpunkt diesmal auf dem Lesen lag, liegt es nahe, dass der gestiegene Migrantenanteil nicht „ein“ Faktor, sondern der entscheidende Faktor für den Leistungsabfall gewesen ist. Die Studie führt jedoch nur 5 der 11 Punkte des Leistungsrückgangs zwischen 2015 und 2018 darauf zurück. Der Anteil von Jugendlichen mit Migrationshintergrund stieg danach zwischen 2009 und 2018 von 18 auf 22 Prozent.

Dass im Migrantenanteil der entscheidende Faktor liegt, dafür spricht auch diese Zahl im Bereich der Mathematik: Der Anteil der Schüler, die besonders geringe Fähigkeiten in Mathematik haben, ist um 3,4 Prozent gewachsen (auf 21 Prozent) – vor allem aber an den nicht gymnasialen Schulen (auf 30 Prozent), in denen Migranten in der Regel deutlich stärker vertreten sind. Dort hat auch im Bereich der Naturwissenschaften der Anteil besonders geringer Fähigkeiten auf 27 Prozent zugelegt.

Die Pisa-Studie

Die Zahlen im Einzelnen: Im Bereich Lesen erreichten die deutschen Schüler mit Platz 20 einen Punktwert von 498 (2016: 509), in Mathematik 500 (2016: 506) und in Naturwissenschaften 503 (2016: 509). Zum Vergleich: Die Spitzenländer kamen auf Werte zwischen 550 und 590, Länder am Ende der Skala wie die Dominikanische Republik oder die Philippinen auf Werte zwischen 325 und 340.

Die Pisa-Studie ist die größte internationale Schulleistungsvergleichsstudie. Dieses Mal nahmen rund 600.000 Schülerinnen und Schüler aus 79 Ländern teil, in Deutschland knapp 5500. Es war die mittlerweile siebte Runde. Seit dem Jahr 2000 werden für den Vergleichstest alle drei Jahre weltweit Hunderttausende Schüler im Alter von 15 Jahren in den Bereichen Mathematik, Lesen und Naturwissenschaften getestet. Schwerpunktmäßig wird jeweils ein Bereich stärker abgefragt. Diesmal ging es vor allem um die Lesekompetenz. Die Tests finden inzwischen vor allem am Computer statt. Die Schüler müssen sich durch verschiedene Aufgaben klicken.

Einfachste Anforderungen nicht erfüllt

Vergleicht man die Ergebnisse der aktuellen Studie mit dem Schwerpunkt Lesen mit der letzten Schwerpunktstudie Lesen, die 2010 veröffentlicht wurde, erreichen die 15-Jährigen in Deutschland heute ähnliche Ergebnisse. In Deutschland – so wie auch in allen anderen OECD-Staaten – schnitten die Mädchen bei der Lesekompetenz deutlich besser ab als die Jungen. In Mathe sind die Jungen vorne. Bei den Naturwissenschaften sehen die Autoren in Deutschland keine Unterschiede.

Lesen ist Zeitverschwendung.

Sagen 34 Prozent der Schüler

Als bedenklich eingestuft wird, dass jeder fünfte 15-Jährige beim Lesen (21 Prozent) nur ein sehr geringes Leistungsniveau erreicht. Das heißt, er oder sie kann mit ganz einfachen Leseanforderungen nicht umgehen. Allerdings ist auch der Anteil der Schüler, die besonders gut lesen können (11 Prozent), in Deutschland seit 2009 gewachsen und größer als im OECD-Durchschnitt.

Neben den Tests, die die Schüler absolvieren mussten, wurde auch das Thema „Lesefreude“ abgefragt. Im Zehnjahresvergleich wird dabei sichtbar, dass das Interesse der Jugendlichen am Lesen abnimmt. Jeder zweite befragte 15-Jährige aus der Generation Smartphone in Deutschland sagte: Ich „lese nur, wenn ich lesen muss“ oder „um Informationen zu bekommen, die ich brauche“. Lesen als liebstes Hobby gab nur jeder Vierte an. Mehr Schüler (34 Prozent) sagten dagegen, für sie sei Lesen Zeitverschwendung.

Eine deutliche Warnung sollte jedenfalls dieser Wert sein: In puncto Schulklima gaben 23 Prozent der Schüler in Deutschland an, mindestens ein paar Mal im Monat von Mitschülern drangsaliert zu werden. Dies entspricht dem OECD-Durchschnitt.

Starke Kritik an Pisa

Die Autoren kritisierten bei der Vorlage der Ergebnisse ein angeblich altbekanntes Problem in Deutschland: Der Schulerfolg hänge in der Bundesrepublik weiterhin stärker von der sozialen Herkunft der Schülerinnen und Schüler ab als im Durchschnitt der OECD-Länder. Privilegierte Schüler hätten einen deutlichen Leistungsvorsprung zu denen, die „sozioökonomisch benachteiligt“ seien, also aus bildungsferneren Schichten oder weniger wohlhabenden Elternhäusern kommen.

Doch gerade für Deutschland ist das falsch, weil bei Pisa nicht auf den letzten Bildungsabschluss, sondern nur auf die Kompetenz und Schulart von 15-Jährigen geblickt wird. Aber fast die Hälfte aller Studenten kommt hierzulande eben nicht über das Gymnasium in die Hochschule. „Gerade bei diesen Studenten, die vor allem über die Realschule und Fachoberschule ins Studium kommen, ist kein Einfluss der sozialen Herkunft festzustellen“, sagt etwa Josef Kraus, von 1987 bis Juni 2017 Präsident des Deutschen Lehrerverbandes und viele Jahre Schulleiter, im Blog „Tichys Einblick“.

Mittelmaß kann nicht unser Anspruch sein.

Anja Karliczek, Bundesbildungsministerin

Die PISA-Studien werden auch deshalb stark kritisiert, weil sie wesentliche Bildungsbereiche wie Fremdsprachen, Musik, sprachliches Ausdrucksvermögen, Geschichte, Geographie oder Wirtschaft nicht erfassen. Die Studien könnten deshalb allenfalls als Anhaltspunkt für Bildung herhalten. Zudem würden nicht alle Länder ihre schwachen Schulen an der Studie beteiligen. „Vor allem aber hinken die Vergleiche, weil die Anteile der Schüler mit Migrationshintergrund in den an PISA beteiligten Ländern extrem unterschiedlich sind. In Finnland etwa haben weniger als fünf Prozent der Schüler einen Migrationshintergrund. In Deutschland ist es das bis zu Zehnfache“, schreibt wieder Kraus. Ob man sich außerdem mit Ländern wie China und Südkorea, deren Bildungssysteme für ihre extreme Leistungsorientierung und deren negative psychische Folgen für die Schüler bekannt sind, messen wolle, wird auch hinterfragt. Nicht alle Jugendlichen seien zudem an Multiple Choice-Fragen gewöhnt.

Mittelmaß als Anspruch

Nach Ansicht von Bundesbildungsministerin Anja Karliczek kann Deutschland mit den Ergebnissen seiner Schüler bei der Vergleichsstudie Pisa nicht zufrieden sein. „Mittelmaß kann nicht unser Anspruch sein“, sagte die CDU-Politikerin laut einer gemeinsamen Mitteilung ihres Ministeriums und der Kultusministerkonferenz vom Dienstag. Karliczek hob hervor, dass Deutschland ein gutes Schulsystem habe und auch in dieser Pisa-Studie leicht über dem OECD-Durchschnitt liege. „Damit können wir aber nicht zufrieden sein. Andere Staaten ziehen an uns vorbei.“

Ein anderes Fazit zieht wieder Kraus: „Wir wissen auch ohne OECD, woran das deutsche Schulwesen krankt: Erstens am innerdeutschen Leistungsgefälle, das bei Fünfzehnjährigen bis zu zwei Jahre ausmacht. Und zweitens an einer populistischen Bildungspolitik, die Schülern und Eltern mit immer besseren Noten vorgaukelt, wie toll sie bzw. ihre Kinder doch seien.“

PISA

Pisa steht für „Programme for International Student Assessment“ (Programm für internationale Schülerbewertung). Die Federführung hat die OECD, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. In ihr haben sich 36 Industrieländer und höher entwickelte Länder zusammengeschlossen. Die Mitgliedsstaaten fühlen sich nach Angaben der Organisation der Marktwirtschaft und Demokratie verpflichtet.

In Deutschland wird der eigentliche Pisa-Test vom Zentrum für internationale Bildungsvergleichsstudien (ZIB) durchgeführt, einem Verbund der Technischen Universität München (TUM), des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) und des Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik an der Universität Kiel (IPN).