Kein Jammertal, aber auch keine Dynamik
Im vorderen Drittel liegen deutsche Schüler im weltweiten Leistungsvergleich mit anderen, laut Pisa-Vergleichstest. Zwar sind die Deutschen in den Naturwissenschaften und im Lesen überdurchschnittlich gut. Seit den letzten Tests haben sie sich aber nicht verbessert.
Pisa-Studie

Kein Jammertal, aber auch keine Dynamik

Im vorderen Drittel liegen deutsche Schüler im weltweiten Leistungsvergleich mit anderen, laut Pisa-Vergleichstest. Zwar sind die Deutschen in den Naturwissenschaften und im Lesen überdurchschnittlich gut. Seit den letzten Tests haben sie sich aber nicht verbessert.

Das deutsche Bildungssystem hat beim weltweiten Schulvergleichstest „PISA 2015“ einen Rückschlag erlitten. Die 15-jährigen Schüler erzielten in Naturwissenschaften und Mathematik schlechtere Ergebnisse als drei und sechs Jahre zuvor. Sie blieben aber mit ihren Leistungen im oberen Drittel der internationalen Rangliste. Ganz vorne liegt Singapur, gefolgt von Japan, Estland, Finnland und Kanada. Die deutschen Ergebnisse sind vergleichbar mit denen in Korea, Neuseeland, Australien, Großbritannien oder der Schweiz. Sie reichen aber an die Spitzengruppe nicht heran.

Deutschland im Mittelfeld

Im Durchschnitt kamen die Schüler in Naturwissenschaften, dem PISA-Schwerpunktfach 2015, auf 509 Punkte (2012: 524), in Mathematik auf 506 (514), in Lesekompetenz/Textverständnis auf 509 (508). Hier schnitten die 15-Jährigen so gut ab wie nie zuvor.

Trotz des ersten Leistungsknicks nach jahrelangem Aufwärtstrend beim „Programme for International Student Assessment“ (PISA) steht Deutschland im vorderen Mittelfeld der Ränge 10 bis 20. Die Leistungen der im April/Mai 2015 getesteten gut 10.000 Mädchen und Jungen lagen auch weiterhin jeweils über dem Durchschnitt der OECD-Staaten. Jeder Neunte (11 Prozent) brachte bei „PISA 2015“ Spitzenleistungen – drei Prozentpunkte über OECD-Niveau.

In den Naturwissenschaften liegt der südostasiatische Insel- und Stadtstaat Singapur mit 556 Punkten vor Japan (538) und Estland (534) als bestem europäischen Land. In Mathematik rangiert Singapur mit 564 Punkten vor den chinesischen Großregionen Hongkong (548) und Macao (544), in Lesekompetenz mit 535 Punkten vor Kanada und Hongkong (jeweils 527) sowie dem langjährigen europäischen PISA-Champion Finnland (526).

Moderne Methodik in Singapur

Für das Spitzenergebnis von Singapur gibt es mehrere Gründe. Dort habe jeder Lehrer etwa 100 Stunden Weiterbildung pro Jahr, sagte Andreas Schleicher, der Pisa-Chefkoordinator bei der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), laut Frankfurter Allgemeiner. Außerdem seien die Unterrichtsräume in Singapur hochmodern ausgestattet, auch was digitale Medien betrifft. „Pädagogische Forschung findet nicht nur an der Universität statt, sondern in den Schulen“, sagte Schleicher.

Ob man sich allerdings die gerade in asiatischen Ländern verbreitete Mentalität vieler Eltern zu eigen machen sollte, die Schüler mit wirklich allen Mitteln und enormen Druck nach vorne zu drücken, ist eine andere Frage.

Pisa-Ergebnisse führte zu Reformen

OECD-Experte Heino von Meyer fasste den Befund für das deutsche Bildungssystem nach in Berlin so zusammen: „Deutschland hat das Jammertal des PISA-Schocks von 2001 verlassen“ – es befinde sich aber nun lediglich auf einem „Hochplateau des oberen Mittelfeldes“ ohne spürbare Reformdynamik. Der „PISA-Schock“ von 2001 mit miserablen Test-Ergebnissen hatte zahlreiche Bildungsreformen zur Folge. Schleicher attestierte Deutschland zuletzt, aus dem Debakel vor 15 Jahren zwar gelernt zu haben. Er warnte aber auch vor einem Erlahmen des Reformeifers.

Allgemeiner Abwärtstrend

Insgesamt gingen aber nicht nur für Deutschlands 15-Jährige, sondern auch bei vielen anderen, im „PISA-2015“-Ranking teils besser platzierten Teilnehmerländern und -regionen die Punktzahlen herunter. Dies betraf beispielsweise die Schweiz (minus 17 Punkte bei Lesekompetenz), Österreich (minus 11 in Naturwissenschaften) oder die Niederlande (minus 11 in Mathematik). Frankreich erreichte sogar in keinem einzigen Teilbereich 500 Punkte. Und die USA stürzten etwa in Mathematik von vorher schon mäßigen 481 Punkten auf 470 ab. So sank der OECD-Durchschnitt in Naturwissenschaften im Vergleich zu 2012 von 501 auf 493 PISA-Punkte, in Mathematik von 494 auf 490 und in Lesekompetenz von 496 auf 493.

Herkunft bestimmt Notenspiegel

Für Deutschland stellt der aktuelle PISA-Report der OECD fest, dass hierzulande der Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildung weiterhin vorhanden ist. Allerdings habe sich die Kluft zwischen Schülern aus sozial gutgestellten, bildungsnahen Elternhäusern auf der einen Seite, und ärmeren, bildungsferneren Haushalten auf der anderen Seite, in den vergangenen zehn Jahren etwas verringert.

Zu dem für Deutschland seit langem brisanten Thema der Schüler mit Migrationshintergrund schreibt die OECD in ihrer neuen Studie: Diese Mädchen und Jungen liegen zwar 72 PISA-Punkte (das ist der Lernerfolg von zwei Schuljahren) unter dem Niveau von Schülern, deren Eltern hier geboren wurden. Rechnet man aber den oft schwachen sozialen Status inklusive Bildungsferne der Elternhäuser als schulische Hypothek heraus, dann verringert sich der Kompetenzabstand von Migrantenkindern auf 28 Punkte.

Computer statt Papier

Weiterhin gibt es viele „Risikoschüler“ mit sehr schwachen PISA-Leistungen, so erreichten in Lesekompetenz 16 Prozent nicht einmal die zweite von fünf Leistungsstufen. In Deutschland sind weniger Mädchen sehr gut in Naturwissenschaften als in vergleichbaren Ländern – und selbst leistungsstarke Mädchen gehen zu selten davon aus, dass dieser Bereich für sie beruflich in Frage kommt.

In Deutschland sehen viele Schüler Naturwissenschaften und Mathe als Paukfächer, aber nicht als Thema, das ihr Leben verändern kann.

Andreas Schleicher, PISA-Chefkoordinator

Insgesamt nahm gut eine halbe Million Mädchen und Jungen aus rund 70 Staaten und Großregionen an der Studie teil, erstmals auch im Bereich Problemlösen im Team als Indikator für soziale Kompetenz. Eine weitere Premiere: Erstmals haben die Jugendlichen alle Aufgaben am Computer gelöst statt auf dem Papier. Ob es einen Einfluss auf das Ergebnis hatte, dass die deutschen Schüler seltener am Computer arbeiten als andere, ist laut Zeit Online umstritten. Möglich waren auf diese Weise jedoch Simulationen von Experimenten und Feedback-Funktionen.

Fragen an den Bildungsforscher

Andreas Schleicher (52), Bildungsforscher bei der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), leitet als Chefkoordinator seit vielen Jahren von Paris aus das Testprogramm. Er spricht über Deutschlands Versäumnisse in der Bildungspolitik und zeigt, was woanders erfolgreicher funktioniert.

Was hat Deutschland bei seinen Reformen falsch gemacht?

Es gibt hier eine ständige Bewegung im System, die aber nicht zielgerichtet ist. Und die Beteiligung von Praktikern wie Lehrern und Schulleitern am Design von Reformen ist zu gering. Ein solcher Dialog ist jedoch für die Umsetzung ganz entscheidend. Mit 4,2 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt gibt Deutschland auch nicht wirklich viel für Bildung aus – bei den Reparaturausgaben dann wieder eine Menge. Oft wurde in kleinere Klassen investiert statt in bessere Lehrer. Ja, Deutschland ist leider ein Beispiel dafür, wie mehr Geld für Bildung eigentlich eher wenig bringt. Das Gießkannenprinzip war ineffizient.

Wie steht Deutschland bei der sozialen Durchlässigkeit seines Bildungssystems nach 15 Jahren PISA da?

Immer noch nicht wirklich gut. Bei der Kluft zwischen sozialer Herkunft und Bildungschancen liegt Deutschland jetzt im OECD-Mittelfeld. Vor 15 Jahren waren diese Disparitäten mit die größten unter den OECD-Staaten. Am unteren Ende des Leistungsspektrums hat sich etwas verändert, das auch nachhaltig ist. Frühere und individuellere Förderung, Ganztagsschule, verbindliche Bildungsstandards – das war wirklich wichtig. Die entsprechende Varianz, der Zusammenhang von Sozialstatus und Bildungserfolg, ist etwas gesunken.

Und wer macht es in dieser Hinsicht besser als wir?

Zum Beispiel Vietnam ist da vorbildlich. Viele wachsen dort in den ärmsten Verhältnissen auf und können sich dennoch sehr häufig mit Schülern aus Deutschland messen. Früher gab es dort kein gutes Schulsystem, heute besteht ein hohes Maß an Bildungsmobilität. Das heißt: Der Einsatz von Eltern für Bildungserfolge ihrer Kinder ist in Vietnam groß. Die Kehrseite: Es gibt wenig Toleranz für Misserfolge, Lehrer stehen unter viel höherem Druck, dass ein ihnen anvertrautes Kind in der Schule erfolgreich ist. Es gilt: Enorme Leistungsanforderungen an die Schüler – auf der anderen Seite starke Unterstützung.

Wie gerecht ist heute das deutsche Schulsystem?

Die soziale Segregation bleibt ein Thema. Das ist auch eine Frage des Schulsystems – mit Hauptschulen als Auffangbecken, inklusive aller sozialer Nachteile. Um es in PISA-Punkten auszudrücken: Zwischen Schülern des oberen Viertels und denen des unteren gibt es einen Unterschied von 144 Leistungspunkten – etwa 30 entsprechen dem Lernerfolg von vier Schuljahren. Schüler aus schwierigem Umfeld haben es in Deutschland weiter schwer, aus einer Abwärtsspirale herauszukommen. Hier hat ein solches Kind eine Chance von 34 Prozent, in die Leistungsspitze aufzurücken – in Hongkong oder Vietnam sind es 50 bis 80 Prozent.

Welche Rückschlüsse lässt „PISA 2015“ für den Umgang mit „Migrationsschülern“ zu?

Antwort: Der schwierige soziale Hintergrund vieler Migranten wird zum Teil aufgewogen durch erhöhten Bildungsehrgeiz dieser Kinder und Eltern. Da ist enorm viel Potenzial. Der größte Fehler ist, die Leistungsanforderungen für Schüler mit Migrationshintergrund erst einmal herunterzuschrauben. Das tut Deutschland immer noch systematisch. In einer Großregion wie Shanghai ist das völlig anders. Aber auch für ein Einwanderungsland wie Kanada gilt: hohe Erwartungen, zugleich intensive Unterstützung. Solche Integration muss man heute auch in Deutschland von jedem Lehrer erwarten – das ist nicht die Aufgabe von Schulpsychologen.

dpa/AS