Eines der Themen, über das sich viele ihre Meinung nicht öffentlich sprechen, ist der Islam. Hier die DITIB-Zentralmoschee in Köln. (Foto: Picture alliance)
Demokratie

Schere im Kopf

Die Meinungsfreiheit in Deutschland ist in Gefahr: Zwei Drittel der Bundesbürger sind sich sicher, dass man seine Meinung über manche Themen öffentlich lieber nicht sagen sollte. Dazu gehören Zuwanderung, Islam, Patriotismus.

„Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten […}. Eine Zensur findet nicht statt.“ So heißt es in Artikel 5, Absatz 1 des Grundgesetzes zur Meinungsfreiheit

Doch die Realität im Jahr 30 nach der Wiedervereinigung und im Jahr 15 unter Bundeskanzlerin Angela Merkel ist eine andere. Viele Bundesbürger haben offenbar eine Schere im Kopf – wie sie weiland in der DDR herrschte: Das gesellschaftlich Erwünschte darf man öffentlich sagen, seine wirkliche Meinung sagt man lieber nur im privaten Umfeld. Das haben mehrere Studien festgestellt.

71 Prozent haben den Eindruck, dass man sich zur Flüchtlingsthematik nur mit Vorsicht äußern kann.

Renate Köcher, Chefin des Allensbach-Instituts

Zwei Drittel der Befragten gaben an, sie seien „davon überzeugt, dass es heute viele ungeschriebene Gesetze gibt, die eine freie Meinungsäußerung zu bestimmten Themen besonders im öffentlichen Raum einschränken“, wie das Allensbach-Institut seine Studie vom Mai dieses Jahres zusammenfasst. „Dazu gehört das Flüchtlingsthema, wie auch der Umgang mit dem Islam. Mit dem Aufkommen nationalistischer Gruppierungen werden auch Begriffe wie Vaterlandsliebe oder Patriotismus als tabuisiert wahrgenommen“, führt das Institut weiter aus. Man müsse heute „sehr aufpassen, zu welchen Themen man sich wie äußert“, beschrieb die FAZ den Befund.

Heikle Themen: Migration, Islam, Patriotismus

„71 Prozent haben den Eindruck, dass man sich zur Flüchtlingsthematik nur mit Vorsicht äußern kann“, sagte Allensbach-Chefin Renate Köcher bei der Vorstellung der Studie. Heikel ist laut Köcher „auch ein anderer Bereich, der nach dem Empfinden der Bürger zunehmend zum Tabugebiet mutiert: Vaterlandsliebe und Patriotismus“. Vor rund 20 Jahren hätten nur 16 Prozent Patriotismus als heikles Thema empfunden, vor 15 Jahren 26 Prozent, aktuell seien es 41 Prozent. In den 1990er Jahren und auch noch zu Beginn der „Nullerjahre“ wurden Patriotismus, Weltoffenheit und die Unterstützung für Europa nicht in einem Spannungsverhältnis gesehen. CDU und CSU standen damals für beides, wie Köcher herausstellt. Mittlerweile hat anscheinend die AfD das Thema Deutschland und Patriotismus weitgehend okkupiert.

Nur 18 Prozent trauen sich, öffentlich ihre Meinung zu sagen

Zu dem einst in der DDR endemischen Phänomen der „Schere im Kopf“ sagte Köcher: „Der öffentliche Raum wird weitaus weniger mit Meinungsfreiheit assoziiert als der private Bereich. 59 Prozent der Bevölkerung ziehen die Bilanz, dass in ihrem Freundes- und Bekanntenkreis Meinungen frei geäußert werden können. Im öffentlichen Raum sehen nur 18 Prozent eine vergleichbare Freiheit.“ So zeigt sich laut Köcher, dass der Raum des öffentlich Sagbaren deutlich enger gezogen wird als im privaten Bereich.

62 Prozent meinten demnach beispielsweise, dass ein Politiker mit harter Kritik rechnen muss, der öffentlich äußert, der Islam habe in Deutschland zu viel Einfluss. In ihrem privaten Umfeld gingen dagegen laut Köcher nur 22 Prozent davon aus, dass diese Äußerung Anstoß erregen würde.

Es gibt Dinge, die man nicht ansprechen darf, ohne dafür nach subjektiver Wahrnehmung moralisch sanktioniert zu werden.

Shell-Jugendstudie 2019

Ähnlich erschreckend der Befund der regelmäßig im ZDF publizierenden „Forschungsgruppe Wahlen“ nach der Landtagswahl in Sachsen im September: Immer mehr Wähler empfinden offensichtlich eine Art „Sprechverbot“ und Meinungszensur – speziell für die Bürger im Osten eine frustrierende Erinnerung an die DDR-Zeit. Doch wenn strittige Themen „verboten“, vertuscht oder beschönigt werden, hat das Folgen für die Demokratie!

So sagten in Nachwahlbefragungen des Instituts 37 Prozent aller Wähler und 95 Prozent der AfD-Wähler, dass die AfD „als einzige Partei die wichtigen Probleme beim Namen nennt“. Herrschen in den demokratischen Parteien also Sprech- und Denkverbote? Nicht offiziell natürlich, aber viele empfinden es so. Eine bedenkliche Entwicklung.

Toleranz gegenüber missliebigen Meinungen wird weiter sinken

Auch in der soeben publizierten Shell-Jugendstudie 2019, für die junge Leute zwischen zwölf und 25 Jahren befragt wurden, äußern diese die Ansicht, dass man in Deutschland nicht offen zum Beispiel über Migrationsprobleme diskutieren kann. So stimmen mehr als zwei Drittel (68 Prozent) der Befragten folgender Aussage zu: „In Deutschland darf man nichts Schlechtes über Ausländer sagen, ohne gleich als Rassist beschimpft zu werden.“ Die Macher der Studie meinen dazu: „Das Argumentationsmuster deckt ein offenbar weit verbreitetes Gefühl ab, dass es Dinge gibt, die man nicht ansprechen darf, ohne dafür nach subjektiver Wahrnehmung moralisch sanktioniert zu werden.“

Nicht nur das. Die jungen Leute befürchten künftig in Deutschland eine sinkende Toleranz gegenüber missliebigen Meinungen: „Bemerkenswerterweise hat mehr als die Hälfte der Jugendlichen (56 %) Angst vor einer wachsenden Feindlichkeit zwischen Menschen, die unterschiedlicher Meinung sind. Dieser auf eine mögliche Polarisierung der Gesellschaft hindeutende Aspekt macht mehr jungen Leuten Sorge als etwa wirtschaftliche und soziale Nöte“, analysiert die Shell-Studie. Viele Jugendliche sehen offenbar auch die Grenze der Migranten-Aufnahmefähigkeit erreicht, so die Studie: „Anders als noch im Jahr 2015 spricht sich inzwischen aber jeder zweite (Westen: 47 %; Osten: 55 %) dafür aus, weniger Zuwanderer als bisher aufzunehmen.“

Alle Studien zusammen zeichnen eine Entwicklung der Diskussionskultur und der Demokratie in Deutschland, die Sorgen macht: Themen, die man lieber nicht anspricht. Wer sie anspricht, wird angegriffen und ausgegrenzt. Moral ersetzt Argumente. Und die Art dieser Angriffe wird immer feindseliger.