Europawahlprogramme sind spröde Lektüre. Da ist der Leser dankbar, wenn die Sozialdemokraten mit einem „comic relief“ aufwarten, mit einer Amüsierpause. Etwa wenn sie „nachhaltige Lebensmittel“ versprechen. „Nachhaltige Lebensmittel“? Das wird schwierig. Lebensmittel werden halt aufgegessen. Und sind dann weg, ganz unnachhaltig.
Erst kommt die Gleichstellung
Ein wenig amüsieren darf man sich also beim SPD-Europawahlprogramm – und wundern. Etwa über die Prioritäten. Exakt in der Mitte des 32-seitigen Dokuments steht Kapitel V. über: „Weiter vorwärts mit der Gleichstellung“. Aber dabei geht es fast weniger um die Frauen. Dafür sehr ausführlich um „die Rechte und die Gleichstellung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transsexuellen, Intersexuellen und queeren Personen“ – abgekürzt als „LSBTIQ-“ oder „LGBTIQ-Menschen“.
Konsequente Anwendung von Gender Mainstreaming und Gender Budgeting in allen Bereichen
Europawahlprogramm der SPD. Leitantrag des SPD-Parteivorstands für den Europa-Konvent am 23. März
Deren Rechte und Gleichstellung, betonen die Sozialdemokraten, gehörten „zu den Grundwerten der Europäischen Union und zum Grundpfeiler der europäischen Identität“. Das Thema „Gewalt gegen Frauen stoppen“ kommt im SPD-Europawahlprogramm erst danach. Von politische „Randthemen” wie Umwelt, Mobilität oder Sicherheit ganz zu schweigen.
Europäische Arbeitslosen-Rückversicherung
„Kommt zusammen und macht Europa stark!“. So der Titel des SPD-Europawahlprogramms. Am 23. März wird es der Europa-Konvent der Partei beschließen. Hauptthema: mehr Sozialleistungen, mehr europaweiter Sozialstaat, mehr „europäische Solidarität“, mehr „soziale Integration Europas“. Dabei das prominenteste SPD-Vorhaben: „Einführung eines europäischen Fonds als Rückversicherung für die Finanzierung von Sozialleistungen.“
Nach der Krise führen sie das Geld zurück in den Fonds.
Europawahlprogramm der SPD
In guten Zeiten sollen alle einzahlen. In der Krise können dann einzelne aus dem Fonds Kredite beanspruchen für ihre Arbeitslosenversicherung. Nach der Krise soll das Geld zurück in den Fonds fließen, hoffen die Sozialdemokraten – und denken dabei lieber nicht an notorische EU-Krisenländer.
SPD-Wunderplan gegen Jugendarbeitslosigkeit
Mittel- bis langfristig „müssen“ die Mitgliedsstaaten „das Schutzniveau ihrer Arbeitslosen, Renten- und Krankenversicherungssysteme angleichen“ fordern die SPD-Autoren. Was aus deutscher Sicht wie eine Drohung klingen kann. Dafür sollen die Mindestlöhne überall steigen, in Deutschland auf 12 Euro.
Gegen die Jugendarbeitslosigkeit in südeuropäischen Ländern haben die Sozialdemokraten schon einen Plan: „Was wir machen: Ein Sofortprogramm, das jeder und jedem unter 25 Jahren einen Ausbildungsplatz garantiert und damit eine berufliche Perspektive eröffnet.“
Schade, dass die SPD ihr „Sofortprogramm“ nicht schon längst Spaniern (Jugendarbeitslosigkeit 2018: 32,7 Prozent), Italienern (31,9) oder Franzosen (21,1) verraten hat. Die hätten es brauchen können.
Innovationen per Beschluss
Nebenbei will die SPD „Europa zur führenden Innovationsregion der Welt machen“. Das erinnert an die sogenannte Lissabon-Strategie eines EU-Gipfels. Der wollte im Jahr 2000 per Beschluss die Europäische Union bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt machen.
Ein Zieldatum nennen die Sozialdemokraten nicht. Dafür wollen sie einen „Europäischen Innovationsrat (EIC)“ einrichten „zur Förderung bahnbrechender (disruptiver) Ideen und Konzepte“. Auf die die Industrie von alleine nicht gekommen ist. Aus den Mitgliedsländern soll mehr Geld in Forschung und Entwicklung fließen und in die „Grundlagenforschung im Bereich der geistes- und sozialwissenschaftlichen Forschung“.
Schulden, Schulden, Schulden
Die Sozialdemokraten wollen außerdem die „europäischen Verkehrsachsen stärken und ausbauen“. Denn „die Straßen und Schienenwege müssen überall in der EU verbessert werden.“ Was sogar stimmt. Problem: Die Deutsche Bahn schleppt 20 Milliarden Euro Schulden mit sich herum und die französische nationale Eisenbahngesellschaft SNCF 50 Milliarden. Die hat jetzt der französische Staat übernommen, was seine Schuldenlast auf 100 Prozent der Wirtschaftskraft hat steigen lassen.
Das Kaputtsparen … werden wir beenden.
Europawahlprogramm der SPD
Schulden, Schulden, Schulden. Trotzdem wollen die Sozialdemokraten von sparen nichts hören. Im Gegenteil: „Das Kaputtsparen … werden wir beenden.“ Und weiter: „Zukunftsinvestitionen und die Konsolidierung von öffentlichen Haushalten dürfen nicht mehr gegeneinander ausgespielt werden.“
Wer soll das bezahlen?
Bleibt die Frage: Wer soll die vielen schönen SPD-Ideen für Europa bezahlen? „Ein gemeinsames Budget der Euro-Länder soll für mehr Investitionen sorgen“, antwortet das SPD-Wahlprogramm. Und dann sind da die SPD-Zauberworte: „Steuern“ und „besteuern“. 43 Mal kommen sie vor, alleine oder in den unterschiedlichsten Wortverbindungen, im nur viereinhalb Seiten langen Kapitel II „Für ein Europa, das zusammenhält.“
Visionslosigkeit einer reinen Sparpolitik
Europawahlprogramm der SPD
Endlich soll die „Finanztransaktionssteuer“ kommen. Die Sozialdemokraten nennen sie „Gerechtigkeitssteuer“. Dazu kommt für Gewerbe und Industrie eine große, europaweite Steuervereinheitlichung. Tendenz: nach oben. Unterschiedliche Körperschaftssteuern sollen angeglichen werden, Mindeststeuersätze sollen her und eine „globale Mindestbesteuerung der digitalen Unternehmen“.
Höhere deutsche Beiträge
Die Sozialdemokraten wollen in Europa am besten allen Steuerwettbewerb beenden: „Der Wettlauf um die niedrigsten Steuersätze muss aufhören.“ Das hört man auch anderswo. Zuende gedacht wird die Idee selten: Kein Standort ist gleich attraktiv. Niedrige Steuersätze sind ein Mittel, um Standortnachteile auszugleichen und im Wettbewerb um Investitionen zu bestehen. Denn den Standortwettbewerb können auch die Sozialdemokraten nicht verbieten. Leider.
Was wir machen: Wir sind zu höheren Beiträgen Deutschlands zum EU-Haushalt bereit.
Europawahlprogramm der SPD
Weil das alles aber kaum ausreichen wird, müssen doch die Deutschen ran. Was die Sozialdemokraten ihre Wählern nicht einmal verschweigen: „Was wir machen: Wir sind zu höheren Beiträgen Deutschlands zum EU-Haushalt bereit, … um nach dem Brexit … den Ausbau der öffentlichen europäischen Güter zu befördern.“
Einer für alle im UN-Sicherheitsrat
In der Außenpolitik strebt die SPD eine „Europäische Souveränität“ an. Es bleibt offen, was sie damit meint. Die Sozialdemokraten warnen vor „Kriegsgefahren, Kriegen und Krisen“. Ihre Antwort: eine EU-Außenpolitik, die auf der Einhaltung der Menschenrechte basiert, „mit einem besonderen Augenmerk auf Frauenrechte und die Gleichstellung der Geschlechter“.
Die deutsche Mitgliedschaft im VN-Sicherheitsrat 2019 und 2020 wollen wir als europäische Mitgliedschaft gestalten.
Europawahlprogramm der SPD
Europa, glauben die Sozialdemokraten „strebt gemeinsam einen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen an“. Was Paris womöglich anders sieht, und was mit dem Brexit wohl nicht leichter wird. Zur Vorbereitung will die SPD aber schon einmal „die deutsche Mitgliedschaft im VN-Sicherheitsrat 2019 und 2020 als europäische Mitgliedschaft gestalten. Das kann bei Abstimmungen lustig werden: Wer ist dann verantwortlich? Wollen sich die EU-Partner überhaupt in Haftung nehmen lassen? Und was, wenn eine Mehrheit mal anders abstimmen will als Paris?
Gemeinsame Armee − aber kein Rüstungsexport
In Brüssel wollen die Sozialdemokraten denn auch das Einstimmigkeitsprinzip bei außenpolitischen Entscheidungen völlig abschaffen. Der Rat soll mit Mehrheit entscheiden. Die SPD will außerdem eine „gemeinsame parlamentarisch kontrollierte europäische Armee“. Um Geld zu sparen, will sie für das Militär eine gemeinsame Beschaffungspolitik aufbauen.
Sie konterkariert das schöne Ziel aber sofort. Denn sie fordert zugleich eine „gemeinsame restriktive Kontrolle von Rüstungsexporten“. Was halt die eigene Rüstung teurer macht, und was die Partner eben nicht mitmachen wollen.
Wahlrecht ab 16
Auch die Sozialdemokraten wollen schließlich „mehr Vertrauen in Europas Demokratie und Institutionen aufbauen“ und die „Teilhabe an der Demokratie fördern“. Erste SPD-Maßnahme dazu: „Was wir machen: Das Wahlrecht mit 16 Jahren.“
Keine neue Idee. Österreichs Sozialdemokraten haben sie schon 2007 umgesetzt. Die jungen Wählern haben sie dann bitter enttäuscht: Bei den vorgezogenen Nationalratswahlen 2008 konnten Österreichs Rechtsaußenparteien FPÖ und BZÖ zusammen um 13 Prozent zulegen.
Das SPD-Europawahlprogramm? Ein Dokument der Widersprüche, ohne vorausschauendes Denken.