Bedenklicher Ausblick: Fahrverbot für Dieselfahrzeuge in Stuttgart. (Bild: Imago/imagebroker/Lilly ibtke)
Diesel

Im Zweifel für den Angeklagten

Nach einer teilweise hysterisch geführten Debatte wird das Thema Diesel endlich wieder nüchtern betrachtet. Fahrverbote stehen in der Kritik, berechtigte Zweifel gibt es am EU-Grenzwert und der Messtechnik. Aus dem BAYERNKURIER-Magazin.

Der Wind hat sich gedreht. Bis vor einigen Wochen ging es nur darum, welche Stadt als nächste ein Diesel-Fahrverbot erlassen muss, weil der Abmahnverein der selbst ernannten „Deutschen Umwelthilfe“ (DUH) die verfehlte Gesetzeslage ausnutzen konnte. Nun aber wird wieder über die Sinnhaftigkeit des EU-Grenz­wertes, die angeblichen Gesundheitsgefahren, die Aufstellung der Messstationen, die juristischen Mängel von Fahrverboten sowie über die Nebenwirkungen der Diesel-Hysterie diskutiert.

Der Diesel muss Zukunft haben und der Diesel wird Zukunft haben.

Andreas Scheuer

Auf dem „Zukunftsforum Auto­mobil“ der Staatsregierung brach Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) eine Lanze für die Zukunft von Benzin- und Dieselmotoren. Vor allem im ländlichen Raum „muss der Diesel Zukunft haben und wird der Diesel Zukunft haben“, betonte er. Ministerpräsident Söder forderte, in der Debatte über Diesel und Stickoxid „aus den Schützengräben“ herauszukommen. Notwendig seien „stabilere und klarere Messverfahren“ für Emissionen, Grenzwerte stünden in der Kritik. Der CSU-Chef kündigte deshalb eine wissenschaftliche Überprüfung der Messverfahren und des Grenz­wertes durch das bayerische Landesamt für Gesundheit mit Unterstützung der Universitäten an. Zudem soll geklärt werden, ob sich die in Deutschland durchgeführten Abgas-Messverfahren „im europäischen Rahmen“ bewegten, oder ob Deutschland  einen Sonderweg gehe.

Auch Scheuer fordert solche Prüfungen, wie er in einem Brief an EU-Verkehrskommissarin Bulc schrieb. Die EU hat reagiert und will die Grenzwerte für Schadstoffe in der Luft in einem Eignungstest neu bewerten, ebenso die Lage von Messstationen.

Strittige Grenzwerte

Aus Stickoxid wird an der Luft Stickstoffdioxid (NO2). Der kritisierte EU-weite Grenzwert für Stickstoffdioxid liegt bei 40 Mikrogramm im Jahresmittel pro Kubikmeter Luft. Nach Informationen der Agentur dpa wurde der europäische NO2-Grenzwert 2018 nur noch in 35 deutschen Städten überschritten, bei leichter Abnahme der Werte. 2017 waren es noch 65. Allerdings liegen für 28 der 65 Städte noch nicht alle Zahlen vor.

Dem Umweltbundesamt zufolge sind von 1990 bis 2016 die NO2-Emissionen um 58 Prozent zurückgegangen. Im Straßenverkehr beträgt der Rückgang sogar 66 Prozent – obwohl sich seither der Anteil der Dieselfahrzeuge verdoppelt hat. Ein Bericht des „Spiegel“ über die Lebenserwartung der Menschen in Deutschland zeigt: Die Grenz­wert-Reißer Stuttgart und München gehören zu den Gebieten mit der höchsten Lebenserwartung. Für die Luftqualität ganz allgemein gilt: Noch nie seit Beginn der industriellen Revolution war die Luft in unseren Städten so sauber wie heute. Das heißt nicht, dass alles in bester Ordnung ist, aber es gibt berechtigte Zweifel an der Diesel-Angst.

Beim Thema Luftschadstoffe scheiden sich die Geister.

Ärztezeitung, 2017

„Unter den Sachverständigen bestand keine Einigkeit, wie die Wirkung von Stickoxiden aus Dieselabgasen auf die Gesundheit der Bevölkerung zu beurteilen sei“, heißt es im Bericht der Untersuchungskommission Volkswagen des Bundestags 2017. „Beim Thema Luftschadstoffe scheiden sich die Geister“, schrieb auch die „Ärztezeitung“ 2017. Dieser Dissens zeigte sich erneut, als kürzlich 112 renommierte deutsche Lungenärzte  eine Überprüfung der „medizinisch nicht begründbaren“ EU-­Grenzwerte für Feinstaub und Stickoxide forderten. Dem widersprachen andere Ärzte und einige der grünen Ideologen in Behörden, Medien und Verbänden. Jochen Flasbarth, Staatssekretär im Bundesumweltministerium, erklärte, er könne die Kritik der Mediziner nicht ernst nehmen. Dieter Janecek, Ex-Landeschef der bayerischen Grünen und Bundestagsabgeordneter, twitterte gegen Andersdenkende: „Um das mal klar zu sagen: Was Union und FDP zusammen mit ein paar verirrten Lungenärzten da in Sachen #Umwelthilfe #Feinstaub#Stickoxide aufführen, hat Reichsbürger-Niveau.“

Der medizinische Streit ist kompliziert. Es gibt keinen konkreten Nachweis, dass Stickstoffdioxid bei einer langfristigen Exposition gesundheitsschädlich ist – ohnehin dürfte dies nur für empfindliche Gruppen wie Kinder, Schwangere, Senioren oder Menschen mit Atemwegserkrankungen zutreffen. Dafür gibt es epidemiologische Studien, bei denen statistische Daten für Gesundheitsprobleme und NO2-Emissionen unter Herausrechnung anderer Faktoren in Verbindung gesetzt werden. Ergebnis dieser Wahrscheinlichkeitsberechnungen: Einige Studien legen einen Zusammenhang nahe, andere nicht.

Der konkrete toxikologische Nachweis für eine Gesundheitsgefahr kann auch kaum je geführt werden, weil man dazu Menschen über einen längeren Zeitraum NO2 aussetzen müsste, mit Vergleichsgruppen und unter Ausschluss jedes anderen Risikofaktors wie Rauchen, Übergewicht, Alter, medizinische Versorgung und zu wenig Bewegung. Diese anderen Faktoren zu messen und einzurechnen, ist praktisch unmöglich.

Durch Berechnungen von Stickoxid auf Tote zu schließen, ist wissenschaftlich unseriös.

Hans Drexler, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Arbeits- und Umweltmedizin

Ein weiteres Nachweis-Pro­blem ist offensichtlich: Die Atemluft in unseren Städten ist ein Cocktail aus vielen verschiedenen Stoffen. Die im Bundestag gehörten Sachverständigen waren sich einig, dass sich „aus der isolierten Betrachtung einzelner Schadstoffkonzentrationen keine eindeutigen Bezüge zu gesundheitsschädlichen Effekten herstellen lassen“. Es sei stets das Schadstoffgemisch zu betrachten und in Beziehung zu regionalen und sozialen Faktoren zu setzen. Ob Stickstoffdi­oxid allein, nur in Kombination oder gar nicht schädlich sein kann, ist also nicht geklärt, wie auch die WHO 2013 einräumte.

Daraus folgt: „Durch Berechnungen von Stickoxid auf Tote zu schließen, ist wissenschaftlich unseriös“, so Hans Drexler, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Arbeits- und Umweltmedizin. Auch Jürgen Resch, DUH-Bundesgeschäftsführer und Zeuge vor dem VW-Ausschuss, blieb Beweise dafür schuldig: „Der Zeuge konnte auf weitere Anfrage keine direkten Belege für eine ausschließliche Kausalität zwischen den Emissionsbelastungen durch Stickstoffoxide und der von ihm angegebenen Zahl von Todesfällen benennen.“

Grenzwerte dienen im Falle von Unklarheiten aber auch der Gesundheitsvorsorge, und diesem Aspekt sind der WHO- und damit der EU-Grenzwert geschuldet. Man ging auf Nummer sicher.

Viele wundern sich darüber, dass in Deutschland auf der Straße ein NO2-Grenzwert von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter gilt, am Arbeitsplatz jedoch von 950. Als Grund wird angeführt, dass sich im öffentlichen Raum „vom Baby bis zum älteren Menschen“ jedermann aufhält. Allerdings halten sich an einem Arbeitsplatz die Menschen viel länger auf, Straßen dagegen werden meist schnell wieder verlassen. Der Stuttgarter Lungenarzt Professor Martin Hetzel sagte im „Handelsblatt“, Arbeiter im Steinkohlebergbau habe man auf Basis des Wertes 950 untersucht – „ohne negative Folgen für die Gesundheit“.

Problematische Standorte

Wo genau die Messstationen zu stehen haben, regelt in Deutschland die 39. Verordnung zum Bundesimmissionsschutzgesetz, mit der eine EU-Richtlinie umgesetzt wurde. Bundesweit waren allerdings mehr als 500 Messstationen vor Inkrafttreten der EU-Richtlinie errichtet worden. Auffällig ist: Der Grenzwert wurde meist an Messstationen überschritten, die an möglicherweise falsch ausgewählten Orten aufgestellt wurden. Vorgeschrieben sind Messungen „innerhalb von Gebieten und Ballungsräumen, in denen die höchsten Werte auftreten“. Allerdings ist der Begriff „innerhalb von Gebieten“ auslegungsfähig.

Deutschland messe Schadstoffe deutlich strenger als andere EU-Länder, kritisiert die Zeitung „Die Welt“. Sie zitiert den Messtechnikexperten Martin Schraag, der die EU-Messstellen systematisch untersucht hat: „Die deutschen Behörden messen bewusst in Straßenschluchten, also beiderseits bebauten Straßenabschnitten, wo wenig Luftaustausch stattfindet. Das wird in dieser Form in anderen EU-Ländern nicht gemacht.“ Das erklärt, warum die Luft etwa in Rom, Wien oder Athen so viel besser sein soll, obwohl man als Besucher dieser Städte daran zweifelt.

Laut den Messungen des Landesamts für Umwelt (LfU) wurden in München die Werte an zwei der fünf Stationen, nämlich Landshuter Allee und Stachus, deutlich überschritten. Am Stachus steht die Messstation mitten auf einer riesigen Kreuzung, direkt daneben liegen insgesamt 14 Fahrspuren sowie Abluftschächte der U-Bahn. 25 Meter soll ein Messhäuschen von großen Kreuzungen entfernt sein – so die EU-Richtlinie. Sie verbietet auch Messstellen „auf den Fahrbahnen der Straßen und, sofern Fußgänger und Fußgängerinnen für gewöhnlich dorthin keinen Zugang haben, auf dem Mittelstreifen der Straßen“.

An der Landshuter Allee steht die Station direkt am hier acht­spurigen Mittleren Ring bei einer Bushaltestelle inmitten einer engen Häuserschlucht, umsäumt von Bäumen, die den Luftaustausch behindern. Stau ist hier Normalzustand. Bis zehn Meter Abstand vom Straßenrand erlaubt die EU-Vorschrift, Häuserschluchten und Bäume sollten vermieden werden. Weiter heißt es: „Messstationen für den städtischen Hintergrund müssen (…) grundsätzlich für eine Fläche von mehreren Quadratkilometern repräsentativ sein.“ Ob Stachus und Landshuter Allee aber repräsentativ für mehrere Qua­dratkilometer sind, das darf man getrost bezweifeln.

Auch die von der EU gewünschten komplizierten „Modellrechnungen“ für ganz München auf Basis der Werte der fünf LfU-Stationen sind fragwürdig. Die Stadt hatte Anfang 2018 selbst 21 Messstationen aufgestellt, 20 weitere folgten 2019. Und es zeigten sich erstaunliche Werte: Die Grenzwerte für Stickstoffdioxid wurden 2018 an 17 der 21 Messstellen eingehalten – laut Modellrechnungen aber nur an zwei. „Dank unserer eigenen Messungen haben wir jetzt endlich belastbare Fakten“, betonte Münchens OB Dieter Reiter (SPD). Fahrverbote, das beschloss jetzt die Staatsregierung, wird es im neuen Luftreinhalteplan für München deshalb nicht geben.

Wie falsch möglicherweise die Messungen sind, zeigten auch diese Meldungen: In Oldenburg gab es eine deutliche Grenzwertüberschreitung an einem Tag, als es wegen eines Marathons gar keinen Autoverkehr gab. Zudem ergab eine aktuelle Auswertung des BUND, dass in Hamburg trotz der dortigen Diesel-Fahrverbote für zwei Straßen die NO2-Werte nicht gesunken sind.

Fragwürdige Fahrverbote

Nach Ansicht der Juristen des gerade abgehaltenen Verkehrsgerichtstags sind Fahrverbote schwerwiegende und unverhältnismäßige Eingriffe in die Grundrechte der persönlichen und beruflichen Freiheit. Verkehrsminister Andreas Scheuer riet darum betroffenen Kommunen, „sich mit allen juristischen Mitteln“ zur Wehr zu setzen. In einer Stadt wie dem grün regierten Stuttgart gebe es auch deswegen ein Fahrverbot, weil sie nicht alle juristischen Möglichkeiten ausgeschöpft habe.

Deutschland ist das einzige Land, das den Ast absägt, auf dem es sitzt.

Markus Söder

Es gibt weitere Nebenwirkungen der Diesel-Fahrverbote. Da ist zunächst der Ausweichverkehr auf längeren Umfahrungen: Staus nehmen zu, der Schadstoffausstoß ist höher und verlagert sich nur. Ein weiteres Problem sind die Kohlendioxid-Emissionen. Ein Diesel produziert rund 15 Prozent weniger klimaschädliches CO2 als ein Benziner. Die Alternative Elektromobil hat eine verheerende Umweltbilanz: Die Förderung der Batterie-Rohstoffe wie Lithium und Kobalt hinterlässt gewaltige Schäden an Mensch und Natur in den Herkunftsländern. Überdies scheint es unmöglich, für 50 Millionen E-Mobile in Deutschland die Ladeinfrastruktur und die Stromversorgung sicherzustellen.

Der Schaden, den die Dieselhysterie verursacht, ist groß, nicht nur bei Millionen privaten, gewerblichen und kommunalen Autobesitzern. Die Autoindus­trie ist Deutschlands wichtigster Wirtschaftszweig. Sie ernährt direkt und über Zulieferer etwa 1,9 Millionen Arbeitnehmer und deren Familien. 2017 erzielte sie einen Umsatz von über 422 Milliarden Euro. „Deutschland ist das einzige Land, das den Ast absägt, auf dem es sitzt“, warnte deshalb Bayerns Ministerpräsident Söder.

All dies belegt: Es gibt in Sachen Diesel viele begründete Zweifel, wenig belastbare Fakten und jede Menge Ideologie.