Edmund Stoiber, CSU-Ehrenvorsitzender und ehemaliger bayerischer Ministerpräsident. (Foto: Nikky Maier/BK)
Kolumne

Unsere Verantwortung als Brückenbauer

Kolumne Gerade wir Deutschen müssen die Interessen der Osteuropäer im Blick behalten, schreibt Edmund Stoiber. Denn es war Deutschland mit Bundeskanzler Helmut Kohl an der Spitze, das den EU-Beitritt der Osteuropäer damals am vehementesten gefordert hat.

Die SPD hat sich auf ihrem Parteitag in Bonn in einer Zitterpartie in letzter Minute zu Koalitionsverhandlungen durchgerungen. Für mich ist die nur knappe Zustimmung des Parteitags nicht nachvollziehbar, weil die SPD einige Herzensanliegen der Sozialdemokratie wie die Rückkehr zur paritätischen Finanzierung in der Krankenversicherung oder die Solidarrente erfolgreich in dem gemeinsamen Sondierungspapier unterbringen konnte. Und es gibt ein Kapitel, ganz am Anfang des Papiers, das die Handschrift von Martin Schulz persönlich trägt: Europa. Die Aussagen in diesem strategisch sehr wichtigen Kapitel sind bisher wenig konkretisiert worden. Dabei geht es um nichts weniger als einen Paradigmenwechsel, weg vom Europa des Wettbewerbs und der Leistungsorientierung, hin zu einem Europa der Risikoteilung und der sozialen Konvergenz. Das zeigt sich vor allem in der Idee eines Sozialpakts mit einer stärkeren Koordinierung der Arbeitsmarktpolitik sowie europäische Mindestlöhne und Grundsicherungssysteme. Auch die Ankündigung, Deutschland sei zu höheren Beiträgen zum EU-Haushalt bereit, und die Erwähnung eines Investivhaushalts für die Eurozone sind Zugeständnisse von CDU und CSU an den SPD-Vorsitzenden. Damit kommen Union und SPD auch dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron weit entgegen, der in seiner viel beachteten Rede an der Pariser Sorbonne genau dieses „solidarische Europa“ gefordert hatte.

Dabei geht es um nichts weniger als einen Paradigmenwechsel, weg vom Europa des Wettbewerbs und der Leistungsorientierung, hin zu einem Europa der Risikoteilung und der sozialen Konvergenz.

Edmund Stoiber

Klar ist, dass eine funktionierende Achse Frankreich – Deutschland für eine gute Zukunft Europas absolut notwendig ist. Unter dem schwachen Präsidenten Hollande, aber auch schon unter seinem Vorgänger Nicholas Sarkozy, kam diese Achse nicht mehr zum Tragen. Diesen Defekt hat Macron auf französischer Seite überwunden. Er erwartet jetzt zu Recht von Deutschland eine ambitionierte Antwort, schon um ein Wiedererstarken der europafeindlichen Rechte in Frankreich zu verhindern. Wir dürfen uns aber nichts vormachen: Es wird stark auf die konkrete Ausgestaltung der europapolitischen Eckpunkte des Sondierungspapiers ankommen, ob das deutsch-französische Europa eines der Gemeinsamkeit oder eines der Spaltung wird. Gemeinsame Sozialstandards und Arbeitsbedingungen können die Lebenswirklichkeit vieler Menschen in Europa verbessern helfen. Sie können aber auch Länder überfordern, die sich ein Sozialniveau wie in Deutschland oder Frankreich nicht leisten können. Ein einheitlicher Mindestlohnrahmen, eine gemeinsame Arbeitsmarktpolitik oder Grundsicherungssysteme für alle EU-Mitgliedstaaten können deshalb nur schrittweise und mit einem weiten Zeithorizont eingeführt werden. Weder Union noch SPD wollen eine Angleichung der europäischen Sozialstandards durch Absenkung des deutschen Niveaus. Dann bleibt nur die stufenweise Anhebung der Standards in den ost- und südeuropäischen Ländern. Das wird viel Geld kosten. Ohne ein finanzielles Transfersystem von reichen zu ärmeren Ländern, etwa durch eine europäische Arbeitslosenversicherung, wird das auf Dauer aber nicht funktionieren.

Es geht in diesem Zusammenhang nicht nur um die Frage der Akzeptanz einer solchen einheitlichen Sozialpolitik bei den Menschen in Deutschland. Wir müssen aufpassen, dass die bereits jetzt in der Flüchtlingspolitik zu beobachtende Spaltung zwischen west- und osteuropäischen Ländern nicht noch durch eine protektionistische Arbeitsmarktpolitik zusätzlich vertieft wird. Das Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“ klingt gut, beraubt aber gerade osteuropäische Unternehmen, die viele Arbeitskräfte nach Westeuropa schicken, ihrer Wettbewerbsfähigkeit.

Für Deutschland war die Aufnahme der osteuropäischen Staaten und damit die Wiedervereinigung Europas als direkte Folge der deutschen Wiedervereinigung ein emotionales Ereignis. Wir haben dadurch historisch ein anderes Verhältnis zu Osteuropa als Frankreich.

Edmund Stoiber

Aber gerade wir Deutschen müssen die Interessen der Osteuropäer im Blick behalten. Es war Deutschland in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts, mit Bundeskanzler Helmut Kohl an der Spitze, das den Beitritt der Osteuropäer zur EU am vehementesten gefordert hat. Diese Verantwortung als Brückenbauer zwischen Ost und West müssen wir unverändert wahrnehmen. Die Statik der EU hat sich durch die Osterweiterung 2004 verschoben. Für Deutschland war die Aufnahme der osteuropäischen Staaten und damit die Wiedervereinigung Europas als direkte Folge der deutschen Wiedervereinigung ein emotionales Ereignis. Wir haben dadurch historisch ein anderes Verhältnis zu Osteuropa als Frankreich, dessen politischer Fokus immer auf dem Mittelmeerraum lag. Die Franzosen waren nie mit Herzblut dabei, als es darum ging, die ehemaligen Ostblockstaaten in die EU aufzunehmen. Macrons herbe Kritik an der Solidarität der Visegrád-Staaten Polen, Ungarn, Slowakei und Tschechien in der Flüchtlingspolitik haben diese als arrogante Einmischung in ihre Souveränität verstanden. Vor diesem Hintergrund hat Deutschland für den Zusammenhalt in der EU eine große Verantwortung.

Es war richtig, dass die CSU-Landesgruppe den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán zu ihrer Klausurtagung eingeladen hat. Ungarn hat, wie auch die anderen „Visegrád-Staaten“ Polen, Tschechien und die Slowakei, gerade in der Migrationspolitik eigene Vorstellungen, wo sich Europa hin entwickeln soll. Das müssen wir respektieren, weiter im Gespräch bleiben und nötigenfalls auch Kompromisse eingehen. So kann ich mir gut vorstellen, das Angebot der Visegrád-Staaten aufzugreifen, die statt der Aufnahme von Flüchtlingen mehr für den Schutz der Außengrenzen zu leisten bereit sind. Was in jedem Fall vermieden werden muss, ist ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten, in dem Länder, die nicht jeden Weg gemeinsam gehen wollen, aus der EU herausgedrängt werden. Die unmögliche Äußerung von Martin Schulz, bis 2025 müsse es die Vereinten Staaten von Europa geben und wer nicht mitmache, habe die EU zu verlassen, würde die historische Entwicklung von einem Europa der Sechs, dann Neun, Zwölf bis hin zu den Achtundzwanzig auf den Kopf stellen.

Ungarn hat, wie auch die anderen „Visegrád-Staaten“, gerade in der Migrationspolitik eigene Vorstellungen, wo sich Europa hin entwickeln soll. Das müssen wir respektieren, weiter im Gespräch bleiben und nötigenfalls auch Kompromisse eingehen.

Edmund Stoiber

Bayern hat auch aufgrund seiner räumlichen Nähe zu Osteuropa immer einen eigenständigen Weg beschritten. So hat Franz Josef Strauß im September 1977 den Generalsekretär der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei János Kádár, der eine zweifelhafte Rolle bei der Niederschlagung des Volksaufstandes 1956 in Ungarn gespielt hatte, besucht. Dabei ging es nicht nur um Fragen der Abrüstungspolitik, sondern auch um eine engere Anbindung Ungarns an den Westen, speziell natürlich an Bayern. Strauß war auch 1988 bei dem bulgarischen Diktator Todor Schiwkow zu Gast. In all diesen Gesprächen ging es darum, konkrete Verbesserungen für die Menschen in Osteuropa zu erreichen. An diesem vernünftigen Grundprinzip sollten wir uns auch künftig orientieren.