Zerrissenes Deutschland. (Bild: Imago/Chromorange)
Einheit

Deutschland, einig Vaterland?

Kommentar In der rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt Mainz wird der 27. Jahrestag der Deutschen Einheit gefeiert. Doch ist nach der Bundestagswahl vor einer Woche vielen Bürgern nicht nach Feiern zumute. Auf die Politik wartet eine Mammutaufgabe.

Die Einheit feiern? Wieso sollten wir das tun, so kurz nach der Bundestagswahl? Zeigt sie nicht, dass unser Land zerrissen ist wie nie zuvor seit der Wende 1989/90? Besonders im Osten hat die AfD große Erfolge, in Sachsen belegte sie mit 27 Prozent der Zweitstimmen sogar Platz eins unter den Parteien. Am stärksten schnitt sie mit 35,5 Prozent im Wahlkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge ab. Aber auch in den anderen vier neuen Ländern sowie Teilen Berlins lag sie über oder nur knapp unter 20 Prozent.

Nicht nur im Osten

Man muss aber hinzufügen: Nicht nur im Osten. Schon bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg im vergangenen Jahr holte die AfD 15,1 Prozent – bei der Bundestagswahl war hier der Wahlkreis Heilbronn mit 16,4 Prozent „ganz vorne“, dahinter Pforzheim mit 16,3 Prozent. Und bei der Bundestagswahl gab es hohe AfD-Ergebnisse auch in:

  • Bayern (Wahlkreis Deggendorf 19,2 Prozent; In den Wahlkreisen Passau, Straubing und Schwandorf zwischen 16,1 und 18,4 Prozent),
  • Hessen (Wahlkreis Fulda 15,8 Prozent; Wahlkreis Main-Kinzig 15,4 Prozent),
  • Rheinland-Pfalz (Wahlkreis Ludwigshafen 15,5 Prozent)
  • Nordrhein-Westfalen (Wahlkreis Gelsenkirchen 17,0 Prozent; Wahlkreis Duisburg II 15,4 Prozent. Interessant: Allein im Stimmbezirk 0709 des Wahlbezirkes Duisburg-Obermarxloh holte die AfD 30,4 Prozent der Stimmen.)

Das Land ist gespalten, aber nicht in Ost und West. Die Leistungen im Osten sind beachtlich: 27 Jahre nach der Wende liegt das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf im Osten bei 73 Prozent des westdeutschen Vergleichswertes und die Produktivität in den Betrieben bei etwa 80 Prozent. Die Wirtschaftsleistung hat sich mehr als verdoppelt, die Arbeitslosigkeit ist deutlich gesunken, die Umweltschäden weitgehend behoben. Wer hätte das angesichts der in jeder Hinsicht desolaten DDR gedacht?

Die wahre Spaltung

Nein, die Spaltung besteht in grundlegenden politischen Fragen: Europas Zukunft, Flüchtlingspolitik, die Haltung zum Islam. Damit verbunden spielen auch Fragen der sozialen Gerechtigkeit, der Bildungspolitik oder der Kriminalität eine Rolle.

Verwundern kann das nicht: Die Deutschen sahen erstaunt, dass zwar seit Jahren Straßen, Brücken, Krankenhäuser und Schulen in diesem Lande verfielen, weil angeblich kein Geld dafür da war. Für Griechenrettung und später für die Asylbewerber aber waren plötzlich scheinbar problemlos zig Milliarden Euro vorhanden. Bürger mit geringem Einkommen, Rentner, die Jahrzehnte für ihre niedrige Rente gearbeitet hatten, lasen mit Erstaunen, wie viel Geld gierige Banker oder wie viel Sozialhilfe Asylbewerber erhielten, die nicht einen Tag hierzulande gearbeitet hatten. Familien oder Alleinerziehende, die seit Jahren eine größere bezahlbare Wohnung suchten, sahen mit Erstaunen, wie ihnen Vermieter anerkannte Flüchtlinge vorzogen, weil das Sozialamt ein sicherer Mietenzahler ist. All das wurde ihnen dann auch noch als „alternativlos“ verkauft.

Gegensätze stoßen sich ab

Weitere Gegensätze und Hürden bauten oder bauen sich auf: Während mit dem Soli die Straßen im Osten saniert und neugebaut wurden, verfiel die Infrastruktur im Westen immer weiter. Während die Städte aus allen Nähten platzen, leert sich das Land. Während das Bundesamt für Migration tausende neue Mitarbeiter einstellen darf, fehlt angeblich das Geld, um Krankenschwestern, Hebammen, Pfleger oder Polizisten anständig zu bezahlen. Der muslimische Antisemitismus wächst, Rechts- wie Linksradikale machen sich breit. Diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen.

„Die da oben“

Wundert sich da noch jemand, dass „die da oben“ beschimpft werden, zuerst leise, dann immer lauter? Seit Jahren rangieren Politiker in der Vertrauensfrage über Berufsgruppen auf dem letzten Platz.

Die Flüchtlingskrise war ein Katalysator der Wut und der gefühlten Ohnmacht, sie war ein Reaktionsbeschleuniger der Verlustängste der Menschen. Denn fast alle politischen Fragen haben irgendeinen Bezug zur Asylpolitik. Darum stimmten 67 Prozent der ehemaligen CDU/CSU-Wähler in Nachwahlbefragungen von Infratest dimap der Aussage zu: „Die CDU vernachlässigt in der Flüchtlingspolitik die Sorgen der Menschen.“

Und die Partei, die scheinbar die einfachsten und verständlichsten Lösungen in dieser zentralen Frage offerierte, die ist der Wahlgewinner. Besonders im Osten, dort sind die Verlustängste größer, weil das Erreichte erst 27 Jahre alt ist. Hinzu kamen 60 Prozent Protestwähler, die aus Frust über die anderen Parteien die AfD wählten.

Was wächst zusammen?

Mühsam nähern sich die Eichhörnchen: In einer Befragung des Meinungsforschungsinstituts Forsa sagten 50 Prozent, die Menschen seien 27 Jahre nach der Einheit zu einem Volk zusammengewachsen. Im September 2011 lag dieser Wert bei 47 Prozent. Die Hoffnung auf Einheit trägt die Jugend: 65 Prozent der 14- bis 21-Jährigen bejahten diese Frage.

Gerade deshalb ist der Aderlass gefährlich, den viele ländliche Gebiete durch die abwandernde Jugend erleiden. Was übrig bleibt, fühlt sich oft zurückgelassen, abgehängt, chancenlos, zweitklassig, besonders im Osten. Nimmt man die Linkspartei dazu, haben in den neuen Ländern fast 40 Prozent der Wähler ganz links oder ganz rechts gewählt, in den alten 18,5 Prozent. Aber das Erstarken der Ränder bedroht die Demokratie, das hat uns Weimar gelehrt.

Die künftige Bundesregierung muss also die Gräben durch Deutschland kleiner machen, eine kolossale Aufgabe. So viel Vertrauen wurde verspielt. Die Schlüssel: Hochschulen, schnelles Internet und Arbeitsplätze aufs Land bringen, Zuwanderung begrenzen. Für die Gräben im Osten trägt vor allem die CDU die Verantwortung, denn CSU, FDP und Grüne spielen dort kaum eine Rolle. Erst wenn die Gräben zugeschüttet werden, wächst weiter zusammen, was zusammen gehört.