Wehret den Anfängen: Kundgebung "Nie wieder Judenhass" in Berlin 2014. (Bild: Imago/Jürgen Heinrich)
Judenhass

Kein ausgewogener Film

Der Zentralrat der Juden in Deutschland hat die TV-Sender Arte, WDR, ARD und ZDF gebeten, einen unter Verschluss gehaltenen Film über Antisemitismus freizugeben. Die Sender verteidigen ihre Entscheidung, die mittlerweile zum Politikum wird.

Über den Inhalt ist naturgemäß wenig bekannt, da der Film „Auserwählt und ausgegrenzt – Der Hass auf Juden in Europa“ noch nicht öffentlich gezeigt wurde. Laut Medienberichten wird in dem Film der Autoren Joachim Schroeder und Sophie Hafner der Antisemitismus unter anderem in Deutschland, Frankreich, im Gazastreifen und im Westjordanland untersucht – darunter natürlich auch der Judenhass von Muslimen. Die Bild und andere Medien deuteten an, dass in dem Film auch berichtet wird, dass die Hilfsorganisationen „Brot für die Welt“ und „Misereor“ Boykott-Kampagnen gegen Israel mitfinanzierten sowie EU und Kirchen zusammen mit der UNO jährlich 100 Millionen Euro Steuergeld in Organisationen investierten, die überwiegend israel-feindliche Kampagnen betrieben. Ob diese angeblichen Hilfen bewusst oder aus Unkenntnis gezahlt wurden, sagte die Bild nicht. Weiter gehe es um Hasstiraden des Palästinenser-Präsidenten Mahmut Abbas, islamistische Propaganda in Europa sowie die Flucht von Juden aus Europa wegen des wachsenden Antisemitismus. Gerd Buurmann, der den Film gesehen haben will, schreibt auf „TichysEinblick.de“ unter anderem, es gehe in der Dokumentation auch um judenfeindliche Schriften von Martin Luther sowie den Nahostexperten Jürgen Todenhöfer, der immer wieder in den öffentlich-rechtlichen Sendern auftritt, und laut der Dokumentation „unausgewogen“ aus dem Gaza-Streifen berichtet.

Ausstrahlung abgelehnt

Der Sender Arte, der die exklusiven Senderechte an dem Film besitzt und Ende Mai sein 25-jähriges Bestehen feierte, lehnte eine Ausstrahlung des vom WDR redaktionell zu verantwortenden Films ab. Der Film wurde 2016 von der zuständigen WDR-Redakteurin Sabine Rollberg abgenommen. 165.000 Euro brutto der Gebührenzahler haben die Autoren laut FAZ für ihre eineinhalb Jahre lange Arbeit bereits erhalten.

Wie dargelegt, halte ich die Ausstrahlung der Dokumentation für außerordentlich wichtig.

Josef Schuster, Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland

Nun hat der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, Josef Schuster, in einem Schreiben an den Arte-Präsidenten und SWR-Intendanten Peter Boudgoust um eine Ausstrahlung gebeten. Die Jüdische Allgemeine hatte zuerst über diesen Brief berichtet.

Er maße sich nicht an, die Dokumentation journalistisch zu beurteilen, so Schuster danach. Ihm sei aber nicht ersichtlich, warum formale Gründe die Ausstrahlung verhinderten. „Daher bitte ich Sie, die Entscheidung zu überdenken. Wie dargelegt, halte ich die Ausstrahlung der Dokumentation für außerordentlich wichtig“, so das Schreiben. Der Zentralratspräsident hatte als Gründe angeführt, der Film sei vor dem Hintergrund des wachsenden Alltags-Antisemitismus sowie des speziell auf Israel bezogenen Antisemitismus höchst relevant. Solche Themen filmisch zu zeigen, entspreche dem „Bildungsauftrag“ der öffentlich-rechtlichen Sender ARD und ZDF, die die deutschen Gesellschafter des deutsch-französischen Gemeinschaftssenders sind.

Der Sender verteidigt sich

In einer schriftlichen Antwort an Schuster, den Arte veröffentlichte, erklärte der Vorsitzende der Programmkonferenz, Alain Le Diberder, es gebe „ehrenwerte und gute Gründe“ für die Absage. Der WDR habe Arte einen Film übergeben, der „in wesentlichen Bestandteilen nicht dem von der Programmkonferenz genehmigten Projekt entspricht“. Arte sei zudem über „diese fundamentalen Änderungen bis unmittelbar vor Lieferung des Films bewusst im Unklaren“ gelassen worden. Le Diberder wies auch die Kritik zurück, die Ablehnung basiere auf bloß formalen Gründen. Es handele sich um „Verfahrensentscheidungen, die die editoriale Qualität und Verantwortung sicherstellen“, so der Programmdirektor. „Wir können nicht akzeptieren, dass ein Produzent und Autor eigenmächtig und ohne Absprache mit Arte versucht, sein Sujet frei zu wählen.“ Dies gelte grundsätzlich auch für alle Themen. Er sei betroffen, dass Arte Zensur vorgeworfen werden, so Le Diberder. Der Sender habe sich „wie kaum ein anderer Sender in Europa der Aufklärung über und dem Kampf gegen Antisemitismus und Antizionismus verschrieben“.

Wir können nicht akzeptieren, dass ein Produzent und Autor eigenmächtig und ohne Absprache mit Arte versucht, sein Sujet frei zu wählen.

Alain Le Diberder, Arte

Dem Nachrichtendienst epd erklärte Arte zudem: „Vereinbart war ein von zwei Koautoren erstelltes Panorama des Antisemitismus heute in Europa. Zum Großteil spielt aber der von einem einzigen Autor erstellte Film zwischen Berlin und dem Nahen Osten.“ Der FAZ gegenüber sagte der Sender, der Film konzentriere sich auf den Nahen Osten und nicht, wie gefordert, auf den Antisemitismus „in Norwegen, Schweden, Großbritannien, Ungarn und Griechenland“. Über die im Film erörterten europäischen Fördergelder im Nahen Osten habe Arte zudem bereits im Herbst 2015 eine Dokumentation ausgestrahlt. Eine Doublette habe vermieden werden sollen. Ohne die genannten Voraussetzungen und ohne den als Co-Autor vorgesehenen Ahmad Mansour schien der Film nicht mehr „ausgewogen“ zu sein. Mansour hatte sich zurückgezogen, als er Vater wurde, war aber noch als Berater tätig.

WDR überlegt noch

Im Übrigen teile laut Le Diberder auch der WDR diese Begründung – was der Sender in einer eigenen Stellungnahme auch bestätigte. Er hege „Zweifel an der journalistischen Qualität der Dokumentation“. Weiter teilte der WDR mit: „Wir prüfen derzeit intensiv, ob die Dokumentation den journalistischen Standards und Programmgrundsätzen des WDR entspricht. So enthält der Film zahlreiche Ungenauigkeiten und Tatsachenbehauptungen, bei denen wir die Beleglage zunächst nachvollziehen müssen.“ Grundsätzlich sei aber Interesse vorhanden, die Dokumentation zu veröffentlichen, sofern die darin getroffenen Behauptungen und Informationen belegt und journalistisch sorgfältig geprüft seien.

Nicht überzeugend

Ganz überzeugend ist diese doch sehr formalistische Begründung allerdings nicht: Schließlich hatten sich unter anderem die namhaften Historiker und Antisemitismus-Experten Michael Wolffsohn und Götz Aly für den Film ausgesprochen. Laut Bild hätten außerdem die Historiker Professor Monika Schwarz-Friesel von der TH Berlin und Samuel Schirmbeck den Film gelobt. Aly hatte in der Berliner Zeitung von Zensur gesprochen und den Vorwurf der Unausgewogenheit als „bizarr“ bezeichnet. Er nannte den Film eine „beachtliche und außerordentlich facettenreiche journalistische Leistung“. Wolffsohn nannte im Tagesspiegel den französischen Teil des Senders als mögliche Ursache, da man dort schneller „im vorauseilenden Gehorsam gegenüber dem islamistischen Terror einknickt“. Den Film nannte er „die mit Abstand beste und klügste und historisch tiefste, zugleich leider hochaktuelle und wahre Doku zu diesem Thema“.

Gerade jetzt müssen wir über Antisemitismus in Europa sprechen, berichten – und auch streiten!

Ahmad Mansour, Film-Berater

Auch der Film-Berater und Islamismus-Experte Mansour hatte die Bedeutung des Projekts hervorgehoben. Auf Facebook schrieb er: „Diese Reaktion von Arte finde ich inakzeptabel und bedenklich. Gerade jetzt müssen wir über Antisemitismus in Europa sprechen, berichten – und auch streiten!“ Weiter sagte Mansour: „Relativieren, verharmlosen und unter den Teppich kehren werden unsere Probleme nicht lösen, im Gegenteil, es mag sein, dass Bilder von Juden und Muslimen, die sich lieb haben, besser wirken als fragwürdige Boykott-Kampagnen unterstützt von den Kirchen oder judenfreie Orte in Europa. Aber Journalismus ist nicht da, um schöne Utopien zu schaffen, sondern reale Zustände zu beschreiben, auch wenn sie wehtun.“

Ausgewogen über Antisemitismus?

Fraglich bleibt außerdem, warum Arte die Dokumentation nicht einfach überarbeiten ließ, wenn man Bedenken hatte. Der Sender verweist jedoch auf den WDR als verantwortlichen Produzenten.

Im Tagesspiegel mutmaßte der Filmemacher Schroeder, Le Diberder hätte Angst, mit der Doku Muslime zu provozieren. Nun werde versucht, der zuständigen Redakteurin Sabine Rollberg die Schuld zuzuschieben. In der Bild-Zeitung erklärte Schroeder: „Es geht nicht um Ausgewogenheit. Wie soll ein Film über Antisemitismus ‚ausgewogen‘ sein?“ Offensichtlich schrecke der deutsch-französische Sender davor zurück, Judenhass in Frankreich und Deutschland zu benennen.