Dritte bundesweite Sammelabschiebung mit dem Flugzeug von München aus. (Bild: Imago/epd/Lukas Barth)
Afghanistan

Debatte um Abschiebungen

Die Debatte über Abschiebungen nach Afghanistan nimmt nach einem Anschlag in der Stadt Kabul und Tumulten an einer Nürnberger Berufsschule am Mittwoch neue Fahrt auf. Der BAYERNKURIER gibt Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Was ist in Kabul geschehen?

Bei einem Bombenanschlag in unmittelbarer Nähe der deutschen Botschaft in der afghanischen Hauptstadt Kabul sind am Mittwoch mindestens 90 Menschen getötet worden. Rund 460 Menschen wurden verletzt, teilte das Informationszentrum der Regierung in Kabul mit. Das Hauptgebäude der deutschen Botschaft wurde massiv beschädigt. Ob sie das Ziel des Anschlags war, blieb unklar. In dem Viertel liegen noch viele andere Botschaften, der Präsidentenpalast, das Nato-Hauptquartier und viele afghanische Ministerien. Zunächst bekannte sich keine Gruppe zu dem Anschlag.

Was war in Nürnberg los?

Die Polizei ist laut Bayerns Innenminister Joachim Herrmann zunächst zurückhaltend vorgegangen, als sie noch vor Unterrichtsbeginn in die Schule kam, um einen 20-jährigen Afghanen abzuholen. Bei der Begleitung aus dem Schulgebäude habe es zunächst keinerlei Widerstand des 20-Jährigen gegeben. Eine Gruppe von Schülern habe dann mit einer Sitzblockade und einer spontanen Demonstration versucht, die Abschiebung des afghanischen Mitschülers zu verhindern. Als die Streifenbeamten daraufhin Verstärkung anforderten, kam es zu tumultartigen Szenen. Neun Polizisten wurden verletzt, fünf Personen vorübergehend festgenommen.

In einem Monat bin ich wieder hier und bringe Deutsche um.

Der abgeschobene afghanische Berufsschüler

Herrmann schilderte, dass der Afghane während seines Abtransports nach den Aussagen mehrerer Polizeibeamter wörtlich damit gedroht habe: „In einem Monat bin ich wieder hier und bringe Deutsche um.“ Herrmann dazu: „Wer sich so äußert und wer sich von Anfang an weigert, an der Klärung seiner Identität mitzuwirken, darf keine Perspektive in Deutschland haben und hat jegliche Aussicht auf Duldung selbst verspielt.“

Wer hat in Nürnberg demonstriert?

Herrmann macht für den Polizeieinsatz die linksautonome Szene verantwortlich. „Nach den mir vorliegenden Berichten haben Personen aus der linkextremistisch-autonomen Szene gezielt die Polizei angegriffen“, erklärte Herrmann. Zunächst sei der Polizeieinsatz völlig friedlich verlaufen.

Von friedlichen Demonstranten kann man wohl kaum mehr sprechen, wenn ein aggressiver Mob zehn Polizisten verletzt.

Joachim Herrmann, Bayerischer Innenminister

„Erst als sich die linksautonomen Chaoten unter die Schüler mischten und die Polizei unter anderem mit Fahrrädern und Flaschen bewarfen, ist die Situation eskaliert“, so der Minister weiter. „Von friedlichen Demonstranten kann man wohl kaum mehr sprechen, wenn ein aggressiver Mob zehn Polizisten verletzt und einem Beamten sogar ein Zahn ausgeschlagen wird. Klar ist auch, dass die Polizei die gewalttätigen Versuche, den festgenommenen Asylbewerber zu befreien, unterbinden muss, zur Not auch mit Zwangsmitteln.“ Einer der Verhafteten sei ein polizeibekannter Linksextremist aus dem türkisch-kurdischen Bereich.

„Für mich ist klar: Der Versuch, Polizistinnen und Polizisten mit Flaschen und schweren Gegenständen zu treffen und deren lebensgefährliche Verletzung in Kauf zu nehmen, hat nichts mit friedlichem Protest zu tun“, teilte auch Michael Frieser (CSU), MdB aus Nürnberg, mit. Er schreibt: „Zehn verletzte Polizisten sind das Ergebnis eines angeblichen Einsatzes im Sinne der Menschenrechte, obwohl sie unseren Dank verdient haben. Der Rechtstaat muss in solchen Fällen ein klares Stopp-Schild aufzeigen.“

Was sagt die Polizei?

Dazu hat sich die Polizei Mittelfranken am Mittwochabend ausführlich geäußert. Ein Auszug aus dem Statement: „So ein Vollzug (eine Abschiebung, Anm. d. Red.) ist in vielen Fällen schon ohne Probleme abgelaufen, meistens gibt es auch mit den Betroffenen keinerlei Schwierigkeiten. Sie werden nämlich schon lange vorher darüber informiert, dass sie abgeschoben werden müssen. Das war auch heute so. Und deshalb war es auch für den 20-jährigen Schüler der Berufsschule keine Überraschung mehr. Dass der Einsatz so aus dem Ruder gelaufen ist, konnten wir natürlich vorher nicht wissen. Ihr könnt euch aber sicher sein, dass wir in unserer Behörde natürlich diesen Einsatz noch einmal genau betrachten und besprechen.“

Warum sollte der Mann abgeschoben werden?

Die Regierung von Mittelfranken und das Innenministerium teilten inzwischen Einzelheiten zum Fall mit: Der Afghane habe die bayerischen Ausländerbehörden jahrelang systematisch getäuscht. Der Asylantrag des 2012 in Deutschland illegal eingereisten Asylbewerbers sei vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) am 1. Oktober 2013 abgelehnt worden. Die gewährte Ausreisefrist sei am 3. November 2013 geendet. Dieser Ausreisepflicht sei er nicht nachgekommen. Wegen fehlender Identitätsdokumente und anfangs auch wegen der Minderjährigkeit habe man die Abschiebung  deshalb vorübergehend ausgesetzt und den Aufenthalt in Deutschland geduldet.

Insgesamt achtmal habe man ihn aufgefordert, sich für die Rückführung in sein Heimatland einen afghanischen Pass zu beschaffen. Das habe er jedes Mal abgelehnt, berichtete der mittelfränkische Regierungspräsident, Thomas Bauer, am Donnerstag. Als der junge Afghane schließlich im März eine Aufenthaltserlaubnis beantragt habe, habe er zur Überraschung der Zentralen Ausländerbehörde eine bereits im Jahr 2007 ausgestellte „Tazkira“ (Identitätskarte) vorgelegt. Diese Tazkira hatte er der Ausländerbehörde trotz der mehrfachen Aufforderungen zuvor nicht ausgehändigt. Damit sei klar geworden, dass der Mann die Behörden in der Passfrage seit Jahren getäuscht habe. „In dem Sinne ist das eine Straftat“, unterstrich Bauer.

Was ist aus dem Afghanen geworden, der zur Abschiebung anstand?

Eigentlich hätte der Mann noch am selben Abend nach Kabul fliegen sollen, doch der Flug wurde wegen des Anschlags dort verschoben. Eine Nacht musste er in Polizeigewahrsam verbringen, nun ist er wieder auf freiem Fuß. Am Donnerstagmittag hat ein Richter den Beschluss erlassen: Im Fall des jungen Afghanen ist Abschiebehaft unangemessen, das bestätigt der Anwalt des Mannes gegenüber der dpa. Am Freitag lehnte das Landgericht die Beschwerde der Regierung von Mittelfranken gegen den Beschluss des Amtsgerichts ab. Ob der 20-Jährige in Deutschland bleiben darf, ist aber weiter unklar.

Wie reagiert die Politik auf die Situation?

Nach dem schweren Terroranschlag in Kabul will die Bundesregierung Afghanen vorerst nur in begrenzten Fällen in deren Heimat zurückschicken. Das Auswärtige Amt werde zunächst eine Neubewertung der Sicherheitslage vornehmen, sagte Kanzlerin Angela Merkel. Bis diese vorliege und die deutsche Botschaft in Kabul wieder voll funktionsfähig sei, solle es Abschiebungen nach Afghanistan nur in bestimmten Fällen geben. Ausgenommen seien Straftäter und „Gefährder“ – also Menschen, denen die Sicherheitsbehörden einen Terrorakt zutrauen. Auch für Menschen, die hartnäckig ihre verweigerten, gelte das Abschiebemoratorium nicht, sagte die Kanzlerin. Das neue Lagebild solle bis Juli vorliegen.

(dpa/PM)