Immer mehr Flüchtlinge versuchen, ihren Anspruch auf Asyl vor Gericht einzuklagen. (Foto: Imago/Christian Ohde)
Asyl

Die zweite Verfahrenswelle

Aus dem BAYERNKURIER-Magazin: Immer häufiger ziehen abgelehnte Asylbewerber vor Gericht. Für die Justiz bedeutet die Prozessflut eine immense Mehrbelastung. Und selbst nach einer abgewiesenen Klage bleiben viele Flüchtlinge im Land – unberechtigterweise.

Vielleicht ist der junge Mann naiv, vielleicht ist er einfach nur ehrlich. „Das Leben im Senegal ist sehr schwer“, sagt er. „Das ist mein Problem.“ Sein Problem ist, dass er mit dieser Antwort bereits verloren hat. Warum er in Deutschland einen Antrag auf Asyl gestellt habe, wollte die Richterin am Münchner Verwaltungsgericht von ihm wissen. Serigne Abdou Thiam, so heißt der junge Afrikaner, berichtet ihr ausführlich von seinem Schicksal: Sein Vater, der mehrere Frauen hatte, war gestorben. Als ältester Sohn wollte er die Familie ernähren. Doch das wurde im Senegal zunehmend schwieriger. Deshalb machte er sich auf den Weg nach Marokko. Vier Jahre arbeitete er dort als Goldschmied. Er erzählt von Problemen mit Polizisten. Die nahmen ihm Ware weg, wenn er ihnen kein Geld gab. 2014 kam er dann über Spanien, Frankreich und Belgien in die Bundesrepublik. „Ich möchte in Deutschland bleiben“, appelliert er an die Richterin. Die wird über seinen Asylantrag genauso entscheiden, wie es bereits das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) getan hat: Sie wird ihn als offensichtlich unbegründet ablehnen.

Die Hälfte der abgelehnten Asylbewerber klagt

Wenn über Asylanträge in Deutschland gesprochen wird, richtet sich die Aufmerksamkeit meist auf die Verfahren beim BAMF. Was dabei allerdings unberücksichtigt bleibt: Nur bei einer Anerkennung ist der Fall erledigt. Jeder abgelehnte Bewerber kann vor ein Verwaltungsgericht ziehen und gegen die Entscheidung klagen. Etwa die Hälfte der negativen Bescheide wird vor Gericht angefochten.

Wir erwarten, dass die Zahl drastisch weiter steigt, sind aber jetzt an den Grenzen unserer Belastung angekommen.

Andrea Breit, Präsidentin des Verwaltungsgerichts München

Mit einiger zeitlicher Verzögerung nach der Flüchtlingswelle des vergangenen Jahres erreichen jetzt die Klagen abgelehnter Asylbewerber die Justiz. Allein in Bayern mussten die Verwaltungsgerichte im vergangenen Jahr mehr als 11.000 Verfahren abarbeiten, eine Zunahme um über 50 Prozent gegenüber 2014. Am Verwaltungsgericht München stieg die Zahl der Klagen und Eilanträge von gut 2.000 im Jahr 2014 auf knapp 2.700 im vergangenen Jahr. „Wir erwarten, dass die Zahl drastisch weiter steigt, sind aber jetzt an den Grenzen unserer Belastung angekommen“, warnt die Präsidentin des Verwaltungsgerichts München, Andrea Breit. Mit bis zu 16.000 Verfahren in ganz Bayern in diesem Jahr rechnet der Präsident des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, Stephan Kersten.

Die Staatsregierung hat auf die gewaltige Mehrbelastung bereits reagiert und 26 zusätzliche Richterstellen bewilligt. Sechs davon kommen ans Gericht in München. Insgesamt arbeiten damit 275 Berufsrichter an den bayerischen Verwaltungsgerichten.

Ein Routinefall kostet einen Tag Arbeit

Für die Juristen stellen die Klagen einen enormen Aufwand dar. Selbst mit durchschnittlichen Fällen ist ein Richter in Summe etwa einen Tag lang beschäftigt. Aber die Sachverhalte, mit denen sie sich beschäftigen müssen, werden zunehmend komplexer. Längst geht es nicht mehr nur darum, die vorgebrachten Asylgründe zu bewerten. Immer öfter spielt auch der Gesundheitszustand des Flüchtlings eine Rolle. Zudem müssen sich die Richter mit einer ständig wachsenden Zahl von Herkunftsländern und den dort herrschenden Zuständen befassen.

Dazu kommt, dass die Richter viele Verhandlungen führen müssen, zu denen es gar nicht hätte kommen brauchen. So dürfen Asylbewerber, deren Anträge das BAMF als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt hat, etwa weil sie aus sicheren Herkunftsländern stammen oder weil sie aus eindeutig wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland gekommen sind, sofort in das Heimatland zurückgeführt werden. Lediglich einen Eilantrag bei Gericht könnte die drohende Abschiebung noch abwenden. Ähnlich verhält es sich bei den Dublin-Fällen, also bei Asylbewerbern, für die ein anderes EU-Land zuständig ist. Auch ihre Fälle müssen eigentlich nicht in Deutschland verhandelt werden.

Atteste gegen die Abschiebung

Manchmal stehen der Ausreise eines abgelehnten Bewerbers gewichtige Gründe im Weg. So wird niemand in ein Kriegsgebiet abgeschoben. Auch drohende Folter oder die Todesstrafe verhindern eine Abschiebung. Nicht einmal jedes europäische Land kommt als Ziel in Frage. Griechenland ist seit 2011 faktisch aus dem Dublin-System ausgeschieden. Nach wie vor fehlt dort die Infrastruktur zur Durchführung fairer Asylverfahren. Nach Italien wurden zweitweise keine Familien überstellt, weil deren Unterbringung nicht gesichert war. Und eine Abschiebung nach Ungarn hat vor kurzem der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg kassiert, mit der Begründung ein Asylverfahren sei dort „nicht zumutbar“. Zudem kommt es immer wieder vor, dass beim BAMF geltende Fristen, etwa für die Überstellung von Dublin-Fällen, versäumt werden. Die Behörde sitzt auf einem Berg von mehr als 500.000 nicht bearbeiteten Anträgen. Im Schnitt dauert es länger als sechs Monate bis eine Entscheidung fällt.

Je länger die Bewerber bereits in Deutschland sind, desto genauer sind sie meist darüber informiert, welche Asylgründe stichhaltig sind.

Florian Huber, Richter

Besonders häufig werden die Migranten selbst aktiv, um ihre Ausreise zu verhindern. Regelmäßig sind sie dann für die Behörden nicht auffindbar oder sie legen Atteste vor, die ihnen eine körperliche oder psychische Erkrankung bescheinigen. Bekanntestes Beispiel: der Attentäter von Ansbach. Als der Syrer im August 2014 seinen Asylantrag stellte, ergab der Abgleich seiner Fingerabdrücke, dass er bereits in Bulgarien und Österreich registriert worden war und ihm Bulgarien bereits im Dezember 2013 Schutz als Kriegsflüchtling gewährt hatte. Das BAMF lehnte darauf sein Asyl-Gesuch als unzulässig ab und erließ einen Abschiebe-Bescheid nach Bulgarien. Doch der Syrer klagte gegen die Abschiebung und präsentierte Gutachten, die seine vermeintliche Reiseunfähigkeit nachwiesen. Von zwei Selbstmordversuchen war darin die Rede. Das BAMF nahm seine Anordnung zurück, der Mann konnte als geduldeter Flüchtling in Deutschland bleiben.

Unterstützer liefern Fluchtgründe

Ärztliche Atteste sind nur eines der Mittel, mit denen Asylbewerber vor Gericht eine Abschiebung verhindern wollen. Regelmäßig präsentieren sie auch vollkommen neue Argumente für ihren Asylantrag. „Je länger die Bewerber bereits in Deutschland sind, desto genauer sind sie meist darüber informiert, welche Asylgründe stichhaltig sind“, erzählt Florian Huber, Richter und Pressesprecher am Münchner Verwaltungsgericht. Eine Vielzahl von Unterstützern hilft Asylbewerbern dabei, Fluchtgründe im Nachhinein zu konstruieren. So bringen Senegalesen häufig ihre angebliche Homosexualität vor, weil diese im Heimatland unter Strafe steht. Albaner fühlen sich besonders oft von Blutrache bedroht.

Einen neuen Fluchtgrund präsentiert auch der junge Eritreer, dessen Fall ebenfalls in München verhandelt wird. Bei seiner Anhörung vor dem BAMF hatte er erklärt, er wolle gerne in einer Demokratie leben. Sein Antrag wurde als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt. Vor Gericht erzählt er eine ganz andere Geschichte. Er habe sein Land verlassen müssen, weil er zum Militär verpflichtet werden sollte. Der zeitlich nicht befristete Militärdienst in Eritrea wird immer wieder als Asylgrund anerkannt. Doch der junge Mann hat keine Beweise für seine Aussage. Und auf die Frage der Richterin, warum er das erst jetzt vorbringt, weiß er keine Antwort.

Katz- und Mausspiel mit den Behörden

Ob er trotz seines aussichtslosen Asylbegehrens Deutschland wieder verlassen wird, ist mehr als fraglich. Wie viele andere Flüchtlinge ist auch er ohne Papiere eingereist. Und wie in vielen anderen Fällen könnte genau daran seine Abschiebung scheitern. Denn nach einer abgewiesenen Klage beginnt häufig das, was Gerichtssprecher Huber, als „Katz und Maus-Spiel“ mit den ausländischen Behörden bezeichnet. Das Herkunftsland müsste dem abgelehnten Asylbewerber neue Papiere ausstellen und ihn zurücknehmen. Doch dabei zeigen sich viele Länder äußerst unkooperativ. Sie zweifeln die Herkunft des Flüchtlings an oder errichten kaum überwindbare Hürden. So verlangen manche Staaten drei Zeugen, die die Staatsangehörigkeit bestätigen müssen. Der Iran fordert von den abgewiesenen Asylbewerbern eine Erklärung, sie würden freiwillig zurückkehren. Natürlich unterschreibt die so gut wie niemand.

Mehr als 50.000 Flüchtlinge müssten ausreisen

Laut Aussage des bayerischen Innenministeriums weigern sich auch nordafrikanische Staaten wie Marokko und Tunesien regelmäßig, für ihre Staatsbürger neue Dokumente auszugeben. In Bayern ist die Regierung von Oberbayern für die Passbeschaffung zuständig. In den ersten fünf Monaten dieses Jahres haben die Beamten 770 Anträge auf neue Ausweisdokumente gestellt. Erfolgreich waren sie bisher nur in 300 Fällen.

Manchmal sehen wir erfolglose Asylkläger Jahre später wieder vor Gericht.

Florian Huber, Richter

Fast 220.000 „ausreisepflichtige Ausländer“ leben derzeit in Deutschland, davon sind fast 170.000 geduldet. Es gibt aber auch 51.000 „unmittelbar ausreisepflichtige Ausländer“, die dennoch das Land nicht verlassen. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann hat unter dem Eindruck der von Flüchtlingen verübten Attentate von Würzburg und Ansbach eine Reihe von Vorschlägen unterbreitet, wie die Zahl der Ausweisungen erhöht werden kann. So dürfe eine Abschiebung in ein Krisengebiet kein Tabu mehr sein – vor allem für straffällige Flüchtlinge. Als Beispielland nannte Herrmann Afghanistan. In diesem Land gebe es Gebiete, in denen „ein Aufenthalt zumutbar ist“. Eine Abschiebung solle auch nicht mehr so leicht an medizinischen Gründen scheitern. Herrmann schlägt vor, eingereichte Atteste durch Amtsärzte überprüfen zu lassen. Zudem verlangt Bayerns Innenminister, wer ohne Papiere einreist und seine Identität nicht belegen kann, der müsse zunächst an der Grenze festgehalten und überprüft werden. Das jetzige Prozedere könne man „nicht mehr so laufen lassen“, betont Herrmann.

Viele Urteile bleiben ohne Folgen

Die Juristen am Münchner Verwaltungsgericht erfahren nicht, was aus ihren Fällen wird. Über das weitere Schicksal des Klägers bekommen sie keine Auskunft. „Manchmal sehen wir erfolglose Asylkläger Jahre später wieder vor Gericht“, erzählt Huber, „Etwa wenn es um die Klärung eines Aufenthaltsstatus geht. Spätestens dann wissen wir, dass ein Asylurteil ohne Konsequenzen geblieben ist.“