Edmund Stoiber, CSU-Ehrenvorsitzender und ehemaliger bayerischer Ministerpräsident. (Bild: Imago/Sebastian Widmann)
Stoiber-Kolumne

Europa braucht wieder mehr Leidenschaft

Gastbeitrag Aus dem aktuellen BAYERNKURIER-Magazin: Der Ehrenvorsitzende der CSU, Edmund Stoiber, verlangt von der Europäischen Union, dass sie sich auf die großen Themen konzentriert: Frieden, Freiheit und Wohlstand. Ein Konvent soll über die neue Aufgabenverteilung befinden.

Das Abstimmungsverhalten der Briten hat mich überrascht und betroffen gemacht. Noch am Abend des Brexit-Referendums war ich – wie viele andere – überzeugt davon, dass die Gegner eines Austritts Großbritanniens aus der Europäischen Union die weitaus besseren Argumente haben und in der Mehrheit sind. Genauso überrascht war ich allerdings von den prompten Reaktionen aus Brüssel am nächsten Morgen, denen der Austritt nun anscheinend nicht schnell genug gehen konnte. Das EU-Parlament hat sogar den Bericht des britischen Premierministers am 28. Juni im Europäischen Rat als Austrittserklärung interpretieren wollen. Solche vorschnellen Reaktionen halte ich für grundfalsch. So kann man mit den Briten als großes stolzes Volk nicht umgehen. Das Land braucht Zeit, um sich neu sortieren zu können. Da sollte niemand einfach aus Verbitterung oder Wut den Druck noch erhöhen. Großbritannien muss ein enger Partner der EU bleiben, sowohl in wirtschaftlicher Hinsicht als auch in außen- und sicherheitspolitischen Fragen.

Europa kann besser gemacht werden

Bei aller Betroffenheit über das Ergebnis: Wenn die EU-Institutionen den Weckruf aus London verstanden haben, besteht eine große Chance, die EU besser zu machen. Fakt ist: Die Brexit-Befürworter haben mit den Themen Zuwanderung und Brüsseler Regulierung emotional mobilisiert, während David Cameron vor allem auf die wirtschaftlichen Nachteile eines Austritts hingewiesen hat. Es stand die Leidenschaft der Europagegner gegen die nüchternen Argumente der Europabefürworter. Und die Leidenschaft hat gewonnen. Daraus muss die EU lernen, dass wir den Menschen die Faszination Europa mit Überzeugungskraft und Empathie wieder näherbringen müssen. Warum wollen denn so viele Migranten nach Europa? Warum ist die EU ein „gelobtes Land“ und Anziehungspunkt für Menschen aus der ganzen Welt? Weil Europa für Frieden, Freiheit und Wohlstand steht.

Das alte Narrativ – Europa als Hort des Friedens, der Freiheit und der Sicherheit – ist auch heute hochaktuell.

Edmund Stoiber

Europa ist eine Stabilitätsinsel in einer zunehmend unfriedlichen Welt. Wir müssen aber mit aller Leidenschaft gerade den jungen Menschen klar machen, dass dieser Zustand keine Selbstverständlichkeit ist. Tagtäglich erfahren wir doch jeden Tag von Unterdrückung, Krieg und Leid in der Welt. Frieden und Freiheit müssen immer wieder aufs Neue gegen Anfeindungen verteidigt und erneuert werden. Das alte Narrativ – Europa als Hort des Friedens, der Freiheit und der Sicherheit – ist auch heute hochaktuell.

Die EU-Zustimmung steigt

Ich bin froh, dass Umfragen zufolge nur 11 Prozent der Deutschen EU-skeptisch sind. Auch in anderen europäischen Ländern ist die Zustimmung zur EU nach dem Brexit-Votum deutlich gestiegen. Das ist aber nur eine Momentaufnahme. Wir müssen die Faszination und Leidenschaft für Europa endlich auch stärker den breiten Bevölkerungsschichten, insbesondere den sprichwörtlichen „kleinen Leuten“ vermitteln. Europa ist als reines Projekt der polyglotten Eliten auf Dauer nicht überlebensfähig. Natürlich ist es völlig richtig darauf hinzuweisen, dass die EU wirtschaftliche Vorteile z.B. im globalen digitalen Wettbewerb gegenüber den USA und Asien bietet. Eine rein ökonomische Debatte reicht aber nicht aus, um auch die Herzen der bildungsferneren Schichten zu erreichen. Viele Briten, besonders die einfachen Arbeiter, hatten nicht das Gefühl, dass das Wohlstandsversprechen der EU auch für sie gilt. Sie bringen die EU in erster Linie mit unkontrollierter Zuwanderung und Bürokratie in Verbindung. Deshalb stimmten sie – anders als die Eliten der City of London – für den Brexit.

Jedes Jahr kommen 1000 neue Verordnungen

Leidenschaft kann Europa vor allem bei den großen Themen vermitteln: Frieden, Freiheit, Sicherheit. Das sind die Themen, die die Menschen emotional berühren und die kein Land alleine lösen kann. Europa muss Antworten geben beim Schutz der inneren und äußeren Sicherheit und der Bewältigung der Flüchtlingskrise. Dagegen hat sich die EU bei den kleinen Fragen zurückzuhalten, die die Mitgliedstaaten auf nationaler oder regionaler Ebene selber regeln können.

Die CSU hat in ihrem Europaplan 2014 die richtigen Antworten gegeben: Ein Europa, das sich auf die großen europäischen Herausforderungen konzentriert, zugleich aber mehr die Länder und Regionen respektiert.

Edmund Stoiber

Es sind nämlich genau diese kleinen Dinge, die den Menschen negativ aufstoßen. Heute haben 85 Prozent aller neuen nationalen Regulierungen ihren Impuls aus Brüssel. Die EU erlässt jedes Jahr über 1000 Verordnungen. Immer wieder versucht sich die EU-Kommission Kompetenzen anzumaßen, wie etwa bei der europäischen Einlagensicherung. Das regt die Bürger zu Recht auf. Für einen so schwerwiegenden Vorgang, deutsche Sparer für die Sparer aller anderen Länder haften zu lassen, braucht es mehr als die allgemeine Binnenmarktklausel des Artikel 114, sondern eine konkrete Ermächtigung des europäischen und deutschen Parlaments.

Brüssels Entscheidungen bleiben fremd

Wir brauchen eine neue Balance zwischen den Kompetenzen der EU und der Nationalstaaten. Wir müssen zurückkehren zu einer konsequenten Beachtung des Subsidiaritätsprinzips, das bereits 1992 im Vertrag von Maastricht verankert wurde, das im Laufe der Zeit aber immer stärker in Vergessenheit geraten ist. Die CSU hat in ihrem Europaplan 2014 die richtigen Antworten gegeben: Ein Europa, das sich auf die großen europäischen Herausforderungen konzentriert, zugleich aber mehr die Länder und Regionen respektiert. Denn: Auch fast 60 Jahre nach Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1957 sind die meisten Menschen in erster Linie in ihrer Nation oder Region verwurzelt, nicht in Europa. Sie fühlen sich in erster Linie als Deutsche, Franzosen, Polen oder Spanier. Das liegt auch daran, dass sie die politischen Prozesse im eigenen Land viel stärker nachvollziehen können. Hingegen durchblicken nicht viele Bürger, wie die Entscheidungen im bürgerfernen Brüssel zustande kommen. Politikfelder wie der Umwelt- und Verbraucherschutz, Katastrophenschutz und das Arbeits- und Gesellschaftsrecht können in manchen Punkten auf die nationale Ebene zurück verlagert werden, ohne dass Europa und der Binnenmarkt Schaden nähme.

Reden und Handeln klaffen auseinander

Ich rege an, dass sich ein Konvent aus Abgeordneten der nationalen Parlamente und des Europäischen Parlaments Gedanken über die Konkretisierung des Subsidiaritätsprinzips macht. Dazu braucht es nicht unbedingt Änderungen der Europäischen Verträge, sondern eine Beschränkung der EU, nicht alles zu regeln, was sie kann. Kommissionspräsident José Manuel Barroso sagte voller Überzeugung in seiner letzten Rede im Europäischen Parlament 2014 in Straßburg: Wir müssen die großen Fragen klären und haben zu viel kleine Dinge mit Detailversessenheit geregelt. So hat das auch Ratspräsident Donald Tusk in diesen Tagen formuliert. Barrosos Nachfolger Jean-Claude Juncker ist der gleichen Auffassung. Aber konkrete Vorschläge, wie sie zum Beispiel 2013 der niederländische Außenminister Frans Timmermans – heute Erster Vizepräsident der EU-Kommission – vorgelegt hat, macht nach dem Brexit-Votum keiner von ihnen. Das ist unser Problem des Auseinanderklaffens von Reden und Handeln.