20 Schädel von Opfern des Völkermords an Herero und Nama wurden vor über 100 Jahren zu Forschungszwecken in die Charité in Berlin gebracht. 2011 wurden die Schädel nach einem Gottesdienst offiziell zur Bestattung an Namibia übergeben. (Foto: Sabine Gudath/imago)
Völkermord an den Herero

Keine Nachhilfe aus der Türkei nötig

Deutschland hat sich lange schwergetan, den Völkermord an den Herero und Nama im damaligen Deutsch-Südwestafrika 1904 als solchen anzuerkennen. Das kann man kritisieren. 75.000 bis 90.000 Menschen kamen damals ums Leben. Aber ob Deutschland ausgerechnet Nachhilfe in Geschichts-Aufarbeitung vom Bosporus-Diktator Erdogan benötigt? Der leugnet den Völkermord der Osmanen an den Armeniern noch immer.

Die Bundesregierung will die Massaker deutscher Truppen vor mehr als 100 Jahren im heutigen Namibia künftig als „Völkermord“ bezeichnen. Dazu ist nach Angaben des Auswärtigen Amts eine gemeinsame Erklärung mit Namibia geplant, dem ehemaligen Deutsch-Südwestafrika. Demnach gilt für die Bundesregierung künftig der Satz: „Der Vernichtungskrieg in Namibia von 1904 bis 1908 war ein Kriegsverbrechen und Völkermord.“ Diese Formulierung stammt aus einem Antrag, den Außenminister Frank-Walter Steinmeier 2012 als SPD-Fraktionschef in den Bundestag eingebracht hatte. Der Sprecher des Auswärtigen Amts, Martin Schäfer, sagte, dies sei „politische Leitlinie“ und auch Grundlage für die laufenden Gespräche mit Namibia.

Der Ministeriumssprecher ließ offen, ob es auch eine förmliche deutsche Entschuldigung geben wird. Die Bundesregierung bekenne sich aber ausdrücklich zur „besonderen historischen Verantwortung Deutschlands gegenüber Namibia und seinen Bürgern“. Zum Stand der Verhandlungen sagte er: „Die Gespräche laufen sehr konstruktiv und sind gut vorangekommen, aber noch nicht abgeschlossen.“ Darin geht es neben der Frage der Anerkennung auch um finanzielle Entschädigung.

Lammert kritisiert Versäumnisse der Regierung

Diese Einsicht der Bundesregierung kommt spät. Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) hat politische Versäumnisse im Umgang mit den deutschen Kolonialverbrechen im früheren Deutsch-Südwestafrika bedauert. Dass es dazu keine „unmissverständliche Erklärung auf deutscher Seite gibt, finde ich bedauerlich und im Kontext der jüngeren Auseinandersetzungen auch ein bisschen peinlich“, sagte Lammert im ZDF. In der „Zeit“ schrieb Lammert: „An den heutigen Maßstäben des Völkerrechts gemessen war die Niederschlagung des Herero-Aufstands ein Völkermord.“

Lammert sagte, dass Deutschland und Namibia die Ereignisse von 1904 längst gemeinsam aufarbeiteten. „Ich habe die begründete Zuversicht, dass wir hier in absehbarer Zeit zu einem Ergebnis kommen“, sagte er. Dazu werde dann auch „eine Erklärung des Bundestags zu den damaligen Ereignissen“ gehören. Lammert hatte die Verbrechen in „Deutsch-Südwest“ bereits im Juli 2015 als „Völkermord“ bezeichnet.

Namibia könnte nach 100 Jahren Reparationen fordern

Grünen-Chef Cem Özdemir begrüßte die Äußerungen von Bundestagspräsident Lammert. „Der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts wurde durch die Deutschen im heutigen Namibia an den Herero und Nama begangen“, erklärte Özdemir. „Es ist höchste Zeit, dass sich die Bundesrepublik ihrer historischen Verantwortung stellt und das Verbrechen beim Namen nennt. Deswegen freue ich mich über die klare Haltung des Bundestagspräsidenten.“ Auch Zedika Ngavirue, der Sonderbeauftragte Namibias für die Verhandlungen mit Deutschland, betonte, sein Land erwarte, „dass der Völkermord erstens anerkannt wird und dass sich Deutschland zweitens dafür entschuldigt. Und dann wollen wir zum dritten, zum wichtigsten Punkt kommen: der Frage der Reparationen.“ Entschädigungsforderungen, das war es, was die Deutschen all die Jahre fürchteten – und auch die Türken gegenüber den Armeniern.

Deutschland zählte das heutige Namibia von 1884 bis 1915 unter dem Namen Deutsch-Südwestafrika zu seinen Kolonien. Als die Herero 1904 einen Aufstand begannen und 123 Deutsche ermordeten, ordnete General Lothar von Trotha die Vernichtung des Stammes an. Deutsche Truppen schlugen 1904 in der Kolonie – dem heutigen Namibia – diese Aufstände der Einheimischen brutal nieder und trieben die Überlebenden in die Wüste, die sie anschließend abriegelten. Geschätzt 60.000 Angehörige des Herero-Volks und 10.000 Nama wurden getötet. Die Kolonialherrschaft ging vor fast genau 100 Jahren am 9. Juli 1915 im Ersten Weltkrieg zu Ende.

Der „beleidigte Sultan“ zeigt sich trotzig

Die Debatte über die deutschen Verbrechen im heutigen Namibia war durch die Resolution des Bundestags neu angefacht, in der der Genozid der Osmanen an einer Million Armeniern als Völkermord bezeichnet wurde. Dabei wird klar, dass Deutschland in Sachen Aufarbeitung der Geschichte und eigener historischer Schuld ganz gewiss keine Nachhilfe von Despoten wie dem türkischen Präsidenten Erdogan benötigt. Der „beleidigte Sutan“ hatte nach der Armenien-Resolution des Bundestages auf das Thema Herero verwiesen. Dabei stellte Erdogan mit Blick auf die Armenien-Resolution klar: „Wir werden die Anschuldigung eines Völkermords niemals akzeptieren.“

Mit Hinweis auf die Verbrechen in Deutsch-Südwestafrika sprach Erdogan den deutschen Abgeordneten das Recht zur Kritik an den Massakern an Armeniern im Osmanischen Reich ab. Erdogan sagte sogar, Deutschland sei „das allerletzte Land“, das über einen „sogenannten Völkermord“ der Türkei abstimmen solle, sagte er. Zunächst solle Deutschland Rechenschaft über den Holocaust und über die Vernichtung von (vermutlich großzügig aufgerundeten) „mehr als 100.000 Herero“ ablegen, so Erdogan.

FAZ: Nicht miteinander vergleichbar

Dass der heutige Umgang der Nachkommen der Urheber der beiden Völkermorde – Osmanischen Reichs an den Armeniern und der des Deutschen Reichs an Herero und Nama – allerdings nicht miteinander vergleichbar sind, darauf verweist die FAZ in einem Kommentar. So komme es einmal darauf an, dass sich das Geschehene nicht wiederholen könne – was im Fall von Deutschland und Südwest-Afrika komplett ausgeschlossen ist, aber sich im Fall der Türken und Kurden gerade derzeit in überaus blutiger Form wiederholt.

Zweitens, so der Kommentator, komme es darauf an, ob jemand Leid und Verantwortung in Frage stelle. Auch dies ist im Fall Deutschlands und Südwestafrikas keineswegs der Fall, während die Türkei aktive und aggressive Geschichtsklitterung betriebt, das Geschehene und die eigene Verantwortung immer wieder aufs Neue leugnet. Und drittens, so die FAZ, könne es um Entschädigungszahlung gehen. Im Fall Namibias könnte dieses Thema demnächst auf die deutsche Tagesordnung kommen. Eine Forderung von Armeniern nach Entschädigungen von Seiten der Türkei wäre angesichts des aggressiven Tons aus Ankara komplett absurd und aussichtslos.

Spiegel: Zweifel an der Geschichte

Im aktuellen Spiegel werden Zweifel an der Geschichte des Hereroaufstandes geäußert. So stamme die bis heute gültige Version von einem marxistischen DDR-Historiker namens Horst Drechsler, dem es darum gegangen sei, den Kolonialismus zu geißeln und die Schuld an Verbrechen dem Westen unterzuschieben. Drechsler berief sich danach auf das britische „Blue Book“ von 1918, dessen historischer Wert allerdings minimal ist, da es (gegen Ende des Ersten Weltkrieges) den Deutschen als besonders grausam darstellen sollte. 1926 ließ die britische Regierung das Buch einstampfen. Alle Historiker hätten dennoch Drechslers These übernommen.

Angezweifelt wird nach Auswertung verschiedener Aufzeichnungen durch den namibischen Historiker Hinrich Schneider-Waterberg wie von Trothas Tagebuch sowie des Sanitätsberichts der kaiserlichen Schutztruppe dabei insbesondere, dass die deutsche Kolonialtruppe überhaupt in der Lage war, um die riesige Wüste abzuriegeln. Sie sei zahlenmäßig viel zu klein und durch die entscheidende Schlacht am Waterberg auch noch dezimiert und abgekämpft gewesen. Es waren danach nur noch 2000 Mann übrig. Zudem nahm die schlecht ausgerüstete und verpflegte Truppe erst zwei Wochen nach der Schlacht die Verfolgung auf. Auch ist aus den Aufzeichnungen ersichtlich, dass die zahlenmäßig weit überlegene „Hauptmasse“ der Hereros nach der Schlacht entkommen war. Schließlich habe der deutsche Kaiser neun Wochen nach der Waterberg-Schlacht von Trotha befohlen, den Herero Gnade zu gewähren.

Zwar hätten die Deutschen unbestreitbar Kriegsverbrechen verübt, wie übrigens alle Kolonialmächte, und sie hätten auch an britische „concentration camps“ angelehnte Konzentrationslager mit nochmals Tausenden Opfern errichtet. Auch seien Tausende Herero tatsächlich in der Wüste verdurstet, aber eben auch Tausende entkommen und hätten dabei, wie der Anführer Samuel Maharero, sogar in acht Tagen die Wüste durchquert. Die Herero hätten das immer schon gekonnt, weil sie alle Wasserstellen kannten. Dies geht beispielsweise aus britischen Aufzeichnungen hervor. Auch an der Bevölkerungszahl der Hereros gibt es offenbar starke Zweifel, dabei wird von insgesamt nur 35.000 vor dem Krieg gesprochen. Damit wäre dann auch die Opferzahl 80.000 viel zu hoch angesetzt. Es fehlten aber verlässliche Daten, man kann sich nur auf verschiedene Berichte von Augenzeugen stützen – dies gilt aber auch für die Thesen Drechslers. Herero-Zeitzeugen seien später überhaupt nicht befragt worden. Auch hätten beide Seiten mit „äußerster Brutalität“ agiert. Ob sich die Historikerkommission auf eine Version der Geschichte einigen kann, wird daher im Spiegel stark bezweifelt.

(wog/avd/FAZ/Spiegel)