Wie lassen sich die vielen muslimischen Flüchtlinge integrieren? Darüber debattiert nicht nur die CSU intensiv. (Bild: Imago/Christian Ohde)
Integration

Flucht aus einer Welt, in der Väter ihre Töchter verkaufen

Kommentar Eine junge Afghanin hat zusammen mit ihrer kleinen Tochter die Flucht nach Deutschland geschafft – und den Sprung in ein vorher unvorstellbares eigenes und selbstbestimmtes Leben. Aber was kann hier aus ihrem gewalttätigen und analphabetischen Mann werden, von dem sie sich befreien konnte? Eine sehr lesenswerte Geschichte in der Pariser Tageszeitung Le Monde wirft Integrationsfragen auf.

Sonderbar, dass man so eine bemerkenswerte Flüchtlingsgeschichte aus Deutschland in der französischen Tageszeitung Le Monde lesen muss, und nur dort. Ob es daran liegt, dass sie Einblicke gewährt in düstere Milieus und Verhältnisse, die sich Deutschland da angelacht hat? Oder daran, dass der Leser bei der Lektüre unweigerlich beginnt, nachzudenken über unverdauliche, aber leider wohl recht typische Integrationsfragen, die dem Land gewiss noch sehr lange sehr teuer zu schaffen machen werden? Dabei hat die Geschichte von der 22-jährigen Afghanin Marzieh Hosseini und ihrer 6-jährigen Tochter Hasti, die Le-Monde-Sonderberichterstatterin Ghazal Golshiri am vergangenen Freitag aus Berlin auf einer ganzen Seite so sympathisch erzählte, sogar zu zwei Dritteln einen hoffnungsvollen vorläufigen Ausgang. Aber eben nur zu zwei Dritteln.

Marziehs Flucht aus Iran und Afghanistan – und vor der Familie

Marzieh ist die Tochter afghanischer Flüchtlinge im Iran. Als sie vierzehn ist, verkauft ihr Vater sie wie ein Stück Vieh für umgerechnet 4000 Euro in die Ehe an einen elf Jahre älteren Afghanen. Der ist Analphabet, aber, so der Vater, wenigstens „nicht drogenabhängig, arbeitet und hängt nicht mit Kumpanen sinnlos im Viertel herum“ – väterliche Fürsorge in Afghanistan. Zuneigung erfährt Marzieh von ihrem Ehemann nie, nur Befehle. Sie darf das Haus nicht verlassen, muss die die Schule abbrechen. Mit 16 bekommt sie ihre Tochter Hasti. Ihr Mann verachtet sein Kind, weil es ein Mädchen ist.

Beschimpft, weil sie nicht den alles verhüllenden Tschador trägt.

Im August 2015 brechen die drei auf Initiative ihres Ehemannes nach Europa auf. Marzieh hofft, dort irgendwie ihrem Schicksal entkommen zu können. An der iranisch-türkischen Grenze scheitert der Fluchtversuch. Die drei werden nach Afghanistan geschafft. Es folgen zwei Monate bei Marziehs Verwandten im westafghanischen Herat. Dort ist alles noch islamisch-konservativer, noch schlimmer: Die Männer der Familie beschimpfen sie, weil sie nicht den alles verhüllenden Tschador trägt, sondern nach iranischer Gepflogenheit „nur“ Kopftuch, Hose und Mantel. Marziehs Verwandte hetzen ihren Mann gegen sie auf, und er wird noch aggressiver.

Die zweite Initiative zur Flucht nach Europa, zwei Monate später, geht darum von Marzieh aus, die es in Herat nicht mehr erträgt. Und dieses Mal klappt es an der iranisch-türkischen Grenze, knapp und streckenweise zu Pferd. Dann die Balkanroute: Ägäis, Mazedonien, Serbien, Ungarn, Slowakei, Österreich. Die Reise endet schließlich im 22.000-Einwohner-Städtchen Jüchen südöstlich von Mönchengladbach im NRW-Regierungsbezirk Düsseldorf.

Schläge im Flüchtlingslager

Im Flüchtlingslager in der Turnhalle wird es wirklich ungemütlich: Ihr Mann ohrfeigt sie, schlägt sie, beschimpft sie: „Mach schon, nimm das Kopftuch ab. Ich weiß doch, dass Du das willst. Zieh Dich aus, damit ich ein Foto von Dir machen kann, um es an Deinen Vater zu schicken. Er soll wissen, dass seine Tochter eine Prostituierte geworden ist.“ Was Le Monde nicht schreibt: Darin steckt eine unausgesprochene Ehrenmord-Drohung. Marzieh lässt über die Sicherheitsleute im Lager die Polizei rufen und erreicht, dass Ihr Mann in ein anderes Lager gebracht wird.

Sie legt das Kopftuch ab – ‚damit ich mich besser integrieren kann‘.

Sie selber gelangt über Hamburg nach Berlin, wo sie auch jetzt ist. Sie wirft ihren Ehering fort und legt auch das Kopftuch ab – „damit ich mich besser integrieren kann“. Ihr Mann telefoniert ihr hinterher und bedroht sie: „Das letzte Mal hat er gesagt, dass er im afghanischen Konsulat in Bonn verlangt hat, dass wir alle drei nach Afghanistan ausgewiesen werden. Er hat gedroht, dass er kommt und mich findet und mir Übles antut.“

Ich will, dass Hasti frei und unabhängig ist. Niemand darf für sie entscheiden, weder ihr Vater noch ich.

Marzieh Hosseini

Im Berliner Quartier machen die afghanischen Männer sie an, die afghanischen Frauen werfen ihr düstere Blicke zu. Trotzdem amüsiert sich Marzieh im Deutschkurs und holt ein bisschen von der Kindheit nach, die ihr Vater und ihr Mann ihr gestohlen haben, deutet die Le-Monde-Autorin. Auf dem Seitenfoto in der Berliner U-Bahn schaut sie befreit, aber irgendwie doch tragisch in die Kamera, mit offenen Haaren, Tochter Hasti an der Hand. Die Kleine, sagt sie, liebt die Musik, singt und spielt Gitarre. Sie wird Deutsch lernen und soll wie eine Deutsche aufwachsen, sagt die Mutter: „Ich will, dass Hasti frei und unabhängig ist. Niemand darf für sie entscheiden, weder ihr Vater noch ich.” Marzieh selber will sich scheiden lassen und einmal Anwältin werden, „um gegen das Patriarchat zu kämpfen und Frauen zu verteidigen, denn die sind weder Sexsklaven, noch Gebärmaschinen“. Sie will, sagt sie, „dass es aufhört, dass Väter ihre Töchter verkaufen“. Keine Frau „soll mehr Angst haben, ihren gewalttätigen Mann zu verlassen“.

Marzieh und Hasti sind ein Gewinn für das Land

Da hat Marzieh sich etwas vorgenommen – erst noch viel Schule und dann ein langes Studium mit zwei Staatsexamina. Aber nach der Geschichte in Le Monde traut man es ihr zu. Um die kleine Hasti macht man sich schon fast keine Sorgen mehr – so lange nicht die afghanische Vergangenheit oder eine der beiden Familien sie einholen. Die beiden sind bestimmt ein Gewinn für das Land. Frauen wie Marzieh wissen die Freiheit zu schätzen, die sie hier, in einem westlichen und eben nicht islamischen Land gewinnen – und manchen gelingt es, etwas daraus zu machen.

Wer Marziehs Geschichte liest, ahnt und befürchtet, dass die hoffnungsvollen Fälle die ‚Einzelfälle‘ sind. Denn wer wollte erwarten, dass es viele Marziehs gibt, die soviel Kraft aufbringen wie sie?

Aber wie viele von ihnen wagen den Sprung, bringen die Entschlossenheit auf und haben dann die emotionale Kraft dazu? Allzuviele Frauen, die wie Marzieh aus finsterer Welt hierhergekommen sind, das ist zu befürchten, bleiben Gefangene ihrer islamischen Vergangenheit und Umgebung, die eben mit ihnen gekommen sind. Wenn das Stichwort Flüchtling in schlechten Nachrichten auftaucht, wird gern mit dem Begriff „Einzelfall“ abgewiegelt. Wer Marziehs Geschichte liest, ahnt und befürchtet dagegen, dass es umgekehrt sein könnte, dass die hoffnungsvollen Fälle, wie der von Marzieh, die „Einzelfälle“ sind. Denn wer wollte erwarten, dass es viele Marziehs gibt, die soviel Kraft aufbringen wie sie?

Aber was wird aus ihrem Mann?

Und was soll hier in Deutschland, „irgendwo an der holländischen Grenze“,  aus ihrem jetzt 33-jährigen gewalttätigen und analphabetischem Ehemann werden? Kann der je ein Gewinn für das Land werden? Seine Frau hat gewonnen − Freiheit und etwas, das es für sie noch nie gab, nicht mal als Traum: ein eigenes Leben. Und er? Er hat in Deutschland nichts gewonnen, aber alles verloren – Frau und Kind, seine Ehre und Rolle als afghanischer Mann, seine patriarchalische Existenz und alle seine afghanischen Werte, die hier nichts gelten und regelrecht auf den Kopf gestellt werden. Nichts ist geblieben von seiner Identität, höchstens seine Religion, an der er nun wahrscheinlich umso verzweifelter festhalten wird. Man ahnt, wie er Deutschland und die Deutschen wohl sieht. Aber in diese deutsche Welt, die ihm das alles angetan hat, soll er sich nun integrieren und ihre Werte übernehmen – und das auch noch wollen. Kann das funktionieren?

Deutschland und europäische Wertvorstellungen haben alles genommen: Familie, Ehre, Rolle, Werte. Aber in diese deutsche Welt und diese Werte soll er sich nun noch integrieren – und das auch noch wollen.

Schwer vorstellbar. Wie wird es hier also mit Marziehs Noch-Mann weiter gehen? Er ist Analphabet, wie über 60 Prozent der Afghanen, viel zu alt für jede Schule und im Grunde unausbildbar. Im günstigsten Fall wird er dennoch eine schlecht bezahlte Arbeit finden oder ein Leben auf Kosten des deutschen Steuerzahlers leben und man hört wenigstens nichts mehr von ihm. Im weniger günstigen Fall hört man doch noch von ihm – in irgendwelchen NRW-Polizeiberichten. Dann wird es Opfer gegeben haben. Nach Marziehs Bericht wollte er ja sich, Marzieh und das Kind wieder nach Afghanistan zurück schicken lassen. Er wäre dort sicher am besten aufgehoben. Es ist seine Welt mit seinen Werten. Aber es ist unwahrscheinlich, dass ein deutscher Asyl-Sachbearbeiter Le Monde liest und dann einfach das Naheliegende und Richtige tut. Der Mann wird Deutschland bleiben. Nicht zu ändern.