Saudi-Arabiens Ölpreis-Waffe
Der Öl-Preis sinkt und sinkt. Weil Saudi-Arabien es so will. Das Königreich sieht sich existentiell bedroht und führt einen Ölpreis-Krieg gegen den Iran und Russland. Das kann gefährlich werden für die ganze mittelöstliche Krisenregion – und für Saudi-Arabien selber. Das Königreich legt sich mit Wladimir Putin an. Weiter westlich treibt der Preissturz Algerien in die Krise.
Saudi-Arabien

Saudi-Arabiens Ölpreis-Waffe

Der Öl-Preis sinkt und sinkt. Weil Saudi-Arabien es so will. Das Königreich sieht sich existentiell bedroht und führt einen Ölpreis-Krieg gegen den Iran und Russland. Das kann gefährlich werden für die ganze mittelöstliche Krisenregion – und für Saudi-Arabien selber. Das Königreich legt sich mit Wladimir Putin an. Weiter westlich treibt der Preissturz Algerien in die Krise.

Wer bietet weniger? 115 Dollar kostete im Juni 2015 ein Fass Rohöl der Sorte Brent. Heute liegt der Preis bei etwa 30 Dollar – und sinkt weiter. Seit anderthalb Jahren ist der Ölpreis im freien Fall. Ein Ende des Absturzes ist nicht in Sicht. Energie-Experten und Börsianer sehen das Fass Brent-Öl schon bei 20 oder gar nur zehn Dollar. „Benzin könnte billiger werden als Wasser in Flaschen“, titelt schon die linksliberale Londoner Tageszeitung The Guardian. Die US-Wirtschaft könne sich für 2016 auf „ein Jahr Zwei des billigen Öls“ freuen, prognostiziert das US-Politik-Magazin The American Interest. Die Zeit des billigen Öls könnte auch noch viel länger dauern: Die Internationale Energieagentur (IEA) der OECD geht in einem Szenario davon aus, dass der Ölpreis nicht vor 2020 wieder auf 50 oder 60 Dollar steigen wird. Die 85-Dollar-Marke sieht sie erst im Jahr 2040 wieder erreicht.

Billiges Öl: ein gefährliches Geschenk

Wer freut sich nicht, wenn Benzin, Heizöl und Ölprodukte dramatisch billiger werden? „Hüte Dich vor Deinen Wünschen, denn sie könnten in Erfüllung gehen“, warnt ein altes Sprichwort. Wenn leichtfertig ausgesprochene Wünsche sich erfüllen, kann vieles ganz anders kommen als gedacht und gewünscht.

Energie-Äquivalent eines Monster-Erdbebens.

Oilprice

Wenn der Absturz des Ölpreises ein Geschenk ist – dann ein sehr gefährliches. Oilprice, das führende Internetmagazin für Energie-Nachrichten, beschreibt den aktuellen Verfall des Ölpreises „als Energie-Äquivalent eines Monster-Erdbebens – ein Preisbeben  – das nicht nur viele harte Öl-Projekte zum Untergang verurteilt, sondern auch die überdehnten Unternehmen (und Regierungen), die sie betreiben.“

Noch mehr Auflösung, noch mehr Chaos und noch mehr Gewalt im Mittleren Osten.

Das Online-Magazin hat recht. Das Ölpreisbeben wird die Welt verändern, mancherorts umstürzen. Im Mittleren Osten, in Afrika und Lateinamerika, aber auch in Russland trifft es Produzentenländer und ganze Regionen, die mit tiefer Krise und Umbruch kämpfen oder sich mitten in gewaltsamer politischer Umwälzung befinden. Der niedrige Ölpreis macht in Syrien, Irak, Libyen und Jemen, aber auch in Saudi-Arabien, Ägypten, Tunesien, Algerien oder in Nigeria nichts einfacher. Alles wird noch schwieriger werden und wahrscheinlich noch schlimmer. Erst recht, wenn der Ölpreis Jahre oder gar Jahrzehnte auf Tiefstniveaus verharrt. Man muss kein Prophet sein, um zu ahnen, dass das Ölpreis-Monsterbeben und das Jahr Zwei des billigen Öls für die mittelöstliche Krisenregion nur eines bedeuten: noch mehr Auflösung, noch mehr Chaos und noch mehr Gewalt. Und das werden dann auch die Öl-Kunden in Europa und Amerika zu spüren bekommen.

In den 80ern stürzte Riad die Sowjetunion in den Bankrott

Die Sonne macht das Weltklima. Der Ölpreis macht das weltpolitische Klima. So war es immer seit Wirtschaft und Politik von Öl, Erdgas und Energie abhängen. Und vor 30 Jahren, Mitte und Ende der 80er Jahre, hat ein anderes, mutwillig herbei geführtes Ölpreis-Beben das schon einmal vorgeführt. Weil damals, im ersten Irak-Krieg, die Saudis die iranischen Mullahs zum Frieden mit Iraks Diktator Saddam Hussein zwingen wollten, hatten sie die Ölförderung drastisch erhöht und den Ölpreis ebenso drastisch gesenkt. Mit Erfolg: Teheran musste Frieden schließen, obwohl es militärisch gerade obenauf war.

Das war der Grund dafür, dass Michael Gorbatschow mit Glasnost und Perestroika die Reformwende erzwingen wollte – und das Sowjetimperium preisgab.

Doch die saudische Ölpreiswaffe traf nicht nur Teheran. Sie traf auch Moskau. Die Sowjetunion stürzte in den Bankrott. Das war mit der Grund dafür, dass Michael Gorbatschow mit Glasnost und Perestroika die Reformwende erzwingen wollte – und das Sowjetimperium preisgab. Deutschlands und Europas Wiedervereinigung und die Auflösung der Sowjetunion waren die Folge.

Folge in Algerien: islamistischer Wahltriumph, Staatsstreich des Regimes und zehn Jahre Bürgerkrieg mit etwa 200.000 Opfern.

Weniger erfreuliche Wirkung der saudischen Ölpreiswaffe: In Algerien traf das Ölpreis-Beben der 80er Jahre auf Bevölkerungsexplosion, wirtschaftliche Krise, politische Stagnation und islamistische Agitation. In seiner Not riskierte das Regime in Algier ein Demokratie-Experiment. Ergebnis: islamistischer Wahltriumph, Staatsstreich des Regimes und zehn Jahre Bürgerkrieg mit etwa 200.000 Opfern. Jetzt kommen auf das riesige Land zwischen Mittelmeer und Sahelzone die Stoßwellen des nächsten Ölpreisbebens zu, und wieder ist Algerien in schwieriger, instabiler Lage.

Riad will es so

Für das aktuelle Öl-Überangebot und den Preissturz gibt es viele Gründe: Schwache Nachfrage in China, Amerika und Europa; ein milder Winter, volle Ölspeicher. Zugleich steigt das Angebot: Amerikanische Schieferölproduzenten werfen täglich Millionen Fass auf den Markt; der Irak fördert viel mehr als erwartet und könnte seine Förderung noch verdreifachen. Alles richtig. Aber entscheidend ist etwas anderes: Saudi-Arabien will es so. Am 4. Dezember konnten sich die OPEC-Länder, die 33 Prozent der Welterdölförderung bestreiten, nicht auf neue Förderquoten einigen. Dabei wird es bleiben, wohl auf lange Zeit: Der eskalierende Konflikt zwischen Saudi-Arabien und Iran macht eine Einigung fast unmöglich. Dieser Tage wollte Nigerias verzweifelter Ölminister, derzeit OPEC-Präsident, für Januar oder Februar eine Krisensitzung einberufen. Die Golf-Staaten haben das Ansinnen abgeschmettert. Saudi-Arabien hat seine Öl-Förderung sogar erhöht. Die nächste reguläre OPEC-Konferenz ist erst für den 2. Juni anberaumt.

Saudi-Arabien führt Krieg, und der Ölpreis ist seine schärfste Waffe.

Wenige Länder hängen mehr von ihren Öl-Einnahmen ab als Saudi-Arabien. Trotzdem treiben die Saudis jetzt den Ölpreis auf Tiefststände. Um die teuren amerikanischen Schieferöl-Wettbewerber aus dem Markt zu drängen, sagen Beobachter. Um aggressiv Saudi-Arabiens Marktanteil zu sichern, auch gegen Betrüger-Länder im OPEC-Kartell, schreiben Analysten. Wieder alles richtig, aber nur am Rande. Denn es geht nicht um Schieferöl. Es geht um Krieg und Frieden. Im Wortsinne. Denn Saudi-Arabien führt Krieg. Darum nimmt es den Preisverfall auf sich – und potenziell gefährliche Folgen für das Königreich selber. Saudi-Arabien führt Krieg, und der Ölpreis ist seine schärfste Waffe.

Saudi-Arabien in der Defensive

Das Königreich sieht sich existentiell bedroht: Die ganze mittelöstliche Region brennt lichterloh. Ringsherum stürzen die Regime. In Syrien, Irak, Jemen und Libyen toben Bürgerkriege. „Flüchtlingsströme, Terroristen, bewaffnete Milizen und mächtige radikale Ideen schwappen in die Nachtbarländer“, beschreibt Mittelost-Experte Kenneth Pollack im US-Politikmagazin Foreign Policy Riads Perspektive. Die Stabilität im Libanon, in Jordanien, Algerien, Tunesien und sogar in Kuwait ist bedroht. Pollack schreibt schon von „keimenden Bürgerkriegen in Ägypten und der Türkei“. Sollte er übertreiben, dann nur leicht.

Stellvertreter-Krieg in Syrien, offene Intervention in Jemen.

Und genau jetzt, genau in dieser Situation tritt Saudi-Arabiens großer Gegenspieler und Konkurrent um die regionale Hegemonie mit Macht auf den Plan: Iran. Die Saudis sehen sich schon mitten im Krieg mit den Mullahs. Sie sind es auch: In Syrien kämpfen sunnitische Milizen mit saudischem Geld und saudischen Waffen gegen iranische Revolutionsgarden und schiitische Hisbollah-Miliz. In Jemen, sozusagen der weiche Unterleib des Königreichs, hat Saudi-Arabien getan, was es sonst nie tut: Es hat direkt interveniert. Jetzt führt die saudische Armee dort einen blutigen Bomben-Krieg gegen von Teheran unterstützte schiitische Huthis. Wie das ausgeht, ist ungewiss.

Bei Operationen in der lebenswichtigen Öl-Provinz sind schon hunderte saudische Truppen und Sicherheitskräfte getötet oder verwundet worden.

Kenneth Pollack

Unterdessen haben Bürgerkrieg und Chaos in der ganzen großen mittelöstlichen Region zur Mobilisierung der Schiiten geführt – auch der etwa 10 bis 15 Prozent Schiiten in Saudi-Arabien, die ausgerechnet die Ostprovinz des Königreichs bevölkern, dort wo Saudi-Arabiens große Erdölvorkommen lagern. Nur um Ansteckunsgefahr für seine gefährdete Ostprovinz zu vermeiden, hat Riad 2012 mit regulären saudischen Truppen in Bahrein den eigentlich friedlichen Aufstand der schiitischen Bevölkerungsmehrheit gegen ihr sunnitisches Regime blutig niedergeschlagen. Vergeblich: Schiitischer Aufruhr hat doch seine Ostprovinz erreicht. Bei Operationen in der lebenswichtigen Öl-Provinz sind schon hunderte saudische Truppen und Sicherheitskräfte getötet oder verwundet worden, schreib Pollack. Niemand will es wahrhaben: Aber Saudi-Arabien führt schon Krieg – jedenfalls einen kleinen Krieg – im eigenen Land.

Von 100 Milliarden Dollar eingefrorener Öleinnahmen soll Teheran auf einen Schlag wenigstens 30 Milliarden erhalten. Viel Geld, um Unruhe, Terror und Bürgerkrieg zu schüren und schiitischen Einfluss in der Region auszudehnen.

Hinter Bürgerkrieg, Aufruhr und Chaos um sich herum und im eigenen Land sieht Riad überall die iranischen Mullahs am Werk. Die Spannungen zwischen beiden Ländern seien derzeit so hoch wie während des Iran-Irak-Krieges in den 80er Jahren, meint die britische Tageszeitung Financial Times. Und jetzt soll Teherans Macht und Einfluss in der Region sogar noch wachsen: Teheran hat offenbar alle Auflagen aus dem Atomkompromiss zur Zufriedenheit der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) erfüllt. Demnächst, vielleicht schon dieses Wochenende, sollen die Sanktionen fallen. Von 100 Milliarden Dollar eingefrorener Öleinnahmen soll Teheran auf einen Schlag wenigstens 30 Milliarden erhalten. Viel Geld, um Unruhe, Terror und Bürgerkrieg in der Region zu schüren und schiitischen Einfluss in der Region auszudehnen. So sehen das die Saudis. Nicht genug: auch das Öl-Embargo gegen den Iran fällt. Teheran kehrt auf den Ölmarkt zurück. In diesem Jahr will es seine Förderrate auf 2,2 Millionen Barrel täglich verdoppeln, hat Ölminister Bijan Zanganeh schon angekündigt.

Ölpreis-Waffe gegen den Iran

Der Atomkompromiss hat sozusagen die Eindämmungspolitik des Westens gegen den Iran beendet. Washington, seit Jahrzehnten Saudi-Arabiens Schutzmacht und Garantiemacht der Region, hält auf Distanz. Riad sieht sich selber zunehmend isoliert und gleichzeitig Teheran immer stärker werden. Genau darum führt Riad jetzt Krieg, solange es sich noch überlegen fühlen kann – und setzt seine Ölpreiswaffe ein. Wie in den 80er Jahren wollen die Saudis mit Öl-Tiefstpreisen den Mullahs die Rückkehr an den Ölmarkt und den wirtschaftlichen Wiederaufstieg verderben. Teheran soll seinen Marktanteil nicht zurückgewinnen, Riad will seinen verteidigen, mit Tiefstpreisen. Riads Botschaft an Teheran sei einfach, zitiert The Guardian einen Öl-Geschäft-Insider: „Wir halten niedrige Ölpreise eine Weile aus, Ihr auch?“

Wir halten niedrige Ölpreise eine Weile aus, Ihr auch?

Ob Riads Rechnung aufgeht, ist nicht sicher. Öl-Gewinne machen nur 15 Prozent des iranischen Bruttoinlandsproduktes aus. Nach zwölf Jahren Sanktionen ist Irans Wirtschaft krisenerprobt. Das Land hat seine Wirtschaft diversifizieren müssen und kann heute eine industrielle Basis, einen IT-Sektor und einen robusten Agrarsektor vorweisen. Alles Dinge, die Saudi-Arabien fehlen. The Guardian: „Die iranische Wirtschaft hat in den vergangenen 36 Jahren vom Krieg bis zu den Sanktionen so viele Schocks aushalten müssen, dass im Vergleich dazu die Schmerzen niedriger Ölpreise regelrecht verblassen, jetzt wo das Land aus der internationalen Isolation ausbricht.“

Zeitbombe für Saudi-Arabien

Gefährlicher noch: Auch was die eigene Leistungsfähigkeit und Stabilität angeht, könnte Riad sich verrechnen. Es stimmt, Riad kann sich niedrige Öl-Einnahmen eine Weile leisten. Aber nicht sehr lange. Für ein Land, das außer seiner Ölwirtschaft nichts hat, und für eine Regierung, die 90 Prozent ihrer Einkünfte aus Öleinnahmen bestreit, sind die Niedrigpreise eine „Zeitbombe“, kommentiert die Londoner Wochenzeitung The Economist. Um seinen Haushalt finanzieren zu können, braucht Riad einen Preis von 100 Dollar pro Fass. Im vergangenen Jahr musste es seine Währungsreserven angreifen. In den zurückliegenden Monaten sollen sie um Hundert Milliarden auf 635 Milliarden Dollar gesunken sein. Trotzdem stieg das Haushaltsdefizit 2015 auf fast 15 Prozent. Nur noch nie dagewesene Einschnitte – Subventionssenkungen, drastische Benzinpreiserhöhungen und Mehrwertsteuern – haben verhindert, dass das Defizit auf über 20 Prozent stieg. 12 bis 14 Milliarden Dollar zieht Riad derzeit jeden Monat aus seinem Reserve-Staatsfonds ab. Bei dem Tempo wären die Reserven in weniger als drei Jahren verbraucht. Wenn es seine Wirtschaftspolitik nicht änderte, könnte Saudi-Arabien in fünf Jahren Bankrott sein, warnt der Internationale Währungsfonds.

Bevölkerungsexplosion, Sparpolitik, politische Stagnation und sunnitische Radikalisierung – das ist genau der Cocktail, der in Tunesien, Ägypten und Syrien zu Arabellion und Bürgerkrieg führte.

Bis dahin will der stellvertretende Kronprinz Muhammad bin Salman, der Lieblingssohn des Königs, den ausgeglichenen Haushalt erreichen. Dem Königreich und seiner chronisch unproduktiven Wirtschaft will er dazu einen „Transformationsplan 2020“ verschreiben: Wirtschaftsreformen aller Art und Diversifizierung. Reform- und Sparpolitik „fast in griechischem Ausmaß“ nennt es The Economist. Ein Problem von vielen: Wie die Nachbarländer kämpft auch Saudi-Arabien mit den Folgen einer dramatischen Bevölkerungsexplosion. Seit 1950 hat sich  Saudi-Arabiens Bevölkerung von 3,1 Millionen auf heute fast 30 Millionen fast verzehnfacht. Prinz Muhammad im Interview mit The Economist: „Unser Bevölkerungswachstum erreicht sehr furchterregende Zahlen.“ 70 Prozent der Saudis sind unter 30 Jahre alt. Zwei Drittel der arbeitenden Bevölkerung werden auf Müßiggänger-Posten vom Staat ausgehalten. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 30 Prozent. Bis 2030 wird sich die Arbeitsbevölkerung verdoppeln. Aber genau jetzt kündigt Riad sozusagen Saudi-Arabiens Gesellschaftsvertrag auf und beginnt zu sparen und zu kürzen. Bevölkerungsexplosion, rastlose junge Bevölkerung, Sparpolitik, politische Stagnation und sunnitische Radikalisierung – mit mindestens 2000 Dschihadisten stellen Saudis eines der stärksten Kontingente im Islamischen Staat – das ist genau der Cocktail, der in Tunesien, Ägypten und Syrien zu Arabellion und Bürgerkrieg führte.

Unser Bevölkerungswachstum erreicht sehr furchterregende Zahlen.

Stellvertretender Kronprinz Muhammad bin Salman

Der niedrige Ölpreis bringt außerdem Riads Politik der militärischen – oder finanziellen – Intervention in der Region unter Druck. Saudi-Arabiens Verteidigungsetat schluckt 25 Prozent der Staatsausgaben – bei schrumpfendem Haushalt wird der Anteil noch steigen. Riads Krieg im Jemen kostet das Königreich jeden Monat sechs Milliarden Dollar, schätzt der amerikanische Mittelost-Experte und ehemalige CIA-Mitarbeiter Bruce Riedel. Dabei wird es nicht bleiben. Riedel: „Wenn Riad im Jemen eine stabile Regierung haben will, die nicht Teheran zuneigt, dann wird es dafür Milliarden ausgeben müssen.” Dutzende, wenn nicht hunderte von Milliarden Dollar haben die Saudis schon in Syrien, Jemen, Irak und Libyen verbrannt, glaubt Mittelost-Experte Kenneth Pollack. Erst kürzlich hat Riad der Regierung in Kairo Investitionen über acht Milliarden Dollar und vier Milliarden an Hilfen versprochen. Bahrein, Jordanien und Pakistan sind andere Empfängerländer. Lange kann Riad das nicht mehr leisten und hat das womöglich auch schon signalisiert. Dann ergäbe der Hinweis des ägyptischen Öl-Ministers im vergangen Juli, man könne auch Rohöl aus dem Iran importieren, einen Sinn – als Drohung an Riad.

Riad legt sich mit Wladimir Putin an

Wenig bedacht wird, welche Folgen es haben kann, wenn Riad sich jetzt mit einem weiteren gefährlichen Gegner anlegt. Denn Saudi-Arabiens Ölpreis-Waffe trifft eben nicht nur den Iran. Mit den Tiefstpreisen wolle Riad auch Russland für seine Intervention in Syrien auf Seiten Assads und des Iran bestrafen, gibt das Internet-Magazin Oilprice Beobachter wieder. Sicher ist, dass Riads Niedrigpreispolitik genau diese Strafwirkung hat und Russland und Präsident Wladimir Putin hart trifft. Moskau bestreitet mit Öl- und Gaseinnahmen 50 Prozent seines Haushalts. Es braucht einen Ölpreis von mindestens 50 Dollar pro Barrel, um Geld zu verdienen und sehr viel mehr, um seine Ausgaben finanzieren zu können. Zusammen mit den westlichen Sanktionen wegen Krim-Annexion und Krieg in der Ostukraine droht nun Saudi-Arabiens Ölpreise-Waffe Moskaus Wirtschaft in den Abgrund zu stürzen: Der Rubel befindet sich im freien Fall, Russlands Wirtschaft schrumpfte 2015 um 3,8 Prozent, die Reallöhne sinken. Den Russen steht ein hartes Jahr 2016 bevor – und Putin womöglich eine Protestbewegung.

Man sollte besser nicht erwarten, dass Putin ruhig zuschaut, wie Riad zum zweiten Mal innerhalb von 30 Jahren Moskau in den Bankrott stürzt. Kapitulationen sind Wladimir Putins Sache nicht.

Der niedrige Ölpreis konterkariert Putins mit großer Entschlossenheit betriebene Politik der Rückkehr Russlands auf die Bühne der Weltmächte, macht sie eigentlich unmöglich. Putin kann kaum anders, als  Riads Politik als fast existentielle Bedrohung der Interessen Russlands zu verstehen. Vor dreißig Jahren, als junger KGB-Offizier hat er es alles schon einmal erlebt und erinnert sich daran, wie Saudi-Arabiens Ölpreiswaffe die Sowjetunion erledigt. Man sollte besser nicht erwarten, dass er ruhig zuschaut, wie Riad zum zweiten Mal innerhalb von 30 Jahren Moskau in den Bankrott stürzt. Kapitulationen sind Wladimir Putins Sache nicht.

Teherans Schiiten-Waffe

Moskau und Iran haben ein starkes Motiv, um etwas gegen Saudi-Arabiens Ölpreispolitik zu unternehmen – und die Mittel dazu. Eine militärische Konfrontation zwischen Iran und Saudi-Arabien würde den Ölpreis über Nacht auf 250 Dollar pro Fass treiben, prognostiziert Oilprice: „Wenn sie gegenseitig ihre Öl-Terminals angreifen, dann erreicht der Ölpreis Spitzen von 500 Dollar pro Fass und wird dort eine Weile bleiben, bis man über das Ausmaß der Schäden Bescheid weiß.“

Saudi-Arabien setzt die Ölpreis-Waffe ein gegen Iran und Russland – und macht damit sich selber und seine Ölförderung zum Ziel.

Offenen Krieg zwischen Riad und Teheran halten die meisten Beobachter für unwahrscheinlich. Gefährliche Eskalationen, bei denen punktuell auch geschossen werden könnte, sind möglich. Schon die Drohung mit Krieg würde den Ölpreis steigen lassen. Schiitischer Aufruhr in Saudi-Arabiens östlicher Öl-Provinz hätte die gleiche Wirkung. Riad hat die Ölpreis-Waffe, aber Teheran hat die Schiiten-Waffe. Es wäre ein Wunder, wenn die Mullahs nicht in Versuchung kämen, sie in Saudi-Arabiens Ostprovinz einzusetzen, um Unruhe zu stiften und Riads Ölförderung und Ölverladung zu treffen. Iran und Russland stehen weitere Maßnahmen zur Verfügung. Saudi-Arabiens Öl-Anlagen sind anfällig für Sabotage: 2012 hackten sich angeblich iranische Hacker in das Computersystem des staatlichen saudischen Ölriesen Aramco ein. Sie plazierten Schad-Software, die Tausende Computer befiel und Aramco wochenlang lahmlegte. Cyber-Krieg ums Öl. Wie auch immer: Wenn Saudi-Arabien jetzt die Ölpreis-Waffe gegen Iran und Russland einsetzt, dann macht es damit sich selber und seine Ölförderung zum Ziel.

Gefahrenherd Algerien

Auch am anderen nordwestlichen Ende der Mittelost-Krisenregion kann das von Riad ausgelöste Ölpreis-Monsterbeben Wirkung entfalten: in Algerien. Das Land hat die zehntgrößten Erdgas-Reserven und ist der sechstgrößte Erdgas-Exporteur. Jeder Dollar, den der Ölpreis verliert, kostet Algerien 560 Millionen Dollar im Jahr, schreibt die in Abu Dhabi erscheinende englischsprachige Tageszeitung The National unter der Überschrift: „In Algerien verkomplizieren sinkende Ölpreise die Zukunft”. Das ist zurückhaltend formuliert. Öl und Gas machen 98 Prozent der algerischen Exporte aus und 58 Prozent der Staatseinnahmen – bei derzeit 13 Prozent Arbeitslosigkeit und 25 Prozent Jugendarbeitslosigkeit.

In der islamischen Welt bedeutet demographischer Druck meist: religiöse Radikalisierung.

Algerien grenzt überall an Aufruhr und Krise: im Osten an Tunesien und Libyen, im Süden an Mali und Niger. Es ist das größte Land des Maghreb und wahrscheinlich das entscheidende. Es verbindet Nordafrika mit der Sahelzone und dem unmittelbaren Subsahara-Afrika. Zur Zeit ist es in Algerien ruhig. Das glauben wir, glauben unsere Medien. Aber alles spricht dagegen: Der todkranke Präsident Abd al-Aziz Bouteflika, der bevorstehende Umbau des Militär-Regimes mitten in einer Zeit eskalierenden regionalen Umsturzes. Dagegen spricht auch Algeriens Demographie: 1950 zählte das Land 8,8 Millionen Einwohner, heute 40 Millionen. 45 Prozent der Bevölkerung sind unter 25 Jahre alt. Auch für Algerien gilt: In der islamischen Welt bedeutet demographischer Druck meist religiöse Radikalisierung. 2011, nach Ausbruch der Arabellionen in den Nachbarländern, hat das Regime seine Ölgeld-Reserven eingesetzt, um die Bevölkerung ruhig zu stellen: Nullzins-Kredite für Tausende Arbeitslose, Lohnerhöhungen für Bataillone von Staatsdienern. Jetzt brechen die Öleinnahmen weg, und das korrupte Regime hat nichts mehr zu bieten.

Machen Sie sich klar, dass dieses riesige Land, wenn es zusammenbricht, den ganzen Maghreb und die ganze Sahelzone mit sich in die Tiefe des Abgrunds reißen wird  –  und dass der Tsunami, der dann folgt, noch den Ärmelkanal erreichen wird.

Boualem Sansal

Eine trügerische Ruhe, warnt denn auch der ehemalige algerische Staatsbeamte und heutige Schriftsteller Boualem Sansal, 2011 Träger des Friedenspreises des deutschen Buchhandels. Mitte September richtete er in der Pariser Tageszeitung Le Figaro einen düsteren „Brief an einen Franzosen über die Welt die kommt“ – „Lettre à un Franςais sur le monde qui vient“. Er warnt darin vor der schon sichtbaren Rückkehr der Islamisten nach Algerien, die „den neuen Heiligen Krieg vorbereiten, den großen Dschihad des Endes aller Zeiten“. Boualem Sansal: „Ich kann nur hoffen, dass ich, wenn ich das nächste Mal nach Frankreich komme, Ihnen dann nicht das Ende meines Landes verkünden muss. Machen Sie sich klar, dass dieses riesige Land, wenn es zusammenbricht, den ganzen Maghreb und die ganze Sahelzone mit sich in die Tiefe des Abgrunds reißen wird  –  und dass der Tsunami, der dann folgt, noch den Ärmelkanal erreichen wird. Meine Freunde, werdet Ihr dann auch nur die Zeit haben, auf den Bergen Schutz zu suchen? Ich sage Euch das ganz offen: Ich habe Angst um Euch.“

Es gibt keine Rückkehr zu jenem Mittleren Osten, den wir seit fast einem Jahrhundert kennen.

Pierre-Jean Luizard

Im Mittleren Osten geht eine lange historische Periode geht zu Ende, beobachtet der französische Historiker und Mittelost-Experte Pierre-Jean Luizard in einem kürzlich erschienenen klugen Buch: „Le piège Daech – L’Etat islamique ou le retour de l’Histoire“ –– „Die Falle Daech – Der Islamische Staat oder die Wiederkehr der Geschichte.“  Luizard: „Es gibt keine Rückkehr zu jenem Mittleren Osten, den wir seit fast einem Jahrhundert kennen.”

Mit dem Ölpreis-Monsterbeben, das Riad jetzt ausgelöst hat, gehen Umbruch, Revolution und Bürgerkrieg im Mittleren Osten in eine neue Phase – und könnten nun auch Saudi-Arabien und Algerien erreichen. 2016, das Jahr Zwei des billigen Öl wird spannend. Gerade weil die Ölpreise sinken, werden sich die Europäer womöglich warm anziehen müssen.