Frankreich verzweifelt an den Sozialisten, an veralteter Politik und an europäischen Zumutungen. Der Front National profitiert. Bild: H.M.
Regionalwahlen

Frankreichs verzweifelte Wähler

Kommentar Die Wut-Wahl hat Frankreichs politische Landschaft dramatisch verändert: Ein neues Dreiparteiensystem mit dem Front National als stärkster Partei macht das Wahljahr 2017 unkalkulierbar. Zumutungen aus Paris und aus Brüssel verschrecken die Wähler. Dazu kommen Angst vor Terror und unkontrollierter Armutszuwanderung. Die Politik muss endlich neue Antworten geben auf neue Herausforderungen.

Vom großen „Wind des Zorns“, der auf seinem Wege alles weggefegt habe, schreibt am Tag nach der Wahl die Pariser Tageszeitung Le Figaro auf der ersten Seite. Das Blatt hat recht: Am Tag nach dieser ersten dramatischen Runde der Regionalwahlen (der Bayernkurier berichtete) hat sich Frankreichs politische Landschaft vollständig verändert: Wo sich bis vor kurzem ein linkes und ein bürgerliches Lager gegenüberstanden, bildet sich nun sozusagen ein Dreiparteien-System heraus, mit dreifach und tief gespaltener Wählerschaft. Und mit dem rechtspopulistischen Front National als stärkster politischer Kraft.

Für Frankreich bedeutet das ein Sprung ins Dunkle, in eine ungewisse neue Zeit. Denn damit sind alle politischen Rechnungen für die nächste Präsidentschaftswahl im Mai 2017 obsolet: Wenn sich in der Stichwahl nur noch zwei Kandidaten der dreigespaltenen Wählerschaft stellen, ist nichts mehr ausrechenbar, aber alles möglich. Der Wahlschocker von Marine Le Pen und ihrem Front National destabilisiert Frankreichs Parteienlandschaft. Vermutlich auf Dauer.

Sozialisten vor der Zerreißprobe

Die ersten Folgen werden schon jetzt die Sozialisten zu spüren bekommen. Über Nacht haben sie große Teile des Landes verloren. Es kann sein, dass sie ab nächstem Sonntag auf regionaler Ebene in elf von dreizehn Regionen kaum noch eine Rolle spielen. Kann Staatspräsident Franςois Hollande nach diesem Debakel in anderthalb Jahren zur Wiederwahl antreten? Werden ihn seine Sozialisten lassen? Steht eine Zerreißprobe bevor zwischen Reformsozialisten und Altsozialisten?

Kann Staatspräsident Francois Hollande nach diesem Debakel in anderthalb Jahren zur Wiederwahl antreten?

Wie auch immer, Frankreichs Sozialisten können so nicht weiter machen. Denn soviel ist klar, und Marine Le Pens Erfolg in der alten Links-Region im Norden Nord-Pas-de-Calais-Picardie demonstriert es regelrecht: Die FN-Wähler sind eben auch in großer Zahl enttäuschte Linkswähler. Ab jetzt ist bei den Sozialisten alles möglich – „Pasokisierung“ (Le Figaro) wie in Griechenland, also ihr langsames Verschwinden, oder die Spaltung.

Frankreichs politische Landschaft wandelt sich – und der Wandel beginnt wohl erst.

Das  bürgerliche Lager muss eine Alternative bieten

Aber auch das bürgerliche Lager muss sich vorsehen. Nicolas Sarkozys Republikaner und ihre Listenverbündeten haben sich nicht mit Ruhm bekleckert. Vom Debakel der Sozialisten haben sie wenig profitiert. Jene Beobachter haben wohl recht, die sagen: Das Falscheste, was die Bürgerlichen nun tun könnten, wären Absprachen mit den Sozialisten, gemeinsame Listen, gemeinsames Paktieren gegen den FN. Denn die dramatischen Regionalwahlen 2015 waren eben auch eine Wut-Wahl und ein Wut-Urteil über gescheiterte sozialistische Politik: endlose wirtschaftliche Misere aus Quasi-Stagnation, wachsender Arbeitslosigkeit und hohen Steuern, für die die Wähler immer weniger staatliche Leistung sehen. Wenn die Bürgerlichen sich mit solcher Politik aus Wahltaktik verbinden, kann sie das nur mit in den Abgrund reißen. Wenn nicht jetzt, dann 2017.

Wenn 2017 tatsächlich Hollande und Sarkozy noch einmal kandidieren, dann treten zwei Verlierer an, dann ist alles möglich.

Frankreichs Wähler wollen eine Alternative sehen. Das ist eine der Botschaften des 6. Dezembers 2015. Sarkozys Republikaner müssen ihnen diese Alternative bieten – wenn sie nicht Marine Le Pen das Feld überlassen wollen. Aber können sie das? Womöglich mit einem Präsidentschaftskandidaten Nicolas Sarkozy? Für den würde es 2017 schwer: Denn vor dreieinhalb Jahren haben die Franzosen nicht so sehr Hollande gewählt – sie haben zuallererst Sarkozy abgewählt. Hollande erschien ihnen als kleineres Übel, das sie jetzt allerdings auch nicht mehr wollen. Wenn 2017 tatsächlich Hollande und Sarkozy noch einmal kandidieren, dann treten zwei Verlierer an, dann ist alles möglich.

Europäische Zumutung: hunderttausendfache unkontrollierte Armutseinwanderung

Aber nicht nur Hollande und seine Sozialisten haben den Franzosen in den vergangenen dreieinhalb Jahren viel zugemutet. Sondern auch die europäische Politik: eine schier endlose Griechenland- und Eurokrise; ebenso endlose Brüsseler Geduld mit Hollandes unverantwortlicher Ausgabenpolitik und Verletzung aller Stabilitätsvereinbarungen; eine völlig ungeschützte Außengrenze, die seit Jahren hunderttausendfache und jetzt sogar millionenfache völlig unkontrollierte Armutseinwanderung aus der Dritten Welt regelrecht ansaugt.

Ende Oktober haben sich die Franzosen daran erinnert, wie vor zehn Jahren Frankreichs Banlieues brannten.

Wohin das führt, wissen gerade die Franzosen ganz genau: Sie sehen es jeden Tag beim Blick auf ihre Banlieues. Ende Oktober haben sie sich daran erinnert, wie vor zehn Jahren Frankreichs Banlieues brannten. Jetzt warten sie auf die nächste Explosion – und Europa redet von hunderttausendfacher Umverteilung arabischer und afrikanischer Migranten.

Islamistischer Terror in der Hauptstadt

Dazu kommt nun islamistischer Terror mitten in ihrer Hauptstadt, zwei Mal in diesem Jahr. Und nicht nur in Paris ist die Bedrohung spürbar und sehr sichtbar – etwa in massiver militärischer Präsenz vor jüdischen Schulen überall im Land.

Dschihadisten, die sich zwischen Brüssel, Paris, Marseille und der IS-Hauptstadt Rakka völlig frei bewegen und über Schengen nur lachen.

Aus Frankreich kommt mit bis zu 2000 Personen das größte nationale Kontingent an europäischen Dschihadisten des Islamischen Staates. Aber die Gefahr ist noch größer: In den Zeitungen stehen Artikel über ein frankophones IS-Bataillon – und über Dschihadisten, die sich zwischen Brüssel, Paris, Marseille und der IS-Hauptstadt Rakka völlig frei bewegen und über Schengen nur lachen.

Le Pen und die Verzweiflung der Wähler

Das ist die große Lage, in der dann Marine Le Pen den Franzosen verspricht, die Nation und deren Souveränität zu verteidigen und die „verlorenen Territorien der Republik“ etwa im wilden Migrantenlager in Calais – der FN kam im alten Arbeiterquartier Calais auf über 50 Prozent – oder in den Banlieues zurückzuerobern. Was Wunder, dass nun schon ein Drittel der Franzosen Le Pen Glauben und Vertrauen schenkt – aus purer Verzweiflung.

Die Europäer wollen ihre freiheitlich-demokratische Lebensweise geschützt wissen. Und genau das muss die Politik leisten.

Die Lehre aus diesem französischen Regionalwahl-Schocker liegt auf der Hand, für Frankreich wie für dessen europäische Nachbarn: Die Politik muss ihre Hausaufgaben machen, in den Hauptstädten und in Europa. Regierungen müssen neue Antworten geben auf neue Herausforderungen. Alte Formeln aus dem vergangenen Jahrhundert taugen nicht mehr.

Die Lösung von Problemen ist der beste Schutz vor Rechtsradikalen.

Horst Seehofer

Das gilt speziell für zwei Themen, die heute die  Menschen nicht nur in Frankreich besonders bewegen, weil sie ihnen regelrecht auf den Leib rücken: islamistischer Terror und völlig unkontrollierte Zuwanderung. Die Europäer wollen ihre freiheitlich-demokratische Lebensweise geschützt wissen. Und genau das muss die Politik leisten. Es ist tatsächlich so, wie Horst Seehofer mit Blick auf Frankreich sagt, und eigentlich ganz einfach: „Die Lösung von Problemen ist der beste Schutz vor Rechtsradikalen.“ Sonst wird bei einer nächsten Wahl aus dem „Wind des Zorns” ein Sturm.