Venezuela feiert den Wechsel: Jubel auf den Straßen der Hauptstadt Caracas. Bild: Imago/Xinhua
Wahlen in Venezuela

Der Sozialismus stirbt aus

Mit einem Erdrutschsieg bei den Parlamentswahlen beendet ein Oppositionsbündnis den sozialistischen Versuch in Venezuela, nach seinem verstorbenen Erfinder Hugo Chavez als "Chavismus" bekannt. Fraglich bleibt, ob das repressive Regime von Präsident Maduro die Niederlage klaglos hinnimmt und ob die Leidenszeit der vielen inhaftierten Oppositionellen nun zu Ende geht.

Nach 16 Jahren sozialistischer Mehrheit und zunehmender Unterdrückung steht Venezuela vor einer Zeitenwende: Die Opposition konnte bei der Parlamentswahl am Sonntag eine deutliche Mehrheit erzielen. Wie die Präsidentin des nationalen Wahlrats, Tibisay Lucena, am Morgen in Caracas mitteilte, entfielen auf die im Bündnis „Mesa de la Unidad Democrática“ (MUD; Tisch der demokratischen Einheit) vereinte konservative und sozialdemokratische Opposition mindestens 99 der 167 Mandate.  Der als „Oficialismo“ bezeichnete Regierungsblock, bestehend aus der sozialistischen Partei und mit ihr kooperierender Parteien, erlitt eine heftige Niederlage und kam nur auf 46 Mandate. Damit wird der sozialistische Präsident Nicolás Maduro künftig auf Kompromisse angewiesen sein. Zwar fehlen noch 22 Sitze, aber an der deutlichen Mehrheit des MUD wird sich nichts mehr ändern. Im Gegenteil: Die Opposition, angetreten unter dem Motto „Cambio“ (Wandel), spekuliert dann auf eine Mehrheit von bis 113 Sitzen.

Venezuela hat für den Wandel gestimmt, und dieser Wandel beginnt heute!

Jesús Torrealba, MUD-Generalsekretär

Die Wahlbeteiligung lag bei 74,25 Prozent. Wahlbeobachter waren nicht zugelassen, es gab aber eine Wahlbegleitung, unter anderem durch die Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR). Wahlberechtigt waren 19,5 Millionen Menschen. In Caracas jubelten viele Menschen, Autos fuhren hupend durch die Straßen, Feuerwerk wurde gezündet. MUD-Generalsekretär Jesús Torrealba sagte: „Venezuela hat für den Wandel gestimmt, und dieser Wandel beginnt heute.“ Aus Angst vor einer möglichen Gewaltwelle nach der Wahl hatten die Menschen Hamsterkäufe getätigt. Doch die Gewalt blieb bisher aus.

Obwohl die regierenden Sozialisten das Wahlsystem und den Zuschnitt der Wahlkreise so veränderten, dass es die Vereinigte Sozialistische Partei Venezuela (PSUV) begünstigte, entzogen die Wähler ihnen das Vertrauen. „Venezuela hat gesiegt, das Ergebnis ist unumkehrbar“, sagte der 2012 und 2013 unterlegene Präsidentschaftskandidat der Opposition, Henrique Capriles.

Die Sozialisten wollen ihre Niederlage akzeptieren – angeblich

Präsident Maduro räumte die Niederlage ein: „Wir akzeptieren das.“ Ob er das wirklich in vollem Umfang tut, bleibt allerdings, wie immer bei gescheiterten sozialistischen Regierungen, abzuwarten. „Wir haben eine Schlacht verloren, aber jetzt beginnt der Kampf für den Sozialismus“, versprach Maduro nämlich auch. Und vor der Wahl hatte der Präsident noch getönt: „Es ist der Tag und die Stunde des Sieges des Volkes gekommen.“

Heute hat eine Gegenrevolution triumphiert.

Nicolás Maduro, Präsident

Die Wahl war von beiden Seiten zu einem Plebiszit über das umstrittene Sozialismusprojekt erklärt worden. Diese Abstimmung fiel deutlicher als erwartet aus. „Unser Weg ist der Frieden, unser Weg ist die Demokratie“, betonte Maduro nach der Wahl. Die Überwindung der Wirtschaftskrise sei die größte Herausforderung. Dann kam wie immer das sozialistische Märchen von einer „Konterrevolution“, die in Wahrheit jedoch immer nur der Wille des Volkes ist. „Heute hat eine Gegenrevolution triumphiert“, machte Maduro die Opposition schlecht, die er im Wahlkampf nur als elitär und korrupt beschimpfte. Jetzt müsse man eine neue Etappe der von Hugo Chávez eingeleiteten bolivarischen Revolution beginnen.

Venezuela ist ein Opfer des Sozialismus

Aus Sicht der Menschen bleibt zu hoffen: hoffentlich nicht. Bis zu 200 Prozent Inflation, Mangelwirtschaft und fehlende Lebensmittel hatten die Unzufriedenheit in Venezuela in den vergangenen Monaten deutlich erhöht. Gerade untere Schichten leiden unter fast täglich teurer werdenden Lebenshaltungskosten. Das Land mit den größten Ölreserven weltweit leidet zudem unter dem niedrigen Ölpreis, was es immer schwerer machte, die Sozialprogramme und anderen sozialistischen Geschenke zu finanzieren. Der 2013 gestorbene Präsident Hugo Chávez hatte das Projekt einer „bolivarischen Revolution“ ausgerufen und lange Zeit vom hohen Ölpreis profitiert.

Im Wahlkampf war der Oppositionspolitiker Luis Manuel Díaz erschossen worden, unweit von ihm stand die zierliche Frau des inhaftierten Oppositionsführers Leopoldo López, Lilian Tintori. Wem galten die Schüsse? – Die Regierung wies jede Mitverantwortung zurück. Besonders Lilian Tintori aber hatte die Unmenschlichkeit des Regimes überaus wirkungsvoll entlarvt.

Sozialismus bedeutet immer die gnadenlose Unterdrückung Andersdenkender.

Dazu erzählte sie laut einem Bericht der SZ überall die wahre Geschichte, wie sie mit ihren zwei gemeinsamen kleinen Kindern den Ehemann zu dessen Geburtstag mit einem Kuchen im Gefängnis besuchen wollte – und von den sozialistischen Schergen Maduros abgewiesen wurde. Das Geburtstagsständchen und den Kuchen gab es dann vor einem Foto des Vaters vor den Gefängnismauern. Eine widerwärtige Grausamkeit! Und jeder Zuhörer begriff, was Sozialismus in Venezuela (und weltweit immer in der Geschichte) bedeutet: Gnadenlose Unterdrückung Andersdenkender. Für Maduro ist Tintori mehr als unangenehm, er nennt sie im üblichen linken Jargon eine „imperialistisch gesteuerte Faschistin“ oder auch mal „Parasit“. Im September 2015 wurde der Familienvater Leopoldo López wegen „Anstachelung zur Gewalt“ und „Verschwörung“ zu 13 Jahren und neun Monaten Gefängnis verurteilt, in einem derart von oben gesteuerten Verfahren, dass sogar der zuständige Staatsanwalt hinterher von einer „Farce“ sprach. Bei den Massendemonstrationen Anfang 2014 kamen rund 50 Menschen ums Leben. Die Regierung ließ auf oppositionelle Studenten das Feuer eröffnen, andere Regimegegner verschwanden in den Folterkellern der Polizei. López und einige andere wichtige Oppositionelle wurden als Sündenböcke verhaftet und eingesperrt, obwohl er sich stets gegen Gewalt aussprach, und nur zur Demonstration aufgerufen hatte.

Tintori ist nicht überzeugt

Öffentlichkeitswirksam ließ seine Ehefrau jetzt kurz vor der Wahl ihre beiden Kinder nach Florida ausfliegen, zu deren „Schutz“. Tintori und López lehnten die von der Regierung angebotene Haftverschonung gegen ein Exil in Amerika ab. Sie ist noch nicht ganz vom Wechsel überzeugt, wie sie nach der Wahl bekannt gab: „Es ist aber ein schwieriger Moment, denn wir wissen noch nicht, ob die Regierung das Ergebnis akzeptieren wird. Wir haben so hoch gewonnen! Ich bin sehr glücklich und liebe Euch!“ Immerhin: Nach dem historischen Wahlsieg der Opposition haben beide Seiten zu Frieden, Dialog und Kooperation aufgerufen.

Das Ziel: Endlich das Erbe von Chavez abschütteln

Die Opposition hofft nun, dass sie im April 2016 mit einem Referendum über die Abwahl von Präsident Maduro abstimmen lassen kann. Dazu reicht eine einfache Mehrheit, sofern der Präsident die Hälfte seiner Amtszeit absolviert hat – also im April. Maduros Amtszeit geht regulär noch bis 2019. Mit Dreifünftel-Mehrheit könnten sogar Minister entlassen und die von Chavez und Maduro oft genutzten Ermächtigungsgesetze beschlossen und zurückgenommen werden – Präsidentendekrete ohne Zustimmung des Parlaments. Mit Zweidrittel-Mehrheit, also 112 Mandate, könnten wichtige Posten in der gleichgeschalteten sozialistenhörigen Justiz besetzt werden. Doch viele Stimmen warnen: Bis zum 5. Januar haben noch die Sozialisten die Mehrheit für Ermächtigungsgesetze. Die konstituierende Sitzung des neuen venezolanischen Parlaments ist für den 5. Januar geplant. Das erste Ziel der Oppositon: die Freilassung aller politischen Gefangenen.

Das Ende ist immer das gleiche: Der Sozialismus versagt

Nachdem im November in Argentinien der konservative Mauricio Macri das Präsidentenamt erobern konnte, scheint sich mit der Wahl in Venezuela ein jüngster Trend in Südamerika fortzusetzen: Die schrittweise Abkehr von linker Politik, die den Kontinent seit Amtsantritt des charismatischen Linkspopulisten Hugo Chávez geprägt hatte. Letztlich scheitern die sozialistischen (Alp-)Träume nicht nur an der üblichen Repression und Korruption dieser Regime, sondern vor allem und wie immer an einem: an wirtschaftlichen Problemen.