Heitere Stunden in Brüssel: Der türkische Premierminister Ahmet Davutoglu vor dem Gipfel mit der EU. Bild: Imago/Zuma Press
EU-Türkei-Gipfel

Brüssels Migrationspakt mit der Türkei

Brüsseler EU-Türkei-Sondergipfel: Ankara erhält drei Milliarden Euro, Visafreiheit und den Fortgang der Beitrittsverhandlungen. Dafür soll die Türkei ihre Ägäis-Grenze sichern, gegen Schleuser vorgehen und Migranten zurücknehmen. Ein Kontingent von 400.000 syrischen Flüchtlingen soll auf die EU verteilt werden. Die Völkerwanderung hält an: Stau und Eskalation vor der mazedonischen Grenze.

„Das kommt von politischer Panik. Wir sind auf den Knien zu ihm [dem türkischen Präsident Recep Erdogan, A.d.V.] gerutscht, und jetzt spielt er mit uns.“ Mit den Worten zu den Verhandlungen zwischen der Europäischen Union und der Türkei über die Eindämmung der Migrantenkrise zitierte die Londoner Tageszeitung Financial Times kürzlich nicht etwa einen finsteren EU-Kritiker, sondern den französischen EU-Diplomaten Marc Pierini, von 2006 bis 2011 Brüssels Botschafter in Ankara. „Brüssel verneigt sich tief vor Erdogan, um Erleichterung in der Migrantenkrise zu erhalten, titelt dazu das Londoner Finanzblatt und fährt dann fort: „Beim verzweifelten Versuch, eine Lösung zu finden, ist der türkische Präsident mit Leckereien regelrecht überschüttet worden.“ „Gegenüber der EU genießt Erdogan seine Rache“, überschreibt die französische Tageszeitung Le Monde etwas zurückhaltender ihren aktuellen Seitenaufmacher zum Thema. „Nach Jahren der Rückweisung kostet Erdogan seine Position der Stärke aus“, beobachtet die Neue Zürcher Zeitung.

Das kommt von politischer Panik. Wir sind auf den Knien zu Erdogan gerutscht, und jetzt spielt er mit uns.

Marc Pierini, französischer EU-Diplomat

Visafreiheit für die Türkei ab Oktober 2016

Tatsächlich hat Ankara auf dem auf Initiative von Bundeskanzlerin Angela Merkel zusammengerufenen Brüsseler EU-Türkei-Sondergipfel über die Migrantenkrise so ziemlich alles erhalten, was auf der türkischen Wunschliste stand: drei Milliarden Euro über zwei Jahre, Visafreiheit für den Schengen-Raum für 78 Millionen Türken höchstwahrscheinlich schon ab Oktober 2016, Eröffnung des nächsten Kapitels der Beitrittsverhandlungen mit der EU in diesem Dezember. Weitere Verhandlungskapitel sollen während des ersten Quartals 2016 verhandlungsreif werden.

Die Türkei wird nicht EU-Mitglied.

Manfred Weber

„Heute ist ein historischer Tag, um unserem Beitrittsprozess zur EU neuen Schwung zu verleihen, aber auch um über Spannungen und die jüngsten Ereignisse in Europa zu beraten“, strahlte in Brüssel der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu: „Ich danke allen europäischen Staats- und Regierungschefs für diesen Neubeginn.“ Die Beitrittsverhandlungen sollen allerdings weiterhin ein „offen angelegter Beitrittsprozess” bleiben, so Merkel. „Die Türkei wird nicht EU-Mitglied”, betonte im deutschen Fernsehen EVP-Fraktionschef Manfred Weber.

Die Türkei verpflichtet sich dazu, ihre Küsten besser zu schützen und schärfer gegen Schleuser vorzugehen.

Im Gegenzug verpflichtet sich die Türkei im gemeinsamen Aktionsplan – vom „Migrationspakt“ schreibt die Amsterdamer Tageszeitung De Telegraaf – dazu, der EU dabei zu helfen, die illegale Einreise von Flüchtlingen bestmöglich zu stoppen, ihre Küsten besser zu schützen und schärfer gegen Schleuser vorzugehen. Außerdem soll Ankara ein seit vergangenem Jahr geltendes Rücknahme-Abkommen für türkische Bürger ab Juni 2016 auf alle Migranten anwenden, die aus Drittstaaten über die Türkei nach Europa einreisen. Davon, dass das tatsächlich funktioniert, hängt dann offenbar das für Ankara wichtigste Zugeständnis ab: die Visafreiheit ab Oktober 2016.

Von den drei Milliarden Euro, die die Türkei erhalten soll, wird Brüssel aus dem EU-Haushalt 500 Millionen übernehmen. Auf Deutschland werden mindestens 500 Millionen entfallen.

Ein paar Details des Pakets sind noch ungeklärt. Von den drei Milliarden Euro, die die Türkei erhalten soll – Ankara hätte die Summe gerne jedes Jahr erhalten – wird wohl Brüssel aus dem EU-Haushalt 500 Millionen Euro übernehmen. Wie die restlichen 2,5 Milliarden auf die 28 EU-Mitglieder verteilt werden, muss noch geklärt werden. Wenn übliche Schlüssel zugrunde gelegt werden, wird Deutschland davon 500 Millionen Euro übernehmen müssen. Brüssel will darauf achten, dass das Geld dafür verwendet wird, um die Lebensbedingen der etwa 2,3 Millionen syrischen Flüchtlinge in der Türkei zu verbessen: Die Syrer sollen arbeiten dürfen, syrische Kinder sollen Schulunterricht auf Arabisch erhalten.

Problem: Rücknahme von Migranten aus Drittstaaten

Auch beim Thema Visa-Freiheit steckt der Teufel im Detail, beziehungsweise in Mazedonien und Serbien. Migranten, die auf der Balkanroute den Weg nach Europa suchen, reisen zwar über Griechenland in die EU und in den Schengenraum ein. Sie verlassen aber das Territorium der EU wieder, um dann erst über die Nicht-EU-Länder Mazedonien und Serbien noch einmal in die EU einzureisen. Nach dem zwischen der EU und Ankara avisierten Rücknahmeabkommen für Drittstaatler wäre darum Ankara gar nicht mehr für sie zuständig, sagen Experten. Da ist Streit vorprogrammiert.

Lange vor Abschluss des griechischen Asylverfahrens haben die Abschiebe-Kandidaten über die Balkan-Route längst ihr eigentliches Ziel erreicht − im Zweifelsfall Deutschland.

Zumal die seit 2002 zwischen Griechenland und der Türkei vertraglich gesicherte Rücknahme von Migranten nicht funktioniert: 2014 beantragte Athen die Rücküberstellung von etwa 9700 Migranten, die sein Territorium über die Türkei erreicht hatten. Ankara akzeptierte nur 470 Gesuche, tatsächlich zurückgeführt wurden nur neun Personen, berichtet die Frankfurter Allgemeine Zeitung. In diesem Jahr hat die türkische Seite zwar schon 2395 griechische Abschiebungen anerkannt, in der Türkei angekommen sind aber lediglich acht Personen. Die anderen hatten lange vor Abschluss des griechischen Asylverfahrens über die Balkanroute längst ihr eigentliches Ziel erreicht − im Zweifelsfall Deutschland. Ein großes Opfer dürfte also die Einigung auf ein erweiterte Rücknahme-Abkommen für die Türkei kaum gewesen sein.

Kontingent-Lösung: 400.000 syrische Flüchtlinge sollen auf EU-Länder umverteilt werden

Teil des Migrationspaktes soll offenbar auch eine Kontingentlösung sein, berichtet die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: Eine Gruppe von EU-Staaten wird von der Türkei ein Kontingent von Syrien-Flüchtlingen übernehmen. Laut FAS soll es um 400.000 Migranten gehen. Die Kontingent-Frage war Thema eines kleineren Achter-Vorgipfels der Regierungschefs aus Deutschland, Österreich, Schweden, Finnland, Griechenland und den Benelux-Ländern. Frankreichs Staatspräsident Franςois Hollande hatte keine Zeit. Wieder der FAS zufolge soll aber auch Frankreich sich „namhaft“ an der Kontigentlösung beteiligen – als Gegenleistung für Deutschlands Beteiligung am Krieg gegen den Islamischen Staat. Die FAS schreibt von einer entsprechenden „mutmaßlichen“ Übereinkunft zwischen Hollande und Merkel.

Ich glaube nicht, dass alle mitmachen würden.

Bundeskanzlerin Angela Merkel

Der größte Teil der umzuverteilenden 400.000 Migranten wird allerdings an Deutschland gehen. „Wir haben heute keine einzige Zahl genannt“, erklärte dazu Bundeskanzlerin Merkel. Wenn man über legale Formen von Migration rede, seien Kontingente oder von der türkischen Seite vorgeschlagene Quoten aber eine Möglichkeit, so Merkel. Es sei allerdings noch offen, wer sich beteiligen würde. Merkel: „Ich glaube nicht, dass alle mitmachen würden.“ Was bedeutet: Für die EU-Mitgliedsländer kann es nur um freiwillige Kontingente und Quoten gehen. Bis zum Dezember-Gipfel will Berlin diese Pläne für legale Einreisemöglichkeiten für Flüchtlinge vorantreiben. Merkel: „Wir werden jetzt in den nächsten Tagen die Arbeiten beginnen. Die Kommission wird dann zum EU-Rat am 17. Dezember ihre Vorschläge machen.”

Krise auf der Balkan-Route

Unterdessen fließt der Migrantenstrom über Ägäis und Balkanroute weiter, wenn auch etwas langsamer: Wegen schlechten Wetters erreichten am Sonntag vor einer Woche nur 155 Migranten die griechischen Ägäis-Insel, nach knapp 3000 am Samstag. Kein Grund zur Erleichterung: Schon am Mittwoch darauf waren es wieder über 5000 Migranten, die Griechenland möglichst schnell nach Norden weiter schob. Am gleichen Tag kamen in Bayern über 6500 Migranten an. Am vergangenen Sonntag waren es knapp 1800 nach über 2500 am Samstag. Am heutigen Montag wurden in Piräus wieder Fähren mit 4000 Migranten von den Ägäis-Inseln Chios und Lesbos erwartet. Insgesamt haben seit Anfang November 110.000 Migranten über die Türkei die griechischen Ägäis-Inseln erreicht. 105.000 haben im gleichen Zeitraum über die Balkan-Route Griechenland verlassen.

Doch die Migranten wollen sich nicht aufhalten lassen auf dem Weg nach Deutschland. Beobachter rechnen mit Gewalt.

Im mazedonisch-griechischen Süden der Balkanroute bahnt sich jetzt allerdings eine Krise an: Weil Slowenien nur noch Migranten aus den Bürgerkriegsgebieten Syrien, Irak und Afghanistan durchlässt, zogen Kroatien, Serbien und Mazedonien nach. Weil jeder, der sich in Griechenland als Syrer, Iraker oder Afghane ausgibt, eben auch ohne Papiere passieren darf, betrifft die Einschränkung zwar höchsten zehn Prozent der Migranten auf der Balkanroute. Trotzdem stauen sich jetzt an der griechisch-mazedonischen Grenze schon Tausende Bangladeschis, Pakistaner, Palästinenser, Marokkaner, Algerier, Tunesier oder Somalis. Mazedonien hat mit dem Bau eines festen Zauns begonnen. Doch die Migranten wollen sich nicht aufhalten lassen auf dem Weg nach Deutschland. Beobachter rechnen mit Gewalt.