Heilsbringer oder Totengräber?
Mit Jeremy Corbyn steht seit diesem Wochenende ein ausgewiesener Linker an der Spitze der britischen Labour-Partei. Die Meinungen von Beobachtern gehen auseinander: Birgt der von Corbyn verkörperte Linksruck der Partei das Potential, nach der nächsten Wahl wieder die Macht auf der Insel zu erringen? Oder droht Labour nach dem Wahldebakel vor wenigen Monaten der endgültige Absturz?
Großbritannien

Heilsbringer oder Totengräber?

Mit Jeremy Corbyn steht seit diesem Wochenende ein ausgewiesener Linker an der Spitze der britischen Labour-Partei. Die Meinungen von Beobachtern gehen auseinander: Birgt der von Corbyn verkörperte Linksruck der Partei das Potential, nach der nächsten Wahl wieder die Macht auf der Insel zu erringen? Oder droht Labour nach dem Wahldebakel vor wenigen Monaten der endgültige Absturz?

Die britische Labour-Partei rückt nach links: Beim Parteitag am vergangenen Wochenende wählten die Delegierten Jeremy Corbyn zum neuen Vorsitzenden und Nachfolger von Ed Miliband. Dieser war nach dem Wahldebakel seiner Partei bei den Unterhauswahlen vor wenigen Monaten zurückgetreten. Insgesamt hatten sich vier Kandidaten um Milibands Nachfolge beworben – britische Medien sprachen von einer Schicksalswahl für die traditionsreiche Partei.

Vom Hinterbänkler zum Parteichef

Am Ende machte also Jeremy Corbyn das Rennen. Eine Jugendlösung ist Corbyn keine: Mit 66 Jahren zählt er schon jetzt zu den ältesten verbliebenen Unterhaus-Abgeordneten seiner Partei. Von seinen Anhängern wird der neue Labour-Chef jedenfalls als Heilsbringer gefeiert. In der gesamten Partei aber halten ihn viele für den Labour-Totengräber. Prominentester Gegner: Ex-Premier Tony Blair. Dessen „New Labour“-Politik sah Corbyn schon Ende der Neunziger Jahre als Verrat an den Grundprinzipien der Partei an – ungeachtet der Erfolge von Blairs Politik und der Zustimmung der Briten bei den folgenden Wahlen.

In seinen 32 Jahren im britischen Unterhaus blieb Corbyn stets Hinterbänkler. Schnell erarbeitete er sich einen Ruf als notorischer Rebell. Mehr als 500 Mal soll der Sohn eines Ingenieurs und einer Mathematiklehrerin gegen die Parteilinie gestimmt haben. Neben seiner Kritik an „New Labour“ sprach er sich 2003 auch lautstark gegen Großbritanniens Beteiligung am Irak-Krieg aus – entgegen der Parteilosung.

Corbyn nannte Hamas und Hisbollah „Freunde“

Mit einigen nicht unriskanten Versprechungen konnte Corbyn jetzt dennoch eine Mehrheit der Labour-Delegierten hinter sich bringen: Der Abgeordnete aus dem Londoner Wahlkreis Islington Nord will unter anderem die Bahn wieder verstaatlichen, den Sparkurs des Landes beenden, Reiche höher besteuern und die britischen Atomwaffen abschaffen. In der Kritik stand und steht er für seine Haltung zur radikalislamischen Hamas und zur Schiitenmiliz Hisbollah, die er öffentlich als „Freunde“ bezeichnet hat. Davon hat er sich inzwischen distanziert.

Dank seiner pastellfarbenen Hemden und beigen Jacketts wurde Corbyn von der Presse mitunter als „Sozialkundelehrer“ bezeichnet. Er gilt als aufrichtig und direkt – die Eigenschaft, die seine Anhänger am meisten bewundern. Kritiker halten ihn für ungeeignet als Premierminister und befürchten, dass er mit seinen – für britische Verhältnisse – radikalen Positionen die Labour-Partei spalten werde.

 

dos/dpa