Bald zwei Jahre lang hat Ankara schlicht nichts unternommen gegen die Terrorarmee des Islamischen Staates (IS) im Bürgerkriegsland Syrien und hat ihre Akteure im Grunde gewähren lassen, vielfachen Berichten zufolge sogar auf türkischem Territorium. Es gibt sogar Presseberichte über zumindest logistische Unterstützung für den IS. Nicht einmal als der Islamische Staat im vergangenen Herbst Anstalten machte, die Kurden-Stadt Kobane zu erobern, unmittelbar an der türkischen Grenze, sah Ankara Grund zum Handeln. Jetzt, plötzlich, greift die Türkei doch militärisch ein in den Bürgerkrieg in Syrien und in die Kämpfe gegen den Islamischen Staat. Aber nicht ein Sieg, gar bedrohliches weiteres Vordringen des IS ist der Grund dafür – sondern, im Gegenteil, eine schwere Niederlage des Islamischen Staates. Ankara greift jetzt ein, weil der Islamische Staat kurz davor steht, auf der syrischen Seite die Kontrolle über das letzte Stück des westlichen Teils der türkisch-syrischen Grenze zu verlieren – an die syrischen Kurden.
Syrisches Kurden-Territorium vom Irak im Osten bis Efrin im Westen
Denn vor allem das war aus türkischer Sicht die Folge der Einnahme des syrischen Grenzortes Tal Abyad – östlich von Kobane – durch die syrische Kurdenmiliz YPG Mitte Juni. Mit Tal Abyad nahmen die Kurden dem IS eine wichtige Nachschublinie von der Türkei zur syrischen IS-Hauptstadt Raqqa. Und sie stellten die territoriale Verbindung her zwischen dem syrisch-kurdischen Kanton Cizire im Osten und dem Kanton Kobane.
Wenn es den syrischen Kurden nun noch gelingt, den IS vom letzten, kaum 150 Kilometer langen Stück zwischen Kobane und dem Kurden-Kanton Efrin, nördlich von Aleppo, zu vertreiben, dann hat die Türkei im Süden keinen syrischen Nachbarn mehr, sondern einen kurdischen. Dann steht der quasi autonome syrische Kurdenstaat entlang der gesamten türkisch-syrischen Grenze, von Irak im Osten bis fast ans Mittelmeer.
Wir werden niemals zulassen, dass in Nordsyrien und im Süden unseres Landes ein Staat etabliert wird.
Recep Erdogan, türkischer Staatspräsident
Das will Ankara unbedingt verhindern. Niemand anderes als Präsident Recep Erdogan machte das bald nach der Einnahme von Tal Abyad durch die Kurden in einer Wut-Rede klar. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung zitiert ihn: „Wir werden niemals zulassen, dass in Nordsyrien und im Süden unseres Landes ein Staat etabliert wird.“ Einen Kurdenstaat an der türkischen-syrischen Grenze, sollte das heißen, darf es nicht geben.
Ankaras Lösung: Eine Schutzzone im Kurdengebiet
Das Stück syrisch-türkische Grenze nördlich von Aleppo darf nicht unter kurdische Kontrolle geraten. Das ist der Grund, warum Ankara jetzt genau dort – zwischen dem Euphrat und einem von Anti-Assad-Rebellen gehaltenen Gebiet nördlich von Aleppo – eine etwa 100 Kilometer lange Schutzzone einrichten will und am besten auch gleich eine Flugverbotszone für syrische Flugzeuge. „Eine Schutzzone – sofern erfolgreich hergestellt – würde de facto den Zusammenhang eines zukünftigen kurdischen Gebildes aufbrechen“, zitiert das US-Politikmagazin Foreign Policy den Direktor des in Ankara ansässigen Centrums für Strategische Kommunikation.
Eine Schutzzone – sofern erfolgreich hergestellt – würde de facto den Zusammenhang eines zukünftigen kurdischen Gebildes aufbrechen.
Centrum für Strategische Kommunikation in Ankara
Offenbar gibt es darüber schon eine noch nicht ganz fertig verhandelte türkisch-amerikanische Übereinkunft. Doch Washington bleibt vorsichtig, berichtet Foreign Policy: Von der Flugverbotszone wollen die Amerikaner nichts wissen, um nicht in den Bürgerkrieg gegen Assad hineingerzogen zu werden – Washington geht es nur um den IS. Die Amerikaner sprechen auch nicht von einer Pufferzone oder Schutzzone, für deren Schutz dann ja irgendjemand militärisch zuständig sein müsste, sondern von einer „IS-freien Zone“.
Die syrischen Kurden sind wichtige Partner, und sie haben großen Erfolg gehabt. Wir wollen das nicht verkompliziert sehen, und wir werden sie nicht fallen lassen.
Vertreter des US-Regierung, zitiert nach Foreign Policy
Das „provisorische Arrangement“ mit der Türkei sei „heikel und kompliziert“, gibt Foreign Policy US-Regierungsvertreter wieder. Die syrischen Kurden seien ein wichtiger Partner und „sie hatten großen Erfolg“, heißt es aus Washington: „Wir wollen das nicht verkomplizieren, und wir werden sie nicht fallen lassen.“ Die Kurden stellen sozusagen die einzigen mit den Amerikanern verbündeten Bodentruppen in Syrien, und die will Washington nicht verlieren.
Ankaras Plan: die ethnische Zusammensetzung im syrischen Kurdengebiet verändern
Aber kompliziert wird es jetzt auf jeden Fall. Denn Ankara hat schon Pläne mit der „Schutzzone“: Berichten der Neuen Zürcher Zeitung zufolge soll ein Teil der zwei Millionen syrischen Flüchtlinge, die sich derzeit in der Türkei aufhalten, in die Pufferzone gebracht und womöglich sogar dort angesiedelt werden. Bei den Flüchtlingen handelt es sich vor allem um sunnitische Araber. Das fragliche Territorium nördlich von Aleppo aber ist vor allem kurdisches Siedlungsgebiet, beobachtet die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Ankaras Plan läuft also darauf hinaus, in dem Gebiet die ethnische Zusammensetzung zu verändern. Um an seiner südlichen Grenze die Entstehung eines Kurdenstaates zu verhindern, will Ankara jetzt ethnische Siedlungspolitik betreiben – und die Nato-Verbündeten mit hineinziehen.
Um an seiner südlichen Grenze die Entstehung eines Kurdenstaates zu verhindern, will Ankara jetzt ethnische Siedlungspolitik betreiben – und die Nato-Verbündeten mit hineinziehen.
Mehr als heikel ist auch der nächste Teil des türkischen Vorhabens. Eigene Truppen will Ankara nicht schicken. Stattdessen sollen sogenannte moderate Anti-Assad-Rebellen in der Schutzzone „parastaatliche Funktionen“ übernehmen, berichtet die NZZ. Problem: Derzeit spielen in Syrien nur die Dschihadisten des IS und die Kämpfer der mit Al-Kaida verbundenen ebenso brutal-islamistischen Al-Nusra-Front eine militärisch ernst zunehmende Rolle. Wirklich moderate Anti-Asad-Rebellen gibt es in Syrien praktisch nicht mehr, die Kurden ausgenommen. Alle US-Pläne, in Syrien moderate militärische Einheiten aufzubauen, sind gescheitert. Kein Wunder: Denn die müssten dann zugleich gegen Diktator Assad, Al-Nusra und den IS kämpfen.
Einheit und Integrität der Türkei
Für Ankara spielt das keine Rolle. Der Türkei geht es darum zu verhindern, dass aus der Auflösung Syriens an ihrer Grenze ein kurdischer Staat hervorgeht. Der Krieg gegen den IS bietet Ankara nun die Möglichkeit, gegen die Kurden vorzugehen. Mit dem Hinweis auf unbestätigte Berichte deutet die NZZ an, dass die jüngsten türkischen Luftangriffe alleine Stellungen der kurdischen Terrororganisation PKK galten. Die PKK war töricht genug, mit Anschlägen gegen türkische Polizisten dafür den Vorwand zu liefern.
Es ist nicht möglich, einen Lösungsprozess fortzuführen mit denjenigen, die die Einheit und Integrität der Türkei untergraben.
Recep Erdogan, türkischer Staatspräsident
Der Friedens- und Versöhnungsprozess mit den türkischen Kurden ist für Präsident Erdogan erledigt: „Es ist nicht möglich, einen Lösungsprozess fortzuführen mit denjenigen, die die Einheit und Integrität der Türkei untergraben.“ Nur darum geht es jetzt aus türkischer Sicht: die Einheit und Integrität der Türkei. Und untergraben wird sie, meint die Regierung in Ankara, durch militärische Erfolge der syrischen Kurden gegen den IS.