Boris Johnsons neue Töne
Premier Minister Boris Johnson warnt die Europäer: London kann die irische Grenze egal sein, Scheidungsgeld gibt es nur für ein gutes Abkommen, ein No-Deal-Brexit ist machbar. Brüssel muss sich auf eine neue europäische Wirklichkeit einstellen.
Brexit

Boris Johnsons neue Töne

Kommentar Premier Minister Boris Johnson warnt die Europäer: London kann die irische Grenze egal sein, Scheidungsgeld gibt es nur für ein gutes Abkommen, ein No-Deal-Brexit ist machbar. Brüssel muss sich auf eine neue europäische Wirklichkeit einstellen.

Mit Prime Minister Boris Johnson könnte es weniger gemütlich werden für die Brüsseler Seite. Auf der letzten Wegstrecke der Brexit-Verhandlungen und mitten in der Sommerpause. In seiner allerersten Rede als Prime Minister hat Johnson ein paar schlichte Dinge gesagt, die drei Jahre lang in Brüssel niemand hören wollte.

Johnsons wichtigste Aussagen: London kann auf Kontrollen an der irischen Grenze verzichten und das leidige Thema völlig Brüssel überlassen. 39 Milliarden Pfund oder bis zu 50 Milliarden Euro Scheidungsgeld gibt es nur bei einem zufriedenstellenden Abkommen. Und: Ein No-Deal-Brexit – ein EU-Ausstieg ohne Abkommen – ist möglich.

Jetzt kommt Boris

Drei Drohungen, die Theresa May den Brüsseler Brexit-Unterhändlern bislang erspart hat. Mit Boris Johnson ist das vorbei. Die Brüsseler Haltung – „wir verhandeln nicht mehr“ – wird sich nur schwer durchhalten lassen.

„Ich bin sicher, dass wir ein Abkommen haben können ohne Kontrollen an der irischen Grenze, weil wir es unter allen Umständen ablehnen, solche Kontrollen zu haben.“ So Prime Minister Johnson gestern vor der schwarzen Tür seines Amtssitzes 10 Downing Street.

London kann die irische Grenze egal sein …

Womit er sagt: Wir machen an der irischen Grenze keine Kontrollen, egal was passiert. Tatsächlich könnten die Briten an der irischen Grenze schlicht die Schultern zucken, sich abwenden und einfach gar nichts tun. Aus Londoner Sicht die einfachste Lösung.

Denn die Briten haben an der irischen Grenze nichts zu befürchten. Die EU-Produktstandards kennen sie seit 40 Jahren. Schmuggel kann ihnen egal sein. Erst recht, wenn sie, was gut möglich ist, nach dem Brexit auf Zölle fast völlig verzichteten. Große Migrantenströme über die irische Grenze müssen sie nicht befürchten. Weil Irland eine Insel ist. Und weil Dublin das verhindern würde, im eigenen Interesse.

… aber Brüssel nicht

Die Briten könnten nach dem Brexit an der irischen Grenze auf Kontrollen einfach verzichten. Die Europäer nicht. Weil dann dort eine EU-Außengrenze verliefe und eine Zollgrenze. Weil Irland Einfallstor werden könnte für allesmögliche. Weil die EU nicht so einfach auf Zölle verzichten kann.

Die irische Grenze wäre plötzlich allein Brüsseler Verantwortung. Ausschließlich. Brüssel müsste Dublin auffordern, seinen Grenzschutzpflichten nachzukommen. Die neue EU-Kommissionspräsidentin müsste von Irland verlangen, eine Grenze zu errichten und Kontrollen durchzuführen. Was ganz neue, ungewohnte Töne aus Brüssel wären.

Irland braucht den britischen Binnenmarkt

Problem: Irland kann keine Grenzkontrollen wollen. Denn Großbritannien ist nach den USA Irlands wichtigster Handelspartner. Die irische und die britische Wirtschaft sind eng mit einander verzahnt. Die irische und die nordirische sowieso. Irland braucht den Binnenmarkt – den britischen Binnenmarkt wohlgemerkt und den beinahe mehr als den europäischen.

Es gäbe sofort einen Riesenkrach – zwischen Dublin und Brüssel. Ein Brüsseler Albtraum würde wahr, wenn die Briten auf Kontrollen an der irischen Grenze einfach schulterzuckend verzichteten. „Das ist unsere große Sorge“, gab vor zwei Jahren einmal ein Brüssel-Insider im Gespräch mit dieser Zeitung zu.

Kein Handelsabkommen, kein Geld

Und dann die Sache mit dem Geld. „Vergessen Sie nicht, im Fall eines No-Deal-Ergebnisses haben wir noch den Extra-Schmierstoff von 39 Milliarden Pfund (für unsere Wirtschaft)“, hat Johnson gestern den Briten zugerufen. Eine doppelte Drohung an die Adresse Brüssels: mit dem No-Deal-Brexit und damit, dass es dann kein Geld gibt. Ganz so leicht, wie Johnson behauptet, ist es natürlich nicht: Denn dann würde auch die EU den Briten mit harten Zöllen und anderen Unannehmlichkeiten das Leben äußerst schwer machen, die ja ebenso auf den europäischen Markt angewiesen sind.

Dennoch rächt sich jetzt, dass Brüssel drei Jahre lang über die zukünftigen wirtschaftlichen Beziehungen mit Großbritannien nicht einmal reden, geschweige denn ein Handelsabkommen skizzieren wollte. Erst Austritt regeln, dann das Abkommen, das war die Devise. Nur warum sollten die Briten erst 50 Milliarden Euro zahlen – und dann dafür nicht einmal ein Handelsabkommen erhalten? Das Ergebnis könnten sie immer auch gratis haben. Ein schlichter Sachverhalt, den die Europäer nicht wahrhaben wollten. Und auf den hinzuweisen, Theresa May zu höflich war. Das ist jetzt vorbei.

Europas neue politische Geographie

Drei Monate vor dem Brexit-Termin sind das neue, entschiedenere Töne aus London. Die Europäer werden sich überlegen müssen, was sie von den Briten wollen: Scheidung im Zorn oder europäische Zusammenarbeit und Austausch mit Großbritannien wie bisher. Falls letzteres, dann müssen sie dafür etwas bieten: ein Handelsabkommen. Was übrigens sehr im Interesse deutscher und bayerischer Handelspartner wäre.

Mit dem Brexit verändert sich Europas politische und wirtschaftliche Geographie. Am westlichen Rande der EU steht plötzlich ein Schwergewicht: Europas zweitgrößte Wirtschaft, Atommacht, Vetomacht im UN-Sicherheitsrat. Nicht alles, aber vieles wird anders in Europa. Es wäre gut, wenn Brüssel dem endlich Rechnung trüge.