Zoll-Chaos und leere Supermarkt-Regale in Großbritannien nach dem harten No-Deal-Brexit? Horrende Brexit-Kosten für die britische Wirtschaft? Dramatisch gestiegene Lebensmittelpreise, weil plötzlich Zölle auf EU-Produkte fällig werden? Nicht unbedingt, meint das Münchner Institut für Wirtschaftsforschung (ifo). Jedenfalls nicht, wenn die Briten im Fall des No-Deal-Brexit zur simplen Lösung greifen, sozusagen zu Brexit-Trick-17: einfach gar keine Zölle erheben. Auf gar nichts.
Das wäre ein sehr smarter Trick der britischen Regierung.
Gabriel Felbermayr, ifo
Als „Hard-but-Smart“-Strategie beschreibt ifo-Forscher Gabriel Felbermayr in einer achtseitigen Studie die britische Option, ab dem 30. März einseitig völlig auf Importzölle zu verzichten: „Das wäre ein sehr smarter Trick der britischen Regierung.“ Ohne britische Importzölle würde der Konsum in Großbritannien nach dem Brexit statt um bittere 2,8 nur um 0,5 Prozent zurückgehen. Und damit sogar um weniger als in der EU, die 0,6 Prozent Konsum einbüßen würde.
Zoll auf zwei Drittel der Importe
Tatsächlich legen die britisch-europäischen Handelszahlen die Null-Zoll-Lösung nahe: 53 Prozent der britischen Importe kommen aus den 27 übrigen EU-Ländern. 15 Prozent weiterer Importgüter bezieht Großbritannien aus Ländern, mit denen es über die EU Freihandelsabkommen unterhält.
Ohne britische Importzölle würde der Konsum im Königreich nur um 0,5 Prozent zurückgehen.
Gabriel Felbermayr, ifo
Nach den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) könnten die Briten ab dem 30. März darauf Zölle erheben. Also auf 68 Prozent ihrer Gesamtimporte, von einem Tag auf den anderen. Die Zölle würden allerdings teuer für Industrie und Gewerbe wie für alle Verbraucher im Vereinigten Königreich: 10 Prozent auf Automobile, 15 Prozent auf Kleinlastwagen, 20 Prozent auf viele Lebensmittel, gar 68 Prozent auf Rindfleisch. Besonders bitter für britische Konsumenten: Großbritannien importiert sehr viele Lebensmittel aus der EU. Auf die dann ab 30. März Zölle fällig würden.
Billigste Lösung: Gar keine Zölle
Oder eben auch nicht. Denn gar keine Zölle sei die billigste Lösung, sagt ifo-Außenhandelsexperte Felbermayer: „Das Land ersparte sich mit einer „Hard-but-Smart“-Strategie, 68 Prozent seiner Importe, die aus der EU oder aus Ländern mit Freihandelsabkommen stammen, mit teils sehr hohen neuen Zöllen zu belasten.“
Die plötzliche Erhebung von Zöllen auf mehr als zwei Drittel der Importe erzeugt für die britische Regierung mit Sicherheit höhere Kosten als der Verzicht auf Zölle auf weniger als ein Drittel.
Gabriel Felbermayr, ifo
Einziges Problem: Entsprechend des Meistbegünstigtengrundsatzes der WTO müsste Großbritannien dann auch Importe aus allen anderen Ländern zollfrei stellen – insbesondere jene aus China, den USA oder Südkorea. Doch der Verlust wäre für die Briten leicht zu verschmerzen, meint Felbermayr: „Die plötzliche Erhebung von Zöllen auf mehr als zwei Drittel der Importe erzeugt für die britische Regierung mit Sicherheit höhere Kosten als der Verzicht auf Zölle auf weniger als ein Drittel.“ Er meint: Politische Kosten an der Wahlurne.
Britische Konsumenten gewinnen
Die Null-Zoll-Lösung würde zwar britische Landwirte hart treffen. Denen müsste London dann helfen. Aber den britischen Konsumenten insgesamt wäre es gewiss recht, wenn plötzlich über 30 Prozent der Importprodukte billiger werden. Ein unverhoffter Brexit-Gewinn für die Bürger.
Wie könnte man es den Wählern erklären, dass Rindfleisch fast 70 und Milchprodukte mehr als 20 Prozent teurer werden sollen?
Gabriel Felbermayr, ifo
Tatsächlich bliebe der britischen Regierung wohl gar nichts anderes übrig, als nach einem No-Deal-Brexit völlig auf Zölle zu verzichten, sieht ifo-Forscher Felbermayr: „Wie könnte man es den Wählern erklären, dass Rindfleisch fast 70 und Milchprodukte mehr als 20 Prozent teurer werden sollen?“ Es sei kaum vorstellbar, dass eine auf Wiederwahl angewiesene britische Regierung eine solche Politik umsetzen würde.
Zoll-Chaos fällt aus
Dazu kommt: Die Briten sind auf eine schlagartig vervielfachte Warenkontrolle und Zollabfertigung an ihren Grenzen schlicht nicht vorbereitet. Sie könnten sie organisatorisch und technisch gar nicht stemmen. Ifo-Schlussfolgerung: „Wenn dem so ist, dann wäre das glatte Durchwinken von Importen nicht nur die rationale ökonomische Antwort auf den Brexit, sondern auch die technisch einzig mögliche.“
Ich nehme an, der britische Zoll wird im Ernstfall einfach alles durchwinken.
Peter Holmes, Handelsökonom an der Universität Sussex
Aufschlussreich: Die britische Zollbehörde HMRC hat für den Fall eines No-Deal-Brexit ein „vorübergehend vereinfachtes Verfahren“ angekündigt. Das berichtete die Frankfurter Allgemeine Zeitung just am Erscheinungstag der ifo-Studie. Britische Handelsexperten gehen dem Blatt zufolge sogar davon aus, dass vorübergehend ein kompletter Verzicht auf jede Zollabfertigung notwendig wird. Die FAZ zitiert einen Experten: „Ich nehme an, der britische Zoll wird im Ernstfall einfach alles durchwinken.“ Dazu und zu den ifo-Überlegungen passt, dass auch der britische Handelsminister Liam Fox in seinen Reden unilaterale Lösungen stets betont.
Gefahr eines harten Brexit für die EU
Wenn London nach einem ungeordneten No-Deal-Brexit eine solche „Hard-but-Smart“-Strategie spiele, so ifo-Forscher Felbermayr, „dann hätte sich die EU 27 erheblich verzockt“. Gerade weil die Briten viel mehr Waren aus der EU beziehen als umgekehrt, würden die Briten bei einer Null-Zoll-Lösung auch stärker gewinnen als die EU. Problem für die EU: Sie kann ihrerseits nicht einfach auf Zölle auf britische Waren verzichten. Denn dann müsste sie nach WTO-Regeln auch für alle anderen Handelspartner die Zölle auf Null senken. Was für die EU eben sehr viel teuer würde als für die Briten.
Die EU hätte hohen Druck, mit dem Vereinigten Königreich ein Freihandelsabkommen zu schließen.
Gabriel Felbermayr, ifo
Die Folge: Für britische Konsumenten würden viele Güterpreise nicht nur nicht steigen, sondern eben sinken. Weil die EU Zölle auf britische Produkte erheben müsste, würden gleichzeitig deren EU-Konsumenten höhere Preise zahlen müssen. Ebenso die EU-Bezieher von britischen Vor- und Zwischenprodukten in der Industrie. ifo-Prognose: „Die EU hätte hohen Druck, mit dem Vereinigten Königreich ein Freihandelsabkommen zu schließen.“ Und müsste den Briten dann sogar mehr anbieten als etwa Kanada im CETA-Freihandelsabkommen. Denn „für das Vereinigte Königreich ist die ‚Hard-but-Smart‘-Strategie besser als ein solches Freihandelsabkommen“, errechnet Felbermayr.
Die Verhandlungsmacht zwischen Brüssel und den Briten wäre neu verteilt. Angesichts der beschriebenen Null-Zoll-Lösung müsse sich die EU überlegen, „ob die Gefahr eines harten Brexit für sie nicht größer ist, als bisher gedacht.“ Für Brüssel sei es darum an der Zeit, meint Felbermayr, „einen konstruktiveren Ansatz zu wählen“, um das Scheidungsabkommen so anzupassen, „dass auch das ‚Hard-but-Smart‘-Szenario vermieden werden kann“. Felbermayr: „Das damit auch die friedenswichtige Irlandfrage erledigt ist, wäre ein phantastischer Nebeneffekt.“