Russische Raketenpläne – und eine Moskauer Unwahrheit
Russland will atomar rüsten und sogar in der Exklave Königsberg nuklearfähige Raketen stationieren. Angeblich weil die Nato eine schnelle Eingreiftruppe aufstellen und möglicherweise in Osteuropa Waffen einlagern will. Das sei Bruch der Nato-Russland-Grundakte von 1997, heißt es in Moskau. Aber nur einer verletzt das Vertragsdokument: Russland.
Russland

Russische Raketenpläne – und eine Moskauer Unwahrheit

Russland will atomar rüsten und sogar in der Exklave Königsberg nuklearfähige Raketen stationieren. Angeblich weil die Nato eine schnelle Eingreiftruppe aufstellen und möglicherweise in Osteuropa Waffen einlagern will. Das sei Bruch der Nato-Russland-Grundakte von 1997, heißt es in Moskau. Aber nur einer verletzt das Vertragsdokument: Russland.

Als „Destabilisierendes nukleares Säbelrasseln“ kritisierte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg russische Atomrüstungs- und Stationierungspläne. Zuvor hatte Russlands Präsident Wladimir Putin bei der Eröffnung einer Waffenmesse nahe Moskau angekündigt, das russische Raketenarsenal in diesem Jahr um 40 neu entwickelte Interkontinentalraketen zu ergänzen. Die nuklear bestückten Raketen sollen in der Lage sein, auch modernste Raketenabwehrsysteme zu überwinden, so Putin. Russland will außerdem neue Kurzstreckenraketen vom Typ Iskander in der russischen Exklave Kaliningrad (Königsberg) stationieren. Die Iskander-Raketen können auch mit Atomsprengköpfen ausgestattet werden.

Neue Moskauer Militär-Doktrin: Begrenzte Atomschläge

Die russischen Raketenpläne sind Teil eines großen russischen Rüstungsprogramms, in dessen Folge sich Moskaus Verteidigungsetat seit 2007 um 50 Prozent erhöht hat. Bis zum Jahr 2025 läuft zudem ein zehnjähriges und umgerechnet 300 Milliarden Dollar teures Moskauer Programm zur Waffenmodernisierung. Ein ganzes Drittel seines Militärhaushalts verwendet Moskau auf sein Nuklear-Arsenal, berichtete im vergangenen Mai die Londoner Wochenzeitung The Economist.

Das hängt auch mit einem Wandel russischer Nuklear-Doktrin zusammen, der zu Folge russische Atomwaffen nicht mehr nur der Abschreckung dienen, wie etwa zu Zeiten der Sowjetunion. Denn schon zu Beginn seiner Amtszeit hat Präsident Putin eine Militärdoktrin sogenannter De-Eskalation eingeführt, die begrenzte Nuklearvorschläge vorsieht, um einen potentiellen Gegner zur Rückkehr zu einem Status quo ante zu zwingen, erläutert wiederum The Economist. Die Doktrin ziele darauf, die USA und ihre Nato-Verbündeten davon abzuschrecken, sich in Konflikten zu involvieren, in denen Moskau seine vitalen Interessen in Gefahr sehe, so das Londoner Wochenblatt. Tatsächlich wurde seit dem Jahr 2000 in fast allen großen russischen Militärmanövern der Einsatz von Atomwaffen geübt – 2013 etwa gegen Warschau.

Schnelle Nato-Eingreiftruppe für Osteuropa

Das alles hält Moskau nicht davon ab, die jüngsten nuklearen Rüstungs- und Stationierungspläne mit erst kürzlich beschlossener Erhöhung der Nato-Präsenz im östlichen Europa zu begründen. Tatsächlich haben die 28 Nato-Partner im vergangenen September auf ihrem Gipfel in Cardiff beschlossen, eine „Speerspitze“ genannte besonders schnelle Eingreiftruppe aufzustellen. Die 5000 Soldaten große Truppe soll innerhalb von zwei Tagen im Einsatz sein können. Vor dem Hintergrund des Konfliktes in der Ukraine will das Bündnis damit osteuropäische Partner beruhigen. Vor allem die ehemals sowjetischen baltischen Republiken Litauen, Lettland und Estland fühlen sich von Moskau bedroht. Nicht ohne Grund, wie kürzlich etwa die allgemein als neutral geltende Neue Zürcher Zeitung überlegte:

In den Augen von Präsident Putin gehört das Baltikum, das seit dem 18. Jahrhundert meist unter russischer Herrschaft gestanden hatte, zum Einflussbereich des Kreml.

Neue Zürcher Zeitung

US-Überlegungen: Lagerung von Material für 5000 Soldaten

Die baltischen Staaten fordern genau darum schon seit längerem die dauerhafte Stationierung von Nato-Truppen in ihren Ländern. Darauf hat sich die Nato bisher nicht eingelassen. Dieser Tage berichtete nun die US-Tageszeitung The New York Times von Überlegungen des US-Verteidigungsministeriums, in osteuropäischen Ländern – Polen, Rumänien, Bulgarien, Litauen, Lettland und Estland – nicht Truppen, aber dafür Kampfpanzer, Gefechtsfahrzeuge und andere schwere Waffen für etwa 5000 amerikanische Soldaten vorzustationieren. Im Krisenfall wäre dann die Ausrüstung sofort verfügbar. Das wäre die bislang bedeutsamste Maßnahme um die Nato-Kräfte in der Region zu stärken „und würde eine klare Botschaft der Entschlossenheit sowohl an die Verbündeten wie an Russlands Präsident Wladimir Putin senden, dass die USA die Russland nächstgelegenen Bündnispartner verteidigen würde“, so das US-Blatt.

Als durchaus vernünftig in einem deeskalierenden Sinne betrachtet auch der Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz, Botschafter Wolfgang Ischinger in einem Interview mit dem Deutschlandfunk die amerikanischen Überlegungen:

Was wirkt denn mehr eskalierend, die Verbringung von solchen Waffensystemen als Mittel der Rückversicherung in einer Zeit doch relativen Friedens, oder wenn tatsächlich eine Krise dringender werden sollte, dann die Anlieferung von schwerem Kriegsgerät nach Osteuropa, was wirkt denn eher krisenverschärfend? Insoweit kann man durchaus auch argumentieren, dass eine solche Lagerung vielleicht gar nicht so unvernünftig wäre.

Wolfgang Ischinger

Entschieden ist allerdings noch nichts. Verteidigungsminister Ashton Carter, das Weiße Haus und natürlich das Bündnis insgesamt müssen über diese Überlegungen noch befinden.

Scharfe Kritik aus Moskau

In Moskau wurden die amerikanischen Pläne dagegen sofort scharf kritisiert als schwerer Verstoß gegen die Nato-Russland-Grundakte von 1997. Denn das Dokument verbiete die dauerhafte Präsenz von Kriegstechnik in osteuropäischen Staaten, so die Moskauer Argumentation. Aber das ist ein Irrtum. In der Nato-Russland-Grundakte haben die Bündnisstaaten lediglich „wiederholt“ – nicht etwa versprochen – „dass sie nicht die Absicht, keine Pläne und auch keinen Anlass haben, nukleare Waffen im Hoheitsgebiet neuer Mitglieder zu stationieren … .“

Im Hinblick auf konventioneller Truppen ist die Nato-Aussage von 1997 noch vager:

Die Nato wiederholt, dass das Bündnis in dem gegenwärtigen und vorhersehbaren Sicherheitsumfeld seine kollektive Verteidigung und andere Aufgaben eher dadurch wahrnimmt, dass es die erforderliche Interoperabilität, Integration und Fähigkeit zur Verstärkung gewährleistet, als dass es zusätzlich substantielle Kampftruppen dauerhaft stationiert.

Nato-Russland-Grundakte von 1997

Eine Verpflichtung, auf die Stationierung von Truppen – gar die Bereitstellung von bloßem Material – in neuen Nato-Mitgliedsländern zu verzichten ist dies in keinem Fall.

Russland bricht die Nato-Russland-Grundakte von 1997 – jeden Tag

Glasklare Verpflichtungen eingegangen ist mit der Nato-Russland-Grundakte dagegen Moskau. Denn beide Seiten, also Nato und Russland, erklären darin unter anderem, eine umfassende Zusammenarbeit anzustreben mit dem Ziel, „in Europa einen gemeinsamen Sicherheits- und Stabilitätsraum ohne Trennlinien oder Einflusssphären zu schaffen, die die Souveränität irgendeines Staates einschränken“.

Des weiteren „verpflichten sich die Nato und Russland gemeinsam zum „Verzicht auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt gegeneinander oder gegen irgendeinen anderen Staat, seine Souveränität, territoriale Unversehrtheit oder politische Unabhängigkeit in einer Weise, die mit der Charta der Vereinten Nationen oder der in der Schlussakte von Helsinki enthaltenen Erklärung über die Prinzipien, die die Beziehungen der Teilnehmerstaaten leiten, unvereinbar ist.“ Beide Seiten verpflichten sich in dem Dokument außerdem auf folgenden Grundsatz:

Achtung der Souveränität, Unabhängigkeit und territorialen Unversehrtheit aller Staaten sowie ihres naturgegebenen Rechtes, die Mittel zur Gewährleistung ihrer eigenen Sicherheit sowie der Unverletzlichkeit von Grenzen und des Selbstbestimmungsrechts der Völker, wie es in der Schlussakte von Helsinki und anderen OSZE-Dokumenten verankert ist, selbst zu wählen.

Nato-Russland-Grundakte von 1997

Moskau hat 1997 also den Ländern Osteuropas vollständige Bündnisfreiheit und die Unverletzlichkeit ihrer Grenzen garantiert. Nicht Washington oder die Nato verletzen die Nato-Russland-Grundakte von 1997, sondern Russland – seit einem Jahr in der Ukraine, jeden Tag.