Warten auf Deutschland
Nach zehn Jahren Krise und bei wachsenden Gefahren braucht Europa gemeinsame deutsch-französische Führung mehr denn je. Aber genau jetzt fällt Deutschland aus, wahrscheinlich für Monate. Das ist ungut für Europa - und für deutsche Interessen.
Europa

Warten auf Deutschland

Kommentar Nach zehn Jahren Krise und bei wachsenden Gefahren braucht Europa gemeinsame deutsch-französische Führung mehr denn je. Aber genau jetzt fällt Deutschland aus, wahrscheinlich für Monate. Das ist ungut für Europa - und für deutsche Interessen.

„Eine sehr schlechte Nachricht für Europa“ titelt die Pariser Tageszeitung Le Monde am Tag nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen in Berlin. Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron hat noch in der Nacht mit Bundeskanzlerin Angela Merkel telefoniert. „Es ist nicht in unserem Interesse, dass sich das verkrampft“, sagt er am Morgen und meint die Regierungsbildung in Deutschland. Von einer „nie da gewesenen Krise“ für das „bereits gelähmte Europa“ schreibt gar die französische Wirtschaftszeitung Les Echos.

Besorgnis in Frankreich

In Frankreich ist die Bestürzung groß. Erst die „kalte Dusche“ des unklaren Wahlausgangs am 24. September, und nun eine „ausgewachsene politische Krise in Deutschland“, so die Le Monde-Schlagzeile auf Seite 1. Seit Juni hat Frankreich wieder eine handlungsfähige Regierung, und die hat prompt begonnen, europäische Projekte zu schmieden. Doch genau jetzt fehlt ihr der handlungsfähige Partner. Schon einen deutschen Wahlkampf lang hat sie geduldig auf ihn gewartet. Vergeblich. In Paris stellt man sich nun auf weiteren monatelangen Verzug ein.

Dieses Scheitern droht, das schon gelähmte Europa in eine nie dagewesene Krise zu stürzen.

Les Echos

Und darauf, dass man es dann in Berlin mit einem neuen Regierungschef zu tun hat. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass sich Bundeskanzlerin Merkel „an der Macht halten könnte, ist gering“, schreibt wieder Le Monde. An Merkel hat man sich in Paris seit langem gewöhnt. Eine neue Person im Berliner Kanzleramt müsste erst zu einer eigenen Europapolitik finden, ahnt man in Paris.

Die EU nach zehn Jahren Krise

Die EU befindet sich in einer schwierigen Lage. Zehn Krisenjahre liegen hinter ihr: Schuldenkrise, Eurokrise, Griechenlandkrise, italienische Bankenkrise, Migrantenkrise. Populistische Strömungen mit anti-europäischer Spitze steigen auf. Was für Europa zum Brexit-Schock geführt hat. Und der ist noch lange nicht ausgestanden. Neue Konflikte brechen auf: Brüssel streitet heftig mit Budapest und Warschau über deren Abbau des Rechtsstaates. Gleichzeitig massieren sich äußere Bedrohungen: in Russland, auf der anderen Seite des Mittelmeeres. Auf europäischem Boden wüten islamistische Terroristen.

Europa braucht Stabilität, muss auf die Herausforderungen reagieren. Darauf gab – und gibt – es Hoffnung: In den Niederlanden, in Österreich und in Frankreich stießen die Populisten an Grenzen. Wirtschaftlicher Aufschwung stabilisiert die EU-Krisenländer, die Arbeitslosigkeit geht europaweit zurück.

Klar ist: Europäische Stabilität braucht ein stabiles deutsch-französisches Tandem oder „couple franco-allemand“ – französisch-deutsches Ehepaar – wie die Franzosen lieber sagen. Das schien sogar in Sichtweite. Seit dem Ende der Jamaika-Sondierungen nicht mehr. Deutsche Antworten auf die europapolitischen Initiativen des jungen Präsidenten in Paris werden weiter ausbleiben. Die Deutschen bleiben die großen Abwesenden in Europa.

Stoßrichtung: Transferunion

Was deutschen – und europäischen – Interessen schadet. Auf dem EU-Sozialgipfel im schwedischen Göteborg war das jetzt zu beobachten. Im Beisein der Staats- und Regierungschefs unterzeichneten die Präsidenten von EU-Kommission, Rat und Parlament die Deklaration einer „Europäischen Säule sozialer Rechte“ mit zwanzig Rechten und Grundsätzen für  eine vertiefte Währungs- und Wirtschaftsunion. Gefährliche Stoßrichtung: Transferunion. Weil in Berlin gebunden, war Bundeskanzlerin Merkel in Göteborg nicht dabei.

Alle französischen und anderen EU-Reformvorschläge zielen letzten Endes in diese Richtung. Mit dem näher rückenden Abschied der Briten von der EU wird der Block der Befürworter der Transferunion stärker und lauter. Ein Wirtschaftsberater des Wahlkämpfers Macron warnte kürzlich mit Blick auf deutschen Widerstand gegen europäische Umverteilungspläne vor „Deutschlands gefährlicher Besessenheit“ – und „vergisst“, dass Deutschland als größter Zahler dabei die Zeche zahlen müsste.

Der Druck steigt auf Deutschland steigt. Der Zug in Richtung Transferunion nimmt Tempo auf. Was nur zu Streit und weiterem Zerwürfnis in Europa führen kann. Eine klare deutsche Haltung gut begründeten Widerstands ist heute wichtiger denn je. Paris braucht den starken Berliner Partner und Bremser – wenn auch ganz anders, als in Frankreich viele meinen. „Warten auf Berlin“, titelte vor einigen Tagen Le Monde. Paris – und Europa – werden weiter warten müssen.