Von Norwegen nach Kanada
Die Zeit für die Brexit-Verhandlungen wird knapp. Eine Einigung über die entscheidenden Fragen ist nicht in Sicht. Denkbare Lösung: Großbritannien bleibt für drei Jahre im Binnenmarkt und schließt in der Zeit mit der EU einen Freihandelsvertrag.
Brexit

Von Norwegen nach Kanada

Die Zeit für die Brexit-Verhandlungen wird knapp. Eine Einigung über die entscheidenden Fragen ist nicht in Sicht. Denkbare Lösung: Großbritannien bleibt für drei Jahre im Binnenmarkt und schließt in der Zeit mit der EU einen Freihandelsvertrag.

„Stellen Sie sich auf den harten Brexit ein, alles andere wäre eine Überraschung.“ Das ist die düstere Prognose des erfahrenen CSU-Europapolitikers Markus Ferber, nach sechs Runden Brexit-Verhandlungen in Brüssel.

Unsere Haltung ist in der Sache klar, aber wir wollen die Probleme freundschaftlich lösen.

Manfred Weber, EVP-Fraktionschef

„Die Brexit-Verhandlungen sind in einer kritischen Phase“, warnte auch CSU-Vize und EVP-Fraktionschef Manfred Weber: „Es gibt keine substanziellen Ergebnisse. Das muss sich in den kommenden Wochen ändern, sonst wächst das Risiko eines ungeordneten Austritts.“ Auf Einladung von Premierministerin Theresa May ist Weber nach London geflogen, wo er an diesem Mittwoch mit ihr zusammengetroffen ist.

Die Zeit arbeitet gegen London

Die Zeit wird knapp. Am 29. März 2019 läuft die zweijährige Frist aus, die Artikel 50 des EU-Vertrages für den Austrittsvertrag lässt. Dann sind die Briten draußen, mit oder ohne Vertrag. Letzteres wäre der harte, chaotische Brexit ohne Einigung, den Ferber kommen sieht. Die Wirtschaft stelle sich schon darauf ein: Niederlassungen europäischer Banken in London stellten Anträge auf Erteilung britischer Bankenzulassungen. Multinationale Firmen überdenken Produktionsprozesse und Lieferketten. Produktion wandert aus Großbritannien ab.

Es gibt keinen Weg zurück.

Markus Ferber, Europaabgeordneter

Die Zeit arbeitet gegen London. Trotzdem geht es mit den Verhandlungen nicht voran. Was vor allem an London liege, meint Ferber. Weil Unterhaus und Oberhaus am Schluss dem Brexit-Vertrag zustimmen müssen, muss die Regierung alle Verhandlungsfragen ständig mit dem Parlament klären. Aber dort streiten sich drei Faktionen: Befürworter eines harten Brexit, Moderate, die einen weichen Brexit wollen, und solche, die in der EU bleiben wollen. Auch die konservative Regierungspartei ist genauso zerrissen.

Für die dritte Variante – Verbleib in der EU – sieht Ferber keine Chance mehr: „Die Menschen im Vereinigten Königreich haben das Thema abgehakt. Die meinen, sie sind schon draußen. Es gibt keinen Weg zurück.“

Status der EU-Bürger in Großbritannien

Die EU hat sich festgelegt, zunächst nur die grundsätzlichen rechtlichen Fragen der Scheidung auszuhandeln: den Status der EU-Bürger in Großbritannien und der Briten in der EU; Londons finanzielle Verpflichtungen gegenüber der EU; die neue EU-Zoll- und Außengrenze zwischen Nordirland und Irland.

Was den zukünftigen Status der EU-Bürger in Großbritannien angeht, sei London bereit „weite Zugeständnisse zu machen, die im Grunde den derzeitigen Status quo festschreiben“, berichtet Ferber. Die EU bietet für die Briten das gleiche an. Verbleibender Dissens: Die EU will, dass EU-Bürger ihre Rechte gegenüber Großbritannien vor dem Europäischen Gerichtshof einklagen können. London will diesbezügliche EU-Bestimmungen in sein Recht übernehmen, aber britische Gerichte entscheiden lassen.

Mindestens 60 Milliarden Euro

Sehr viel schwieriger ist es beim Geld. EU-Verhandlungsführer Michel Barnier will London auf das Prinzip verpflichten, dass alle finanziellen EU-Verpflichtungen, die während der britischen Mitgliedschaft getroffen wurden, auch weiterhin von London anteilsmäßig bezahlt werden, egal wann sie zur Zahlung fällig sind. Es geht vor allem um schon bewilligte, aber noch nicht abgerufene Strukturhilfegelder. Ferber: „Wenn sie die harte Rechnung machen, kommen sie auf 100 Milliarden Euro, wenn sie eine sehr konziliante Rechnung machen, auf 60 Milliarden.“

Ich möchte nicht, dass unsere Partner befürchten, dass sie als Folge unserer Austrittsentscheidung für den Rest der laufenden Haushaltsperiode mehr einzahlen müssen oder weniger bekommen.

Theresa May, Premierministerin

Aber Brüssel will keine Gesamtrechnung aufmachen und dann kassieren, sondern die Einigung auf das Verfahren: Die Briten sollen Haushaltszeile für Haushaltszeile anerkennen, was sie zu bezahlen haben. Ferber: „Und dann kann man denen das jedes Jahr in Rechnung stellen.“ Aber davon sind die Briten weit entfernt. Premierministerin Theresa May hat in Florenz nur garantiert, dass kein EU-Mitgliedsland wegen des Brexit weniger erhalten oder mehr bezahlen soll – allerdings nur „im laufenden EU-Haushaltsrahmen“. Der läuft 2020 aus.

Dazu kommt die Frage der Pensionslasten für britische EU-Beamte. Brüssel will, dass London deren Pensionsansprüche übernimmt. Die Briten sagen: Das sind Eure Beamte, nicht unsere. Ferber zufolge geht es auch hier um Milliarden.

Nordirland abtrennen?

Vollends unlösbar scheint die Frage der neuen EU-Zoll- und Außengrenze auf der irischen Insel. Der britische Verhandlungsführer David Davis hat wiederholt klar gemacht, dass London dort „keinerlei physische Grenzstrukturen“ akzeptieren wird – schon um des Karfreitagsabkommens willens, das 1989 den Nordirland-Konflikt beilegte. Nordirland und Irland sind darin ein „einheitliches Reisegebiet”. Aber dann wäre in Irland die EU-Außengrenze offen. Für Brüssel ein untragbarer Zustand. Die EU könnte in die missliche Lage kommen, ihrerseits an der irischen Grenze Kontrollen – mit Stacheldraht und Mauer? – erzwingen zu müssen. Ferber: „Das ist unsere große Sorge.“

Das kann nicht dazu führen, dass innerhalb des Vereinigten Königreichs eine neue Grenze entsteht.

David Davis

Barnier hat darum vorgeschlagen, Nordirland in der europäischen Zollunion zu belassen. Problem: Dann wäre Nordirland wirtschaftlich nicht mehr vollständig Teil des Vereinigten Königreichs, die Vereinigung Irlands wäre wirtschaftlich realisiert. Davis hat denn auch eine Lösung, die zu „einer neuen Grenze innerhalb des Vereinigten Königreichs führt“, kategorisch ausgeschlossen.

Zeit bis September

Zu alledem kommen Tausende kleine Detailfragen – Fischfangquoten, Überflugrechte, Zugverkehr unter dem Ärmelkanal, Gibraltar – die noch gar nicht berührt, aber am 29. März 2019 im Brexit-Vertrag alle geklärt sein müssen. Problem: Weil die EU für die Ratifizierung ein halbes Jahr braucht, muss der Vertrag schon Ende nächsten September fertig sein. Das ist nicht mehr zu schaffen.

Bliebe nur eine Lösung, sagt Ferber: Beide Seiten einigen sich darauf, dass die Briten für eine Übergangsfrist von etwa drei Jahren sozusagen den Status Norwegens erhalten. Sie bleiben im Binnenmarkt und in der Zollunion und müssen dafür weiter ihre Beiträge zahlen. In den drei Jahren würde Brüssel mit London ein Freihandelsabkommen verhandeln wie mit Kanada.