Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bei seiner Rede in Versailles. (Foto: Imago/Panoramic)
Parteien

Politische UFOs im Anflug

In Europa entstehen neue politische Bewegungen mit charismatischen Vorsitzenden. Mancherorts verdrängen sie Traditionsparteien. Eine Erklärung: Im postideologischen Zeitalter wollen die Menschen strategische Orientierung statt komplizierter Details.

Ein UPO ist gelandet im Hof des Elysée-Palasts – ein „Unbekanntes Politisches Objekt“. Auf diese Formel brachte die Pariser Tageszeitung Le Monde das Phänomen Emmanuel Macron am Tag seiner Amtseinführung. Und noch immer reibt sich Frankreich die Augen über das, was da mit dem Land passiert. Noch vor drei Jahren war der Wirtschaftsberater im Elysee-Palast praktisch unbekannt. Im Sommer 2014 zum parteilosen Wirtschaftsminister befördert, gründete Macron am 6. April 2016 seine Bewegung „En marche!“ – eine „Jugendbewegung, eine Art Think Tank“, meldete er Präsident Hollande im Vorbeigehen. Ein Jahr später hat er den Elysée-Palast erobert und die absolute Parlamentsmehrheit erkämpft.

Neue Stunde Null für die Fünfte Republik

Macron hat die 60 Jahre alte Parteienlandschaft über den Haufen geworfen. „Die Sozialistische Partei im Koma, die Republikaner in der Reanimation“, kommentiert Le Monde. Der 39jährige Präsident hat freie Bahn für seine „Revolution“ – so der Titel seines Wahlkampfbuches von Ende November 2016.

Nicht nur Frankreich ist in Bewegung. An vielen Orten in Europa sprießen politische Bewegungen aus dem Boden, machen Traditionsparteien Mitglieder und Wähler abspenstig. Im Epizentrum Frankreich hat Macron linke und rechte Nachahmer gefunden. Auf der anderen Seite des Kanals hat die Brexit-Bewegung Londons Politik auf den Kopf gestellt. In Italien kann Beppe Grillos Fünf-Sterne-Bewegung Anfang nächsten Jahres auf eine Mehrheit hoffen.

Die Sozialistische Partei im Koma, die Republikaner in der Reanimation.

Le Monde

Die neuen politischen Bewegungen kennen keine Rechts-Links-Schemata mehr. „Weder links noch rechts“ hat Macron in seinem Wahlkampf verkündet. Wo genau der junge Präsident politisch zu verorten ist, kann niemand sagen. Sicher ist: Macron hält das alte Schema für überkommen. Denn die neuen Herausforderungen –Terrorismus, Migration, Globalisierung und digitale Revolution, Umwelt  –, sagt er, haben nichts mit Links und Rechts zu tun.

Moderne Gesellschaft für eine moderne Zeit

Und Macron meint es ernst. Er hält alle Macht im Staate in Händen und ist entschlossen, sie nutzen. Alles soll anders werden in Frankreich: Parteien, Parlament, Institutionen, Gesetzgebung, das Verhältnis zwischen Wählern und Gewählten. Am 3. Juli rechnet der junge Präsident vor Nationalversammlung und Senat in Versailles bitter ab mit der zurückliegenden „Epoche des Zynismus“, mit der „Ineffizienz der politischen Klasse“, mit „Realitätsverweigerung und Blindheit gegenüber einem wirtschaftlichen, sozialen und sicherheitspolitischen Notstand“.

Macron will die Fünfte Republik reparieren – und zurück zum Geist der Verfassung von 1958. Von der „demokratischen Revolution“ schreibt er in seinem Buch. „Das, was wir schaffen müssen, ist eine regelrechte Revolution“, sagt er in Versailles. Immer wieder fällt die Formel von der „tiefgreifenden Transformation“.

Neue Volkspartei Sebastian Kurz

Dem französischen Vorbild am nächsten kommt in mancher Hinsicht Österreichs Außenminister Sebastian Kurz. Seine ÖVP hat er kurzerhand in „Neue Volkspartei Sebastian Kurz“ umtaufen lassen und nennt sie ebenfalls eine Bewegung. Er hat gute Aussichten, mit ihr am 15. Oktober eine klare relative Mehrheit zu gewinnen. Wenn es ihm gelingt, könnte der dann 31-Jährige der weltweit jüngste Regierungschef werden.

Wie Macron hat auch der junge Wiener seine Partei auf seine Person ausgerichtet – und zieht die Menschen fast magnetisch an. In 30 Jahren hat die ÖVP zwei Drittel ihrer Mitglieder verloren. Jetzt laufen der umbenannten Partei die Wähler zu. Wie Macron will Kurz seine Bewegung – und die Wahlliste – für Nicht-Parteimitglieder öffnen. Wie Macron ist auch Kurz ideologisch nicht klar zu verorten. Die Menschen wissen dafür, dass er in der großen Migrantenkrise einfnach das Richtige getan und die Balkanroute geschlossen hat. Kurz ist Pragmatiker, wie Macron.

Macrons absoluter Zugriff

Der französisch-österreichische Vergleich hat Grenzen. Macrons „La République en marche“ (LRM) ist eine Neugründung. Eine „persönliche Partei“, wie Parteienforscher sagen. Ohne ihren Gründer gäbe es sie gar nicht. Die „Neue Volkspartei Sebastian Kurz“ ist eine Umgründung. Ein ÖVP-Insider spricht von „ÖVP-Relaunch mit Kurz als Zugpferd“. In den Bundesländern heißt die ÖVP weiterhin Salzburger, Tiroler oder Wiener ÖVP.

In der föderalen Republik Österreich wird Kurz‘ Handlungsspielraum begrenzt bleiben. Wenn er das erhoffte Ergebnis von guten 30+X Prozent einfährt, steht ihm eine schwierige Regierungsbildung bevor. Macron dagegen hat einen fast absoluten Zugriff auf die Französische Republik. Die Verfassung weist ihm die Rolle des republikanischen Monarchen zu, und er will sie ausfüllen.

Macrons Bewegung ist dafür das Instrument. Sie gehört ihm allein. Jeder LRM-Abgeordnete ist handverlesen – von Macron und seinem Stab. In den Ortsverbänden geht das manchen zu weit. Es hat sich prompt eine Bewegung in der Bewegung gegründet: Die „marcheurs en colère“ – „wütende Marschierer“ – fordern mehr innerparteiliche Demokratie.

Strategischer Entwurf statt pekuniärer Details

Was können deutsche Parteien aus dem neuen Phänomen dieser politischen Bewegungen lernen? Sichtbar geworden seien in Frankreich „dramatische Ermüdungserscheinungen der Traditionsparteien“, erläutert der Münchner Politikwissenschaftler Werner Weidenfeld. Auch in Deutschland gebe es Anzeichen für solche Tendenzen: Im post-ideologischen Zeitalter gehe die Bindewirkung verloren. Wähler glaubten sich mit ihren Sorgen nicht mehr verstanden und wendeten sich ab, analysiert Weidenfeld.

Die Wähler wollen einen strategischen Entwurf, eine strategische Perspektive geboten bekommen, nicht pekuniäre Details.

Professor Werner Weidenfeld, Polkitikwissenschaftler

Gerade in unübersichtlichen Zeiten, meint Weidenfeld „wollen die Wähler einen strategischen Entwurf, eine strategische Perspektive geboten bekommen“. Sie suchten eine Antwort auf die Frage: „Wo stehen wir in 15 Jahren?“ Aber statt strategischer Perspektive böten ihnen die Traditionsparteien „nur pekuniäre Details“. Weidenfeld: „Die Wähler brauchen ein Orientierungsangebot.“ Als „größten Fehler der deutschen Politik“ sieht der Politikwissenschaftler ein „Deutungs- und Erklärungsdefizit“. Aufschlussreich: In Versailles hat Macron von der Pflicht der Präsidenten gesprochen, „zu ihrer Politik auch die notwendige Pädagogik zu machen“ und die „große Richtung ihres Mandats vorzustellen“. Genau darum will er seinen Auftritt in Versailles jedes Jahr wiederholen.

Die Wähler warten ab

Wohin geht nun die Reise mit den neuen politischen Bewegungen? In Frankreich ist die LRM-Dynamik ungebrochen: Die Präsidentenpartei zählt jetzt 373.000 Mitglieder und 3.200 Ortsverbände. Seit der Präsidentschaftswahl sind 100.000 Mitglieder dazu gekommen. In Österreich hat das Zugpferd Kurz ähnliche Wirkung. In Wiener ÖVP-Kreisen freut man sich über den dramatischen Stimmungsumschwung und sieht gleichzeitig die Gefahr: So schnell wie die Wähler gekommen sind, können sie auch wieder fort sein. Derzeit bindet sie vor allem ein Mann an die ÖVP.

In Frankreich ist die Gefahr noch größer. Kaum 20 Prozent der Wahlberechtigten haben sich im April für Macron entschieden. In den Parlamentswahlen hat seine LRM-Partei triumphiert – bei rekordniedriger Wahlbeteiligung von weit unter 50 Prozent. Die Menschen im Krisenland Frankreich warten ab. Wenn sie sich in Bewegung setzen, in einem halb transformierten Staat mit umgepflügter Parteienlandschaft, dann wird es spannend. Das Zeitalter der politischen Bewegungen hat erst begonnen.