Noch nicht abgehoben: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bei der Pariser Flugshow Le Bourget. (Bild: Imago/Julien Mattia/Le Pictorium)
Frankreich

Absolute Mehrheit, wenig Vertrauen

Der Wahl-Tsunami ist ausgeblieben: Präsident Macrons Partei gewann 62 Prozent der Mandate. Eine echte Opposition kann arbeiten, aber nicht blockieren. Macron muss nun liefern – und 57 Prozent Nichtwähler für die Politik zurück gewinnen.

Eine solche Umwälzung, eine solche Erneuerung hat die Assemblée Nationale, die französische Abgeordnetenkammer, zumindest in den 60 Jahren der Fünften Republik noch nie erlebt: Von 577 Abgeordneten, die am Dienstag dem 27. Juni um 15 Uhr zur konstituierenden Sitzung im Palais Bourbon erscheinen werden, hatten 432 vor fünf Jahren noch kein Parlamentsmandat – 75 Prozent. Normalerweise werden im französischen Parlament 120 bis 270 Mandate von Legislatur zu Legislatur ausgewechselt oder erneuert. 2012 wurden 40 Prozent der Mandate neu besetzt – bei einem Regierungswechsel. Dieses Jahr hatten sich 350 Abgeordnete zur Wiederwahl gestellt. Aber nur 145 von ihnen haben die zweite Wahlrunde am 18. Juni überstanden.

Eine sehr komfortable Mehrheit von ungefähr 62 Prozent, um Reformen durchzuführen.

Le Figaro

Der Tsunami ist ausgeblieben. Zur vielfach prophezeiten – oder befürchteten – Mehrheit von 75 bis 80 Prozent hat es für Präsident Emmanuel Macrons gerade ein Jahr alte Partei La République En Marche (LRM) nicht gereicht. Aber mit mindestens 350 Mandaten – 308 für LRM und 42 für die mit der Macron-Partei verbündete zentristische Demokratische Bewegung (MoDem) – ist es immerhin eine sehr robuste Mehrheit von 62 Prozent geworden. Auch ohne die MoDem-Mandate käme Macrons LRM auf eine absolute Mehrheit.

Sozialisten vernichtet, Republikaner dezimiert

Für die bis zum vergangenen 7. Mai noch regierenden Sozialisten besiegelt der zweite Wahlgang eine vernichtende Niederlage: 2012 hatte die Parti Socaliste zusammen mit verbündeten Linken und Grünen noch 302 Mandate gewonnen. In der neuen Nationalversammlung bleiben ihnen davon 44 Sitze. Die Sozialisten alleine schrumpfen von 273 auf ganze 29 Mandate. „Ein Debakel sondergleichen”, so der Generalsekrtetär und amtierende Parteichef Jean-Christophe Cambadélis. Er und andere Partei-Granden kehren nicht in den Palais Bourbon zurück. Cambadélis gab auch gleich sein Parteiamt auf.

Als „Ente ohne Kopf“ beschreibt die Pariser Tageszeitung Le Monde die praktisch am Boden zerstörte Sozialistische Partei. Ihre Zukunft ist ungewiss, die Auflösung schreitet voran: Unter den 30 sozialistischen Abgeordneten im neuen Parlament befinden sich sowohl Getreue von Ex-Präsident Franςois Hollande wie ehemalige Frondeure, die fünf Jahre lang der Regierung das Leben so schwer wie möglich gemacht haben. Der Richtungsstreit der französischen Sozialisten geht in die nächste Runde.

Wir müssen alles neu aufbauen.

Jean-Franςois Copé, Ex-Parteichef der Républicains (damals noch UMP)

Aber auch die bürgerliche Rechte – Les Républicains (LR) und die Union der Demokraten und Unabhängigen (UDI) – erlebt eine vollständige Niederlage: Von 226 Mandaten können sie nur 131 retten, 113 für die Republikaner und 18 für die UDI. „Wir haben die unverlierbare Präsidentschaftswahl verloren und befinden uns in dieser verrückten Lage, dass die Rechte von den Franzosen regelrecht hinweggefegt worden ist“, analysiert nach der Wahl Jean-Franςois Copé, Ex-Parteichef und glückloser Präsidentschaftskandidat: „Wir müssen alles neu aufbauen.“ LR-Spitzenkandidat Franςois Baroin tröstet sich am Wahlabend mit einer „Fraktion, die wichtig genug ist, um unsere Überzeugungen zur Geltung zu bringen und unsere Werte zu verteidigen“.

Die Radikalen stärker

Am linken Rand konnten Jean-Luc Mélenchons Partei La France Insoumise (FI) 17 und die Kommunisten (PCF) 10 Mandate gewinnen. Für Mélenchon, der in Marseille selber ein Mandat gewann, reicht es damit zur Fraktionsbildung, für die in der Assemblée Nationale 15 Mandate notwendig sind. Der linksradikale Parteichef rief denn auch prompt zum „Widerstand gegen die Präsidentenmehrheit“ auf: „Ich sage der neuen Macht, dass wir ihr im Sozialrecht keinen Meter Terrain ohne Kampf überlassen werden.“

Widerstand gegen die Präsidentenmehrheit.

Jean-Luc Mélenchon, Parteichef der linksradikalen La France Insoumise

Marine Le Pens Rechtsaußen-Partei Front National konnte von zwei auf acht Mandate zulegen. Die Parteichefin und bisherige Europaabgeordnete selber gewann ihren Wahlkreis bei Calais und zieht damit um in den Palais Bourbon. Ihr Vize-Parteichef und enger Berater Florian Philippot konnte sich in seinem Wahlkreis im Département Moselle dagegen nicht durchsetzen.

Nicht gesund: Rekord-Wahlenthaltung

Auch das ist ein Rekord für die Fünfte Republik: 57,4 Prozent der Wahlberechtigten gingen gar nicht erst zur Wahl, und knapp zehn Prozent der Wähler wählten ungültig. Nur 38 Prozent der Wähler haben sich in ihren Wahlkreisen überhaupt für einen Kandidaten ausgesprochen. Was sich in der zweiten Wahlrunde vor allem gegen Macrons Partei und seine Kandidaten ausgewirkt hat. „Emmanuel Macron muss von nun an das Vertrauen wiederaufbauen“, titelt denn auch Le Monde im Leitkommentar. Die Parlamentswahlen zeigten, dass es „weder dem Präsidenten noch seinen Kandidaten“ gelungen sei, über den Kreis der Macron-Enthusiasten hinaus politische Bindung herzustellen, so das Blatt: „Die massenhafte Enthaltung ist nicht gesund.“ Le Monde weiter. „Keine Demokratie kann es lange aushalten, wenn ganze soziale Klassen, in diesem Fall vor allem die einfachen Leute, und ganze Altersgruppen, vor allem die jüngsten, zwischen kurzen Protestwahl-Schüben und langen Perioden der Wahlenthaltung pendeln.“ Von Macron-Begeisterung kann in Frankreich denn auch keine Rede sein: Le Monde schreibt von „gedämpfter Zustimmung zum Projekt des Präsidenten”. Macrons 62-prozentige Parlamentsmehrheit steht auf nur 15 Prozent der Wahlberechtigten.

Die anderen Fraktionen können ihre Rolle spielen, aber nicht die Gesetzgebung blockieren.

Le Monde

Immerhin, die Gefahr der Hypermehrheit für Macrons LRM und ein Parlament praktisch ohne Opposition ist vermieden, „und niemand wird am Ende bezweifeln, dass diese Korrektur eine gute Nachricht ist“, überlegt Le Monde. Die Gefahr, dass sich politischer Protest vom Parlament auf die Straße verlagere, sei reduziert, wenn nicht gebannt. Das Blatt begrüßt zugleich, dass die zentrale Parlamentsfraktion von anderen Fraktionen umgeben sei, „die zwar alle ihre Rolle spielen, aber nicht die Gesetzgebung blockieren können“. Soll heißen: Macron, seine Regierung und seine zum größten Teil politisch sehr unerfahrene Parlamentsmehrheit müssen jetzt liefern.

Viele sehr knappe Ergebnisse

Ganz vorbei ist der fast ein Jahr währende – und lähmende – französische Wahlzirkus aber noch immer nicht. In vielen Wahlkreisen hing das Schlussergebnis nur von wenigen hundert Stimmen ab, in 100 Wahlkreisen sogar von noch weniger. So konnte sich etwa der sozialistische Ex-Premier Manuel Valls in der Stadt Evry im Département Essonne, nahe Paris, nur mit 139 Stimmen Vorsprung gegen eine Kandidatin der linksradikalen Mélenchon-Partei durchsetzen – LRM hatte bemerkenswerterweise darauf verzichtet, Valls einen Kandidaten entgegenzusetzen. Den wohl knappsten Sieg errang mit nur acht Stimmen Vorsprung der republikanische Kandidat Jean-Pierre Door, ein Herzspezialist und Mann aus dem engeren Kreis um Ex-Präsident Nicolas Sarkozy, im vierten Wahlkreis des Département Loiret, 100 Kilometer südlich von Paris. Es wird also Anfechtungen geben, Nachzählungen und womöglich sogar Wahlwiederholungen.