Auftritt mit weltpolitischem Echo im Bierzelt in Trudering: Bundeskanzlerin Angela Merkel und Ministerpräsident Horst Seehofer. (Foto: CSU)
Angela Merkel

Ein Satz mit Nachhall

Die Zeiten der Verlässlichkeit sind vorbei. Die Europäer müssten ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen, fordert Bundeskanzlerin Angela Merkel bei einem Bierzeltauftritt in München. Ihre Worte finden großes internationales Echo.

„Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei. Das habe ich in den letzten Tagen erlebt. Und alles, was ich sagen kann, ist, wir  Europäer müssen unser Schicksal wirklich in unsere eigene Hand nehmen.” Die bemerkenswerten Sätze fielen auf dem gemeinsamen Wahlkampfauftritt von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Ministerpräsident Horst Seehofer im Bierzelt in Trudering. Merkel zog mit ihnen sozusagen ihre weltpolitische Bilanz aus dem Nato-Gipfel in Brüssel und dem gerade zuende gegangenen G7-Gipfel im sizilianischen Taormina.

Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei.

Bundeskanzlerin Angela Merkel

Die Bundeskanzlerin spielte damit allerdings nicht nur auf die USA und auf US-Präsident Donald Trump an − den sie in ihrer Rede nicht nannte – sondern auch auf das Brexit-Land Großbritannien. Merkel: „Wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in die eigene Hand nehmen − natürlich in Freundschaft mit den Vereinigten Staaten, in Freundschaft mit Großbritannien und als gute Nachbarn, wo immer das geht, auch mit Russland, auch mit anderen Ländern. Aber wir müssen wissen, wir müssen selber für unser Schicksal kämpfen.”

Trumpandbrexit

Merkels Worte haben international große Aufmerksamkeit gefunden. In amerikanischen Medien wurde Merkels Rede eines der Aufmacherthemen und löste eine größere Debatte aus, die wiederum von einigen Kommentatoren als übertrieben bezeichnet wurde. „Merkel schlägt ein neues Kapitel der US-europäischen Beziehungen auf”, schrieb etwa die Washington Post und bescheinigte der Kanzlerin „eine düstere Auslegung der transatlantischen Bindungen, die das Fundament der Sicherheit des Westens in Generationen seit dem Zweiten Weltkrieg waren”. Merkel habe sich eindeutig gegen Trump gewandt, so das Blatt: „Sie hat ihn glasklar zurückgewiesen, ohne ihn ein einziges Mal beim Namen zu nennen.

Neues Kapitel der US-europäischen Beziehungen

Washington Post

„Die Kanzlerin, Europas einflussreichste Anführerin, schaut bereits über Trump hinaus”, schrieb die allerdings besonders Trump-kritische New York Times. Erkennbar enttäuscht habe sie aus den Begegnungen beim G7-Gipfel geschlossen, dass die USA unter Trump ihrem Land und ihrem Kontinent nicht mehr der verlässliche Partner seien, an dem man sich früher wie automatisch orientiert habe.

Seit 1945 haben erst die UdSSR und dann Russland versucht, einen Keil zwischen Deutschland und die USA zu treiben. Dank Trump hat Putin es geschafft.

Anne Applebaum, amerikanische Kolumnistin

Die bekannte amerikanische Kolumnistin und Pulitzer-Preisträgerin Anne Applebaum − sie ist die Ehefrau des ehemaligen polnischen Außenministers Radoslaw Sikorski − schrieb auf Twitter: „Seit 1945 haben erst die UdSSR und dann Russland versucht, einen Keil zwischen Deutschland und die USA zu treiben. Dank Trump hat Putin es geschafft.” Der New Yorker Medienwissenschaftler Jeff Jarvis kommentierte Merkels Ansprache auf Twitter: „Dieses ist eine bedeutende Rede in der Restrukturierung der Weltmächte. Wer bei Sinnen ist, muss ein starkes Europa unterstützen, um Russland zu kontern − und Trump.” Viele Kommentare verwiesen aber auch darauf, dass die Kanzlerin in einem Bierzelt gesprochen habe: Wer aus dieser Rede nun eine Neudefinition des transatlantischen Verhältnisses machen wolle, blase eine Wahlkampfrede unverhältnismäßig auf.

Von Deutschland aus betrachtet sieht Mr. Trumps Amerika einfach hässlich aus und fast von Natur aus unberechenbar.

The Economist

Merkels Worte seien in Deutschland völlig unkontrovers, kommentiert die Londoner Wochenzeitung The Economist: „Von hier aus betrachtet sieht Mr. Trumps Amerika einfach hässlich aus und fast von Natur aus unberechenbar.” Merkels Ausführungen führten vor, wie sehr die beiden Phänomene Trump und Brexit − The Economist: „Trumpandbrexit” − den USA und Großbritannien in den vergangenen Monaten geschadet hätten: „Sie haben es nicht nur möglich gemacht, dass die Regierungschefin eines entscheidend wichtigen Partners auf sie [USA und Großbritannien, A.d.V.] eindrischt, sondern dass das für sie regelrecht nützlich ist im Wahlkampf.”

Emmanuel Macron und Wladimir Putin

Als „unheilvolle Bilanz der Europa-Tournee von Donald Trump” beschreibt die Pariser Tageszeitung Le Monde Merkels Worte in Trudering. Man könne sie auch als „bewusste Dramatisierung“ verstehen, so das Blatt: „Denn in Wirklichkeit befindet sich Deutschland in tiefer Verzweiflung. Das Land hat immer auf die Angelsachsen gezählt, um sich auf dem alten Kontinent nicht zu alleine und zu mächtig fühlen zu müssen. Auf der einen Seite haben die Amerikaner Frieden und Sicherheit garantiert. Auf der anderen Seite haben die Briten den Freihandel gegen Frankreichs protektionistische Versuchungen verteidigt. Der Brexit und die Abwendung Amerikas haben dieses Gleichgewicht über den Haufen geworfen.”

Deutschland befindet  sich in tiefer Verzweiflung.

Le Monde

Deutschland wolle nicht die alleinige Kontinentalmacht sein, erkennt Le Monde. „Wenn Merkel sagt: Wir Europäer, dann drückt sie damit einen Appell an Frankreich aus” − und keineswegs zufällig einen Tag bevor Präsident Emmanuel Macron in Versailles Wladimir Putin empfange, warnt das Blatt: Frankreichs neuer Staatsschef müsse aufpassen, sich nicht auf einen Alleingang einzulassen, „der nach Großvaters Hybris und Gaullismus rieche, aber wirkungslos wenn nicht schädlich sei.” Le Monde: „Die Antwort muss wirklich europäisch sein.”

Europa − das kleine Kap Asiens

In Deutschland gab der Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, Merkel teilweise recht. In der Tageszeitung Bild warnte er jedoch davor, nun die transatlantischen Verbindungen zu kappen. Ischinger: „Zum einen werden wir die Sicherheit Europas nicht weiterhin einfach an die USA auslagern dürfen, müssen also mehr für Sicherheit und Verteidigung ausgeben und die EU zum Sicherheitsprovider ausbauen.” Zum anderen wäre es aber ganz falsch, so Ischinger, „jetzt denen zu folgen, die die transatlantische Nabelschnur am liebsten gleich ganz durchtrennen möchten”. Ischinger weiter: „Auch wenn’s sehr ärgerlich wird − wir Europäer können alle unsere globalen Ziele leichter durchsetzen, wenn wir sie gemeinsam mit den USA vertreten.” Die Europäer, so der ehemalige Spitzendiplomat und Botschafter in Washington, müssten mit strategischer Geduld weiter daran arbeiten, „dass Trump anerkennt, dass wir Europäer weit und breit seine besten Partner sind”.

Man wird sich noch nach dem US-Schutzschild sehnen.

Rheinische Post

Auf die Kosten einer neuen europäischen Politik ohne Amerika weist die in Düsseldorf erscheinende Rheinische Post hin. Merkel habe recht, wenn sie sage, dass die Europäer ihr Schicksal stärker in die eigene Hand nehmen müssten: „Was sie nicht gesagt hat, ist, dass dies teuer wird für die Steuerzahler. Die größte Volkswirtschaft der EU wird sich stärker in Nordafrika engagieren, mehr Mittel für Investitionen in den gebeutelten Südländern bereitstellen und bei den Militärausgaben aufstocken müssen. Und Deutschland wird auf Souveränität verzichten.” Das Düsseldorfer Blatt ahnt: „Man wird sich noch nach dem US-Schutzschild sehnen.”

Wir Europäer können alle unsere globalen Ziele leichter durchsetzen, wenn wir sie gemeinsam mit den USA vertreten.

Botschafter Wolfgang Ischinger, Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz

Bleibt eine Frage: Was ist der Westen ohne Amerika? Was ist Europa ohne die USA? Eine Antwort gab vor einem knappen Jahrhundert der französische Dichter, Essayist und Philosoph Paul Valery (1871-1945): „Europa – das kleine Kap Asiens.” Ein Blick auf einen Globus gibt ihm sofort recht. (dpa)