Stadt gegen Land
Keine Wahl ist schon vor der Wahl entschieden – auch nicht Frankreichs Präsidentschaftswahl. Nach dem ersten Wahlgangs ist Frankreichs politische Landschaft in unberechenbarer Bewegung. Umso mehr wird es auf die Parlamentswahl im Juni ankommen.
Frankreich

Stadt gegen Land

Keine Wahl ist schon vor der Wahl entschieden – auch nicht Frankreichs Präsidentschaftswahl. Nach dem ersten Wahlgangs ist Frankreichs politische Landschaft in unberechenbarer Bewegung. Umso mehr wird es auf die Parlamentswahl im Juni ankommen.

„Wir erleben den Umsturz des Systems, das 60 Jahre lang unser politisches Leben beherrscht hat. Die Parteien wollten und konnten sich nicht beizeiten reformieren. Jetzt tun es die Wähler für sie.“ In der Wochenzeitung Paris Match hat der der renommierte französische Geograph Christophe Guilluy es vorausgesehen, zehn Tage vor der Wahl. Und so ist es gekommen: Nach der ersten Wahlrunde um Frankreichs Präsidentschaft löst sich das Parteiensystem der Fünften Republik auf.

Frankreichs „42. April“

Vom doppelten 21. April –  oder vom „42. April“ – sprach ein origineller Kommentator am Wahlabend. Das war die Erinnerung an jenen 21. April 2002, vor 15 Jahren, als Jean-Marie Le Pen, Chef des rechtsradikalen Front National (FN), den sozialistischen Kandidaten und Ex-Premier Lionel Jospin aus dem Rennen um die Präsidentschaft warf. Das Schock-Datum ist unvergessen. Jetzt hat das Schicksal nicht nur die Sozialisten, sondern mit ihnen auch die andere große staatstragende Partei, die konservativen Les Républicains, getroffen – sozusagen ein doppelter 21. April.

60 Jahre lang haben Frankreichs Sozialisten und Konservative die Präsidentschaft unter sich ausgemacht. Nicht mehr. In den Vorwahlen haben die Wähler erst deren alte Parteigranden in die Wüste geschickt und dann, in der ersten Wahlrunde, die beiden Parteien selber: Republikaner und Sozialisten kamen zusammen nur auf 26,3 Prozent.

Für die Sozialisten kann es kein Zurück zum Status quo ante geben.

Le Figaro

Jetzt stehen beide Parteien vor der Implosion, ahnt die Pariser Tagezeitung Le Monde. Für den Kandidaten der Sozialisten, Benoît Hamon, ist das 6,3-Prozent-Ergebnis die ultimative Demütigung – gegen 19,6 Prozent für den linksradikalen Jean-Luc Mélenchon. Die Sozialisten haben die Hegemonie über Frankreichs Linke verloren, kommentiert Le Monde. Der Partei droht die Zerreißprobe. Sicher ist: Für die Sozialisten wird es kein Zurück zum Status quo ante geben. Das Ende einer Epoche.

Was für ein Riesenschlamassel

Le Figaro

Die Konservativen sind verzweifelt. „Was für ein Riesenschlamassel“, kommentierte am Montag nach der Wahl der konservative Pariser Le Figaro auf Seite Eins: „Die unverlierbare Wahl ist verloren. Das Undenkbare setzt sich durch. Das Unmögliche ist passiert.“ Nie war auf der Rechten der Wunsch nach dem politischen Wechsel größer, nie war Frankreichs bürgerliche Rechte stärker. Trotzdem ist sie gescheitert.

Gescheitert am 39 Jahre jungen, parteilosen Emmanuel Macron, der noch nie je für irgendetwas gewählt wurde. Und an der FN-Chefin Marine Le Pen. Er hat es in drei Jahren vom unbekannten Präsidentenberater an die Schwelle des Elysée-Palasts gebracht. Sie hat den Sprung über die 20-Prozent-Schwelle geschafft und für den FN seit dem 21. April 2002 etwa 2,8 Millionen Stimmen hinzugewonnen. Frankreichs Rechtsradikale sind zur fixen politischen Größe geworden. Vom „definitive Ende einer Epoche“, schreibt Le Monde.

Trumps Frankreich

Damit nicht genug. Zum Umsturz des Parteiensystems kommt die totale Umgestaltung der politischen Geographie des Landes. An die Stelle der politischen Teilung in ein rechtes und ein linkes Lager tritt eine ganz andre Spaltung: Im Frankreich der Metropolregionen konnte Macron bis zu 30 Prozent der Stimmen gewinnen. Im Frankreich der kleinen und mittelgroßen Städte und der ländlichen Regionen kam Le Pen auf bis zu 35 Prozent. Das Frankreich der globalisierten Großstädte steht gegen das Frankreich der wirtschaftlich und sozial fragilen ländlicheren Regionen. Geograph Guilluy: „Das ist das Frankreich der Oberschicht, gegen das periphere Frankreich, das Frankreich der Unterschicht.“

Das Frankreich der Oberschicht, gegen das periphere Frankreich, das Frankreich der Unterschicht.

Christophe Guilluy , politischer Geograph

Überlagert und verstärkt wird die neue soziale Kluft von einer geographischen Teilung: der Westen gegen den Osten. Im demographisch und ökonomisch dynamischen Westen fand Macron seine Wähler, in den alten, verfallenden Industrieregionen im Norden und Osten – und im Süden – Le Pen die ihren. „Trumps Frankreich“ titelte nach dem Wahlschock in den USA einmal Le Monde und schrieb über Frankreichs Rust Belt in Elsaß und Lothringen, über verzweifelte Bauern in der Normandie, bedrängte Arbeiter in Burgund und in der Camargue. „Zwei Frankreich stehen sich gegenüber, unvereinbarer denn je“, kommentiert nun Le Figaro.

Vor der Stichwahl am 7. Mai

Was kann das alles bedeuten für die Stichwahl am 7. Mai und für die Parlamentswahl im Juni, die wichtiger sein wird denn je? Aktuelle Umfragen zufolge wird Macron die Stichwahl mit etwa 62 Prozent klar für sich entscheiden. Nur: Vor 15 Jahren hat Chirac den alten Le Pen noch mit 82 Prozent geschlagen. 2002 ging 14 Tage lang eine millionenstarke Massenbewegung gegen den Front National auf die Straßen, im ganzen Land. Nach dem „42. April“ des Jahres 2017 ist davon keine Spur: Die sogenannte Republikanische Front aller Parteien gegen die extreme Rechte gibt es nicht mehr. Ein Zeichen: Der linksradikale Mélenchon verweigert die Wahlempfehlung gegen Le Pen.

Nachdenklich macht der Blick auf fünf bunte Wahlergebnis-Karten in Le Monde: Wo Le Pen stark war, waren es in der ersten Wahlrunde auch Mélenchon und die zweitstärkste Wählergruppe: die Nichtwähler (21,77 Prozent). Ob diese beiden Wählerkontingente sich am 7. Mai für Macron entscheiden? Zur Erinnerung: Fast 50 Prozent der Wähler haben am 23. April links oder rechts radikal gewählt, wollten „la rupture“ – den großen Bruch. Die Metropolregion gehören Macron, aber im anderen Frankreich, in den ländlichen Regionen, leben 60 Prozent der Bevölkerung.

Keine Wahl ist vor dem Wahlabend gewonnen.

Franςois Bayrou

„Keine Wahl ist vor dem Wahlabend gewonnen“, warnt denn auch Franςois Bayrou, der zentristische Führer der Demokratischen Bewegung (MoDem). Nach drei Präsidentschaftskandidaturen ist er dieses Mal nicht selber angetreten, sondern hat sich früh auf die Seite Macrons geschlagen. Er wird schon als dessen Premierminister gehandelt. Bayrous Warnung ist berechtigt: Frankreichs politische Landschaft ist in schwer berechenbare Bewegung geraten, nichts ist mehr stabil.

Entscheidende Parlamentswahl im Juni

Das könnte sich vor allem im Juni beweisen, wenn die Nationalversammlung gewählt wird und der neue Präsident seine Mehrheit erhalten soll – oder dieses Mal eben auch nicht. Am 23. April lag Marine Le Pen in 47 Départements in Führung, Macron in 42. In 230 von 566 Wahlkreisen entschied Macron die Wahl für sich, Le Pen in 216. Gewiss, die politische Landkarte der Wahl im Juni wird nicht die vom 23. April sein. Trotzdem hält Le Monde für möglich, dass in die neue Nationalversammlung nicht nur mehr zwei, sondern 100 oder mehr Abgeordnete des Front National einziehen werden.

Auch die Républicains könnten stark abschneiden, meint das Blatt. Ihre Kandidaten sind in den Wahlkreisen verankert, die Wähler sind hochmobilisiert. Und die Sozialisten können darauf vertrauen, ihr Ergebnis vom 23. April deutlich zu überbieten.

Die Parlamentswahl gibt der Rechten die Gelegenheit, dem neuen Präsidentern eine Kohabitation aufzuzwingen.

Le Figaro

Die Republikaner fühlen sich um die sicher geglaubte Präsidentschaft betrogen. Im Juni wollen sie die Revanche. Die Fortsetzung der sozialistischen Regierung unter Hollandes Berater und Wirtschaftsminister Macron – Wahlkampf-Stichwort: „Emmanuel Hollande“ – soll unbedingt verhindert werden. Einem Präsident Macron wollen sie dann eine sogenannte Kohabitation aufzwingen, die Koalitionsregierung mit einem bürgerlichen Premierminister und einer bürgerlichen Regierungsmehrheit.

Macron wird am 7. Mai vermutlich gewinnen. Aber danach wird es erst richtig schwierig werden – für ihn, für Frankreich und für Europa.