Der Aggressor: Wladimir Putin. (Bild: Imago/Christian Thiel)
Russland

Putin rasselt mit dem Säbel

Zwischen Russland und dem Westen wachsen die Spannungen: Moskau stationiert Nuklearraketen in der Enklave Königsberg. Russische Funktionären sollen angeblich Angehörige aus dem Ausland zurückholen. Außenminister Kerry droht mit Vergeltung für die Cyber-Einmischung in den US-Wahlkampf. Vor dem Wachwechsel in Washington will Moskau in Syrien, in der Ukraine und anderswo neue Fakten schaffen.

Die Raketen zielen auf die öffentliche Meinung der nordosteuropäischen Nato-Länder. Sie sollen verunsichern. Zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres hat Russland Kurzstreckenraketen vom Typ Iskander-M in die russische Exklave Königsberg verlegt. In aller Öffentlichkeit: Eine der Raketen wurde ganz bewusst einem amerikanischen Aufklärungssatelliten ausgesetzt, hieß es aus Moskau. Die Raketen können mit nuklearen Sprengköpfen bestückt werden und haben eine Reichweite von etwa 500 Kilometern. Damit bleiben sie exakt unterhalb der Reichweite jener Kurz- und Mittelstreckenraketen, die nach dem INF-Vertrag von 1987 vernichtet werden mussten.

Baltisches Kriegs-Szenario

In Polen und in den baltischen Republiken Litauen, Lettland und Estland beobachtet man die demonstrative russische Raketenstationierung in Kaliningrad mit Sorge. Kein Wunder, der Ort ist besonders sensibel. Zwischen der russischen Exklave Königsberg und Weißrussland verläuft die nur 104 Kilometer lange Grenze zwischen Litauen und Polen – die einzige Landverbindung der drei Nato-Länder Litauen, Lettland und Estland mit dem Rest des Nato-Territoriums. In Nato-Kreisen ist man sich spätestens seit der russischen Okkupation der Krim sehr bewusst, dass Moskau in der Lage wäre, mit einem raschen militärischen Schnitt diese Verbindung zu kappen. Die Baltenrepubliken wären von Russland und Weißrussland umschlossen und Moskau ausgeliefert.

Als Teil großer Manöver hat Russland in den vergangenen Jahren mehrfach Nuklearangriffe auf Warschau geübt.

Die Nato hätte dann nur noch die Wahl, entweder den fait accompli hinzunehmen oder die Verbindung zwischen Polen und Litauen freizukämpfen und die Baltenrepubliken zurückzuerobern – und angesichts von Nuklearraketen in Königsberg die atomare Eskalation zu riskieren. Als Teil großer Manöver hat Russland in den vergangenen Jahren mehrfach Nuklearangriffe auf Warschau geübt. Das Szenario ist der Grund dafür, dass sich die Nato auf ihrem Juli-Gipfel in Warschau dazu entschlossen hat, vier Bataillone mit etwa 4000 Soldaten in die bedrohte Region zu verlegen – sehr zum Missvergnügen Moskaus.

Mit den Iskander-Raketen hält Russland das bedrohliche Szenario in allen Nato-Köpfen ganz bewusst wach. Nicht nur das: Fast gleichzeitig hat Moskau übungshalber drei normalerweise mit Atomsprengköpfen bewaffnete Interkontinentalraketen abgefeuert – eine im Ochotskischen Meer nördlich von Japan, eine von einem U-Boot in der Barentssee aus sowie eine weitere im Nordwesten des Landes.

Wachsende Spannungen zwischen Russland und dem Westen

Russlands Präsident Wladimir Putin rasselt hörbar mit dem Säbel: Moskau hat weitere Flugabwehrraketen-Batterien nach Syrien verlegt – obwohl hier neben den russischen nur Assad- und NATO-Flugzeuge unterwegs sind – sowie Raketenkreuzer in Gewässer nahe Syriens. Im Atlantik und den angrenzenden Meeren steigt die Aktivität russischer Atom- und Jagd-U-boote, berichtet die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Russische Flugzeuge verletzen regelmäßig den Luftraum der Baltenrepubliken oder kommen auch schon einmal der Bretagne nahe. In der vergangenen Woche hat Moskau im Land die größte Katastrophenschutz-Übung abhalten lassen, die es dort je gab – mit einem Drittel der Landesbevölkerung.

Machtdemonstration: Putin sagt Besuch in Paris ab.

Die ostentativen Moskauer Gebärden fallen zusammen mit sich aufschaukelnden Spannungen zwischen Russland auf der einen und Washington und den westlichen Hauptstädten auf der anderen Seite: Im UN-Sicherheitsrat blockierte Russland eine französische Resolution, die die sofortige Einstellung der Bombardierung Aleppos forderte. Paris sprach von Kriegsverbrechen, deren Urheber sich vor internationalen Gerichten verantworten müssten – womit implizit nicht nur Syriens Diktator Bashar Assad, sondern auch Putin gemeint war. Frankreichs Präsident François Hollande stellte im Fernsehen Putins für den 19. Oktober vorgesehenen Besuch in Paris in Frage: „Ich habe mir die Frage gestellt: Ist das nützlich? Ist das notwendig? … Wenn ich ihn empfange, dann werde ich ihm sagen, dass das [die Luftangriffe auf Aleppo, A.d.V.] unakzeptabel ist.“ Putin reagierte mit der Verschiebung des Besuches „bis es Paris besser passt.“ Eine Absage, wie sie in der internationalen Politik selten vorkommt.

Cyber-Intervention in den US-Wahlkampf

In Washington kommt zum Zorn über die russische Eskalation in Syrien die Erbitterung über angeblich von Moskau gesteuerte Cyber-Interventionen in den amerikanischen Wahlkampf. Die US-Regierung wirft Russland vor, hinter Hacker-Angriffen auf die Demokratische Partei und das Wahlkampfkomitee der Demokraten zu stecken und mit der Veröffentlichung kompromittierender E-Mails Einfluss auf den Wahlkampf zu nehmen. Am 11. Oktober drohte Außenminister John Kerry öffentlich mit Vergeltung und Cyber-Krieg. Niemand werde ungestraft davonkommen, so Kerry: „Und wir werden und können darauf antworten auf eine Weise und zu einem Zeitpunkt unserer Wahl.“ Der Internetzeitung The Washington Examiner zufolge ist jetzt auch das US-Verteidigungsministerium mit seinem Cyber-Command an der digitalen Absicherung der Wahlen beteiligt. Die Sache ist ernst.

Wir werden und können darauf antworten auf eine Weise und zu einem Zeitpunkt unserer Wahl.

US-Außenminister John Kerry

Aufsehen erregt hat zuletzt eine angebliche Moskauer Weisung an alle russischen Beamten und Funktionäre, unverzüglich ihre Kinder aus ausländischen – sprich europäischen – Schulen zurück zu holen. Viel zitiert wurde eine russische Internetseite und das Wort eines russischen Politikexperten, der von Maßnahmen sprach, welche „die Eliten des Landes auf einen großen Krieg vorbereiten sollten“. Doch dahinter steckt Harmloseres: In Moskau hat man verstanden, dass es im Lande ungut aussieht, wenn in Zeiten wachsender Spannungen mit dem Westen ausgerechnet russische Top-Funktionäre ihre Kinder an europäischen Universitäten studieren lassen. Sie könnten zugleich auch erst nach ihrer Rückkehr Faustpfand gegen widerständige Funktionäre sein.

Moskau will neue Fakten schaffen

Bleibt die Frage, was Moskau mit seinem aggressiven Verhalten bezweckt. „Russland meint es todernst“, glaubt der prominente russisch-amerikanische Politik-Professor Nikolas Gvosdev in der amerikanischen Zweimonatszeitschrift The National Interest unter dem Titel: „Die wachsende Gefahr eines militärischen Konflikts mit Russland.“ Moskau, so Gvosdev, wolle die Monate nutzen, die es noch dauern wird, bis eine neue US-Regierung wirklich handlungsfähig sei, um am Boden Fakten zu schaffen – in Syrien, in der Ukraine und anderswo – die der neue Präsident dann hinnehmen müsse. Wenn Gvosdev recht hat, drohen also weitere Konfrontationen.

Im Kalten Krieg ging es dem Kreml um den Staus quo. Jetzt steht Rückeroberung auf dem Programm.

Frankfurter Allgemeine Zeitung

Dazu passt die kluge Beobachtung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dass Wladimir Putin und Moskau heute etwas ganz anderes wollen als der Kreml zu Zeiten des Kalten Krieges und der Teilung Europas: „Damals ging es dem Kreml um den Staus quo. Jetzt steht Rückeroberung auf dem Programm.“ Putins Moskau wolle heute nicht seine Einflusssphäre erhalten, sondern sie zurückerobern, so das Blatt. Sogenannte Entspannungspolitik kann da nicht funktionieren. Washington und der Westen brauchen eine neue Russlandpolitik.