Frankreich im Oktober: Randale der Migranten während der Zwangsräumung des Flüchtlings-"Dschungels" von Calais. (Bild: Imago/Pete Maclaine/I Images)
Frankreich

Wenn Deutschland seine Grenzen öffnet…

Frankreich ist am Ende seiner Integrationsfähigkeit, darum lehnt es die Aufnahme weiterer Migranten ab. Im großen europäischen Wahljahr 2017 geht es aus Pariser Sicht aber auch um eine deutsch-französische Wirtschaftsregierung, ein neues Schengen-Abkommen und einen EU-Fonds für gemeinsame Militärinterventionen. Der Bayernkurier sprach mit Les Républicains-Führungsmitglied Luc Chatel.

Wer wird Präsidentschaftskandidat für Frankreichs bürgerliche Rechtspartei Les Républicains – Die Republikaner? Nicolas Sarkozy, Alain Juppé, François Fillon, Bruno Le Maire oder ein anderer der insgesamt sieben Kandidaten? Die Frage ist fast unvermeidlich, wenn man Luc Chatel gegenüber sitzt. Zusammen mit zwei ehemaligen Ministern aus der Zeit der Präsidentschaft von Nicolas Sarkozy – Parteichef Laurent Wauquiez und Generalsekretär Eric Woerth – gehört Chatel als Präsident der Parteibezirksvorstände heute der dreiköpfigen Parteiführung der Républicains an. Er war erst Staatssekretär, dann Bildungsminister unter Sarkozy und dessen Premierminister Franςois Fillon. Nach Sarkozys Abwahl 2012 war Chatel stellvertretender Vorsitzender der Sarkozy-Partei UMP, dann Generalsekretär der von Sarkozy umgegründeten Nachfolgepartei Les Républicains. Wenn Frankreichs Rechte die Präsidentschaftswahl im nächsten Mai und Juni gewinnt, wird der 52-jährige ehemalige Oberbürgermeister des nahe der Champagne gelegenen Städtchens Chaumont (22.560 Einwohner, Département Haut-Marne) ziemlich sicher im Kabinett sitzen, vielleicht als Arbeitsminister, mutmaßen Beobachter.

Die Epoche, in der die Mitglieder nur Karteikarten waren oder hinten im Saal saßen, um zu applaudieren, ist vorbei.

Luc Chatel

Chatel gilt als Sarkozy-Mann. Gern nutzt er in München die Gelegenheit zu erklären, was man sich in der Pariser Rue de Vaugirard, dem Sitz der Républicains, gedacht hat bei der Neu- oder Umgründung der Partei und bei der Entscheidung, Frankreichs bürgerliche Rechte zum ersten Mal Vorwahlen um die Präsidentschaftskandidatur durchführen zu lassen. Die Zeiten, in denen Parteimitglieder nur Karteikarten waren und gelegentlich in Versammlungssälen applaudieren durften, seien vorbei, meint Chatel. Heute wollen die Mitglieder – und die Wähler – ihre Meinung vortragen, sie wollen Debatten hören und selber mitreden. Und eben auch ihren Kandidaten auswählen. Chatel: „Wir haben darum vor einem Jahr eine neue Partei konstruiert, Les Républicains, mit mehr Demokratie, in der die Anhänger auf allen Ebenen ihre Verantwortlichen und ihre Wahlkandidaten auswählen.“

Vorwahlen der Républicains

Mehr innerparteiliche Demokratie und Mitwirkung − davon hängt heute der Wahlerfolg ab, betont Chatel. Denn wenn nur die Parteiführung den Präsidentschaftskandidaten auswählte, dann wäre dessen Legitimität sofort in Frage gestellt. Bei der aktuellen innenpolitischen Lage Frankreichs wäre das fatal: Weil Marine Le Pen und ihr rechtsradikaler Front National so gut wie sicher die zweite Wahlrunde erreichen werden, geht es für Républicains und Sozialisten schon in der ersten Wahlrunde um alles. Chatel: „Wenn wir, die Rechte, in der ersten Wahlrunde gespalten sind, dann riskieren wir, bei der zweiten Wahlrunde nicht mehr dabei zu sein.“ Die Vorwahl soll die bürgerliche Rechte und das Zentrum hinter einem Kandidaten einen.

Die Franzosen wollen die Sozialisten nicht mehr. Sie sind verraten und enttäuscht worden. Wir glauben nicht eine Sekunde lang, dass die Sozialisten gewinnen können.

Luc Chatel

Dazu kommt, dass angesichts Wirtschaftskrise, Nullwachstum, Rekordhaushaltsdefizit und anhaltender Massenarbeitslosigkeit die Popularität von Präsident Franςois Hollande auf dem absoluten Tiefststand ist: „Noch nie war ein Präsident der Republik so unbeliebt, noch nie.“ Die Sozialisten können die Wahl eigentlich nicht gewinnen. Chatel: „Es gibt eine enorme Ablehnung in der französischen öffentlichen Meinung. Die Franzosen wollen die Sozialisten nicht mehr. Sie sind verraten und enttäuscht worden. Wir glauben nicht eine Sekunde lang, dass die Sozialisten gewinnen können.“ Chatel spricht nicht aus, was das bedeuten könnte: Wenn die Sozialisten es in die Stichwahl schafften, dann hätte Marine Le Pen eine echte Chance.

Eingeständnis des Scheiterns

Dass die Sozialisten jetzt ihrem Amtsinhaber Hollande ebenfalls eine Vorwahl aufzwingen, hält Chatel für ein „Eingeständnis des Scheiterns und der Schwäche“ – zum Schaden der Republik. Denn nun muss sich der Präsident der Republik etwa nach einem Zweier-Gipfel in Berlin zuhause mit sozialistischen Gegenkandidaten der zweiten und dritten Reihe auseinandersetzen. Chatel: „Das entspricht überhaupt nicht dem Geist unserer Institutionen.“

Die Franzosen sind paradox: Sie wollen alles und sein Gegenteil.

Luc Chatel

Wollen die Franzosen im nächsten Jahr wirklich eine Wiederholung der Präsidentschaftswahl von 2012 sehen, mit genau dem gleichen Kandidaten-Tableau? „Wenn man sie direkt fragt, dann, glaube ich, wird die Mehrheit sagen: Nein“, meint auch Chatel. Aber so wird es nicht ablaufen. In den Vorwahlen entscheiden die Wähler selber. „Und wenn das Ergebnis Sarkozy ist, dann wird es eben Sarkozy sein.“ Bei den Sozialisten läuft es auf Hollande zu, glaubt Chatel: „Es wird also von ganz alleine kommen.“ Außerdem, so der Républicains-Parteigrande, seien die Franzosen halt paradox: „Sie wollen alles und sein Gegenteil. Sie wollen eine neue Person, aber zugleich hätten sie gerne einen Mann mit Erfahrung.“ Und heute, „in Krise und Krieg“, glaubt Chatel, „dass die Erfahrung den Ausschlag geben wird vor der Neuheit“.

Neuer Pakt des Vertrauens mit Deutschland

Der Einsatz im Wahljahr 2017 ist hoch. Für Frankreich und für ganz Europa. In Hollandes „Quinquennat“, wie die Franzosen die fünfjährige Amtsperiode ihres Präsidenten nennen, wurden die Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland geschwächt, so Chatel. Mit dem Ergebnis, dass die beiden Länder nicht mehr in der Lage sind, „in Europa mit einer Stimme zu sprechen, sich über das Essentielle zu verständigen und eine europäische Dynamik zu schaffen“. Chatel weiter: „Darum sind die Wahlen so wichtig: Es geht um einen neuen Pakt des Vertrauens zwischen den Deutschen und ihrer Regierung und den Franzosen und ihrer Regierung, also zwischen unseren beiden Ländern.“

Wenn Deutschland und Frankreich einer Meinung sind, dann neigen die anderen Länder in Europa dazu, dieses Einverständnis umzusetzen. Das ist es, was wir 2017 wiederfinden müssen.

Luc Chatel

Chatel hält den deutsch-französischen Motor in Europa für schwer beschädigt und macht Hollande dafür verantwortlich: „Ich glaube, dass Frankreich seinen Teil des Vertrages nicht erfüllt hat.“ Vor allem in der Wirtschaftspolitik. Frankreich hat nicht reformiert: „Leider ist Frankreich ein Land des Südens und ist finanziell schlecht geführt – das ist ein Problem des Vertrages mit Deutschland.“ Regelrecht wütend macht es Chatel, dass Hollande nach 2012 aktiv nach einem Ersatz für die Partnerschaft mit Deutschland gesucht hat: „Er hat bei Italien Rückhalt gesucht, bei Großbritannien, er hat am Anfang alles gemacht, um Deutschland zu umgehen. Obwohl es ohne französisch-deutsche Kooperation in Europa keine Lösung geben kann.“ Wenn Deutschland und Frankreich einer Meinung sind, dann neigen die anderen Länder in Europa dazu, dieses Einverständnis umzusetzen. „Das ist es, was wir 2017 wiederfinden müssen.“ In Paris und in Berlin.

Wir haben gar keine Wahl. Wir haben über zwei Billionen Euro Schulden. Wir müssen eine liberale Politik führen.

Luc Chatel, zu Strukturreformen

Reformen in Frankreich – Ausgaben- und Steuersenkung gleichzeitig – geht das überhaupt? „Diese Reformen sind einfach unausweichlich“, entgegnet Chatel. Frankreich, sagt er, ist das Land mit den höchsten Abgaben aller entwickelten Länder, mit einem Rekordstand bei den öffentlichen Ausgaben, mit gefährlich hoher Staatsverschuldung und einem zu hohem Haushaltsdefizit. „Wir haben gar keine Wahl. Wir haben über zwei Billionen Euro Schulden. Wir haben keine Wahl. Wir müssen eine liberale Politik führen.“ Die Républicains bereiten für Frankreich denn auch einen „Fiskal-Schock“ vor, wie er es nennt: Ausgabensenkungen um fünf Milliarden Euro in fünf Jahren, Senkung der Lasten für die Unternehmen und der Arbeitskosten, Streichung der Vermögenssteuer, Senkung der Kapitalsteuer, Senkung der Einkommenssteuer um zehn Prozent. Das Ziel heißt am Ende: ausgeglichener Haushalt.

Gemeinsame Wirtschaftsregierung und ein neues Schengen

Die Deutschen werden sich dabei auf die Rückkehr alter französisch-deutscher Vorhaben aus Paris einstellen müssen – womöglich in ultimativer Form. Chatel erinnert an Präsident Sarkozys Vorstellungen von einer gemeinsamen Wirtschaftsregierung mit gemeinsamer Wirtschafts- und Haushaltspolitik in Deutschland und Frankreich: „Ich glaube, dass das in den nächsten Jahren notwendig ist. Wir können nicht weiter machen, uns eine Währung zu teilen und gleichzeitig eine gegensätzliche Wirtschafts- und Haushaltspolitik zu haben. Wir brauchen eine Konvergenz der Raten, der Lasten, der Regeln und der Haushaltspolitik.“ Mit Bewunderung schaut Chatel auf den deutschen Haushaltsüberschuss, zum dritten Mal schon. Der französische Oppositionspolitiker staunt, dass die deutschen Steuerzahler 17 Milliarden Euro zurückerhalten sollen – nicht aus Schulden, sondern aus dem Überschuss: „In Deutschland ist gute Haushaltspolitik gemacht worden.“

Wenn Europa sein soziales Modell und sein Wirtschaftswachstum verteidigen will, dann braucht es viel stärkere Regeln: für den Schutz der Grenzen, für die Reisefreiheit im Inneren, für die Harmonisierung der Sozialabgaben – und das beginnt mit einem Dialog mit Deutschland.

Luc Chatel

Die Républicains wollen ab 2017 „zusammen mit den Deutschen das europäische Modell neu erfinden“, sagt Chatel. Europa könne nicht nur ein gemeinsamer Markt sein. Dazu gehört neben der deutsch-französischen Wirtschaftsregierung ein „neues Schengen“. Denn Europa könne nicht weiter offene Grenzen haben, bei unterschiedlicher Sozialpolitik in den Mitgliedsländern, die dann den Schutz ihrer Grenzen an die Nachbarn delegieren.

Chatel: „Wenn Europa sein soziales Modell und sein Wirtschaftswachstum verteidigen will, dann braucht es viel stärkere Regeln: für den Schutz der Grenzen, für die Reisefreiheit im Inneren, für die Harmonisierung der Sozialabgaben – und das beginnt mit einem Dialog mit Deutschland.“

Die Vorstellungen der Républicains gehen weit. Europa braucht einen neuen Vertrag, betont Chatel, in dem es sich um zwei Dinge herum neu konstruiert: „Erstens ein Wirtschaftsprogramm der Eurozone mit kohärenten Haushaltspolitiken, um zu teilen und um das Wachstum neue zu starten; und zweitens eine territoriale Kohärenz mit besser geschützten Grenzen und gemeinsamen Regeln auf dem Gebiet der Einwanderung, der Integration und der Kooperation mit Afrika.“

Einen EU-Fonds für militärische Interventionen „im europäischen Namen“

Das Stichwort Afrika führt zu einem weiteren Pariser Anliegen, das die Républicains nach einem Wahlsieg womöglich bald vortragen werden. Seit drei Jahren führt Frankreich im Sahelzonen-Land Mali militärische Operationen durch – „im europäischen Namen“, wie Chatel betont: „Denn wenn die  französische Armee in Subsahara-Afrika den Frieden schützt, dann bedeutet das entsprechend weniger Schwierigkeiten für die Länder Europas, für Italien, Spanien, für Griechenland, für Deutschland.“ Kann so ein Einsatz alleine Frankreichs Aufgabe sein? Die großen EU-Länder, beantwortet Chatel die Frage selber, sollten sich über eine gemeinsame Finanzierung verständigen für externe Operationen, „die im Namen Europas durchgeführt werden“.

Es ist utopisch von einer europäischen Armee zu reden, das kann nicht funktionieren.

Luc Chatel

Ein EU-Fonds für Militärinterventionen? Chatel: „Das ist eine Initiative, über die wir heute in Frankreich nachdenken.“ Frankreich, Deutschland, Italien, Großbritannien könnten aus ihren etwa gleich großen Verteidigungshaushalten Gelder in einen gemeinsamen Topf fließen lassen, „der gemeinsame auswärtige Operationen erlaubt, in der Migrationsfrage, zum Schutz der Grenzen oder Lampedusas, um nach Mali zu gehen und morgen vielleicht nach Algerien.“ Eine europäische Armee hält Chatel für utopisch und sagt das gleich zwei Mal  – „das kann nicht funktionieren.“ Chatel: „Aber ich glaube, Europa gewinnt, wenn es ein System der gemeinsamen Finanzierung hat für auswärtige Operationen, die es gemeinsam betreffen.“

Frankreich am Ende seiner Integrationsfähigkeit

Was hat sich Chatel gedacht, als er im vergangenen Jahr die Völkerwanderung über die Balkanroute beobachtete, was waren seine Gedanken bei Bundeskanzlerin Angela Merkels „Wir schaffen das“? Der Mann aus dem Führungstriumvirat der Républicains betont, dass er Merkel sehr schätze. „In Frankreich versuchen wir, ihre Geste zu begreifen.“ Als Geste der Humanität und der Verantwortung, die Deutschland vielleicht leichter gefallen sei als anderen Ländern − bei Vollbeschäftigung, hoher Wachstumsrate, Arbeitskräfte-Bedarf der Industrie und vielleicht einer höheren Integrationsfähigkeit als manche Nachbarn sie haben, so Chatel. „Aber das Problem war: Wenn Sie Deutschlands Grenzen öffnen, dann ist ganz Europa betroffen.“ Die Entscheidung hätte darum nicht von einem Land getroffen werden dürfen, sondern hätte auf europäischer Ebene diskutiert und entschieden werden müssen.

Wir können nicht mehr die Schleusen öffnen für eine Einwanderung, von der wir wissen, dass sie sich nicht integrieren kann.

Luc Chatel

Hat man es in Frankreich als Affront empfunden, dass Berlin den französischen Partner vor der Entscheidung zu Grenzöffnung nicht gefragt? Chatel will das nicht so sehen. Aber es habe diese Debatte in Frankreich gegeben, „einige meiner politischen Freunde eingeschlossen, die gesagt haben: Was macht Merkel da?“ Implizit wirft aber auch Chatel Berlin vor, bei der Grenzöffnung im vergangenen Sommer nicht bedacht zu haben, dass dem automatisch mit betroffenen Nachbarn Frankreich Merkels große humanitäre Geste viel schwerer fallen musste: „Frankreich hat fünf Millionen Arbeitslose und schon eine sehr große Einwanderungsgesellschaft, die nicht vollständig integriert ist.“ In Frankreichs beginnendem Wahlkampf spielt derzeit das Stichwort von der „Identität“ Frankreichs und der Franzosen eine große Rolle. Chatel: „Wir können nicht mehr die Schleusen öffnen für eine Einwanderung, von der wir wissen, dass sie sich nicht integrieren kann.“ Dann fällt ein dramatisches Wort: „Wir haben eine Schwelle erreicht, die die Integration unmöglich macht.“ Frankreich, heißt das im Grunde, kann keine weitere Einwanderung mehr verkraften. Das sollte man in Berlin in Rechnung stellen.

Wenn Sie Deutschlands Grenzen öffnen, dann ist ganz Europa betroffen.

Luc Chatel

Aus dem Grund wollen die „Républicains“, jedenfalls diejenigen um Ex-Präsident Sarkozy herum, auch die Familienzusammenführung suspendieren. Zu dem Thema habe Merkel noch nichts gesagt, merkt Chatel an. „Wir glauben, dass wir so lange nicht mit der Familienzusammenführung weitermachen können, wie wir das Problem des Schutzes unserer gemeinsamen Grenzen nicht gelöst und keine gemeinsamen Einwanderungsregeln haben.“

Frankreich und Deutschland müssen einen „neuen Pakt über Einwanderung, über den Schutz der Grenzen und über Integration“ schließen, wünscht sich Chatel. Null Einwanderung könne es nicht geben, das wäre utopisch, sag er: „Aber zwischen null Einwanderung und offenen Türen gibt es ein angemessenes Gleichgewicht. Das müssen wir finden, mit Deutschland, mit den europäischen Partnern.“ Eine Einwanderung, „die Integration erlaubt, möglich macht“, brauche gemeinsame Politik, gemeinsame Regeln und vor allem einen gleichen sozialen Schutz. „Denn wenn es zwischen den Europäern sozialpolitischen Wettbewerb gibt, dann schaffen wir eine verheerende Sogwirkung.“

Französische Migrations-Ängste: Algerien und Afrika

Anders als in Deutschland hat man in Frankreich ganz real drohende Migrationsszenarios vor Augen. Chatel beschreibt eines von ihnen: „Stellen Sie sich vor, morgen früh kommt Algerien in Schwierigkeiten, weil es nach Bouteflika Probleme bei der Regime-Nachfolge gibt. Was leicht möglich ist. Dann geht es nicht um fünf Millionen, sondern um 40 Millionen Einwohner, 600 Kilometer von Marseille entfernt. Stellen Sie sich vor, was dann passiert!“ Der Spitzenpolitiker der Républicains erinnert außerdem an die demographische Explosion in Afrika, dessen Bevölkerung sich in dreißig Jahren auf weit über zwei Milliarden verdoppeln wird: Nigeria wird schon in zwanzig Jahren nach China und Indien weltweit die drittgrößte Bevölkerung haben; die Sahelzone wird in zwanzig Jahren 200 Millionen Einwohner zählen. Chatel: „Die Zahlen müssen uns aufschrecken. Afrika ist nur zwölf Kilometer von Europa entfernt. Die Deutschen wissen das vielleicht nicht, aber die Franzosen.“

Die Wirkung der Bilder von den Willkommensschildern ist zweifellos unterschätzt worden: Das hat eine Sogwirkung ausgelöst.

Luc Chatel

Auch vor diesem Hintergrund war Berlins humanitäre Geste problematisch, wenn nicht gefährlich. „Wir leben in einer globalisierten Welt“, erinnert Chatel, in der syrische Flüchtlinge oder die Bevölkerung in Subsahara-Afrika per Satelliten-TV oder im Handy sehen, was in Frankreich oder Deutschland passiert. Wenn Syrer oder Afrikaner dann Willkommensschilder sehen, dann sagen sie sich: „Warum nicht ich?“ Chatel: „Das hat eine Sogwirkung ausgelöst, die Wirkung der Bilder ist zweifellos unterschätzt worden.“

Gescheiterte Integration und Bürgerkriegsängste

Seit den islamistischen Terroranschlägen des vergangenen Jahres fällt in der französischen Presse beunruhigend häufig der Begriff vom Bürgerkrieg. Sogar Geheimdienstchef Patrick Calvar hat schon vor drohendem Bürgerkrieg gewarnt – eine Übertreibung? Nein, das Wort ist ernst gemeint. Dahinter steckt eine ernste Sorge, erläutert Chatel. „Wir sprechen vom Bürgerkrieg, weil die Urheber der Attentate vom Bataclan oder von Charlie Hebdo Franzosen sind. Das sind keine Saudis wie bei 9/11, das sind Franzosen.“ Ergebnisse einer gescheiterten Integration in der zweiten oder dritten Generation. Chatel: „Wir sind zweifellos zu großzügig gewesen mit der Öffnung unserer Grenzen, was Ghettoisierung zur Folge hatte und eben dass ein Teil der Maghreb-Einwanderer heute nicht integriert ist“. Fruchtbarer Boden für die Rekruteure des Islamischen Staats und anderer Terrorbewegungen, die nun französische Bürger für ihren Krieg gegen Frankreich einsetzen. Das habe Geheimdienstchef Calvar gemeint: „Wir haben Tausende von Franzosen – Franzosen, Franzosen! –, die so schlecht integriert sind, dass sie jeden Moment abgleiten und auf die Sirenen des islamischen Staat hören können.“ Frankreich, betont Chatel noch einmal, ist „an den Grenzen seiner Integrationsfähigkeit“ angelangt.

Was bedeuten Migranten-Quoten bei völliger Reisefreiheit im Schengenraum?

Luc Chatel

Premierminister Manuel Valls hat Anfang des Jahres angekündigt, Frankreich werde 2016 insgesamt 30.000 Asylbewerber aufnehmen. Jetzt werden es wohl doch 100.000 Migranten werden. Ist das sozusagen Frankreichs Obergrenze? Chatel versteht den deutschen Begriff von der „Obergrenze“ als „Quote“, und auf die will er sich nicht einlassen. „Was bedeuten diese Quoten bei völliger Reisefreiheit im Schengenraum?“ Chatel versteht nicht, dass man − in Brüssel oder Berlin − darauf besteht, Migranten-Quoten zuzuteilen, bevor man überlegt hat, wie man die Grenzen schützt, welche gemeinsamen Einwanderungsregeln gelten und wie man sie umsetzt. „Ich glaube, wir packen das Problem vom falschen Ende her an.“ Also keine Umverteilung von Migranten auf europäischer Ebene? Chatel: „Doch, aber erst an dem Tag, an dem wir unsere gemeinsame Politik beschlossen haben für den Schutz der Grenzen, für die Sozialleistungen, für die Regeln der Integration und der Einbürgerung. Solange man das nicht gemacht hat, ist jede Umverteilung nur theoretisch.“