Paralympics mitten in Brasiliens Krise
In Rio de Janeiro beginnen die Paralympics. Mit 4350 Athleten aus 160 Ländern sollen die Weltspiele des Behindertensports die größten ihrer Geschichte werden. Währenddessen steuert Brasilien politisch und wirtschaftlich in unruhige Zeiten. Nach dem Sturz der linken Präsidentin Dilma Rousseff, will ihr konservativer Nachfolger Michel Temer in dem Krisen-Land einen Politikwechsel durchsetzen.
Rio de Janeiro

Paralympics mitten in Brasiliens Krise

In Rio de Janeiro beginnen die Paralympics. Mit 4350 Athleten aus 160 Ländern sollen die Weltspiele des Behindertensports die größten ihrer Geschichte werden. Währenddessen steuert Brasilien politisch und wirtschaftlich in unruhige Zeiten. Nach dem Sturz der linken Präsidentin Dilma Rousseff, will ihr konservativer Nachfolger Michel Temer in dem Krisen-Land einen Politikwechsel durchsetzen.

Die Paralympics 2012 waren Spiele der Superlative. In London stieß der Behindertensport im Leistungsniveau, bei der Berichterstattung und den Zuschauerzahlen in neue Dimensionen vor. Die brasilianischen Veranstalter möchten das wiederholen, wenn nicht gar die Erwartungen übertrumpfen. Doch die Spiele der Behindertensportler stecken in einem Dilemma. Noch nie war die Paralympische Bewegung mit mehr als 4300 Sportlern aus über 160 Nationen so groß. Noch nie wurde das größte Ereignis, das sie zu bieten hat, in mehr als 100 Länder übertragen. Doch gerade diese Paralympics werden auch von schwerwiegenden Problemen und sportpolitischen Entscheidungen überlagert. Dabei wollen die unter enormen Finanzproblemen leidenden ersten Paralympischen Spiele in Südamerika mit Improvisationstalent positiv überraschen.

Wir reisen in der Erwartung nach Rio, dass ein Haufen mehr Dinge auf uns zukommen als sonst. Es gibt logistische und organisatorische Einschnitte. Aber mein Vertrauen in die Organisationskraft des Internationalen Paralympischen Komitees ist sehr groß.

Friedhelm Julius Beucher, Präsident des Deutschen Behindertensportverbandes

In Rio de Janeiro sollen den Menschen quasi „im Vorbeigehen“ die Sportarten erklärt werden. Auf elektronischen Werbetafeln werden zum Beispiel in kurzen Clips die Regeln im Rollstuhl-Basketball erläutert. Der frühere Fußballstar Ronaldinho hat den Song „Ich bin Teil der Welt, ein Gewinner“ als Hommage an die Sportler mit Behinderung aufgenommen. Im Internet kommt das Lied zumindest gut an. Journalisten schildern die Schicksale der brasilianischen Teilnehmer und bringen das Thema damit in die Medien.

Infrastruktur für Behinderte unzureichend

Die Infrastruktur für Menschen mit Behinderung in Rio steckt allerdings noch in den Anfängen. So sind Aufzüge und barrierefreie Zugänge oft Fehlanzeige, viele Behinderte können die Wohnung kaum verlassen. Die Vermutung kommt auf, dass die Olympischen Spiele für Rio eine Nummer zu groß sind, gerade in Sachen Transport. Vor dem Start der Paralympics scheint das System mit Sonderbus-Spuren besser zu funktionieren, auch weil alles eine Nummer kleiner ist: 4350 Sportler und bis zu 2,5 Millionen Eintrittskarten. Wo noch im August Spiele vor leeren Rängen befürchtet worden waren, hat der Verkauf doch noch deutlich angezogen: 1,5 Millionen Tickets sind inzwischen verkauft.

Paralympics soll Familien begeistern

Womöglich werden es bis zu zwei Millionen verkaufte Tickets. Gerade Familien sollen angelockt werden, schon für 10 Reais (2,75 Euro) kann der Olympiapark im Stadtteil Barra besucht werden. Die Hoffnung ist, dass dort spontan Tickets für den einen oder anderen Wettkampf gekauft werden. „Es kommen jetzt immer mehr Menschen, die bestimmte Athleten und Wettkämpfe sehen wollen“, sagt Organisationskomitee-Sprecher Mario Andrada.

Zuschuss für Anreise der Sportler

Das Angebot an Plätzen, die Zahl der Helfer und die Wettkampfstätten wurde noch einmal reduziert, das meiste ist nun auf den Olympiapark konzentriert. Im Olympiazentrum in Deodoro finden Schießen, 7er-Fußball und Reitwettbewerbe statt. Dank Finanzhilfen von privaten Sponsoren, der Stadt und der Regierung von 250 Millionen Reais (68 Millionen Euro), konnte sichergestellt werden, dass alle Mannschaften anreisen konnten. Zunächst gab es Zweifel, da zugesagte Zuschüsse erst spät flossen. Das Paralympische Komitee Brasiliens (CPB) hat als Ziel Platz fünf im Medaillenspiegel bei den Wettkämpfen vom 7. bis 18. September ausgegeben – und setzt auf mehr Aufmerksamkeit und professionellere Trainingsbedingungen durch die Spiele. Gerade wenn Brasilianer um Gold kämpfen, dürfte die Stimmung in Rio enthusiastisch sein.

Im 5er-Fußball, wo Blinde antreten und der Ball akustische Signale abgibt, hat Brasilien seit 2004 immer Gold geholt. Nicht wiederholen soll sich aber das teilweise unfaire Verhalten des einheimischen Publikums wie bei Olympia. So wird bereits in den Medien dazu aufgerufen, gerade die argentinische Mannschaft bei der Eröffnungsfeier nicht auszupfeifen.

Brasilien in Aufruhr

Während die Paralympics noch einmal sportlichen Glanz nach Rio bringen, steuert Brasilien politisch und wirtschaftlich in unruhige Zeiten. Ende August war Präsidentin Dilma Rousseff nach monatelangem Machtkampf ihres Amtes enthoben worden. Ihr wurden Trickserien zur Schönung des Staatsdefizits und vom Kongress nicht genehmigte Kreditvergaben vorgeworfen – vor allem wurde ihr aber angelastet, kein Rezept gegen die tiefe Rezession zu haben. „Das ist ein parlamentarischer Putsch, mit Hilfe einer juristischen Farce“, beschwerte sich die geschasste Regierungschefin. Es handle sich um den „zweiten Staatsstreich, den ich in meinem Leben erleben muss“, sagte sie in Anspielung auf den Militärputsch in Brasilien 1964. Rousseff agierte damals als Guerillakämpferin im Untergrund, kam in Haft und wurde gefoltert. Der rechts-konservative Abgeordnete Jair Bolsonaro twitterte hingegen in Anspielung auf Rousseff und die Linken: „Sie haben 1964 verloren und sie haben 2016 aufs Neue verloren.“

Damit steht das Land nach 13 Jahren linker Regierung vor einem Politikwechsel. Aber Rousseffs Nachfolger Michel Temer ist nicht viel beliebter als sie: Bei Wahlen hätte er keine Chance und wegen illegaler Spenden darf er nach einer Gerichtsentscheidung ohnehin acht Jahre lang nicht bei Wahlen als Kandidat antreten. Politische Beobachter analysierten nach der Amtsenthebung, Rousseff sei einem Komplott von politischen Widersachern aufgesessen, die ihrerseits kaum an dringend nötigen Reformen interessiert seien. Vielmehr befände sich eine ganze Reihe höchst korrupter Politiker darunter, gegen die teils Strafverfahren laufen.

Das Land ist in Rousseffs 2011 begonnener Präsidentschaft in eine tiefe Rezession gerutscht, 11,8 Millionen Menschen sind aktuell arbeitslos. Ein Grund für die Krise ist auch der Verfall der Rohstoffpreise. Zudem lähmten Korruptionsskandale das Land und brachten das im Jahr 2003 von Präsident Luiz Inácio Lula da Silva gestartete linke Projekt der Arbeiterpartei in Misskredit. Der neue brasilianische Präsident Temer will mit Privatisierungen und Kürzungen im Staatsapparat die neuntgrößte Volkswirtschaft aus der Krise führen. Die Arbeiterpartei warnt vor einem Comeback des Neoliberalismus. Das Renteneintrittsalter könnte heraufgesetzt und Sozialprogramme gekürzt werden. Um das Defizit in den Griff zu bekommen, ist eine Schuldenbremse geplant.

Spannungen mit Nachbarstaaten

Nach dem Sturz Rousseffs kam es zu Spannungen mit mehreren südamerikanischen Staaten. Das sozialistisch geführte Nachbarland Venezuela will die Beziehungen zu Brasilien, beide Mitglied im Wirtschaftsbund Mercosur, vorerst auf Eis legen. Ecuador und Bolivien kündigten ebenfalls an, ihre Geschäftsträger beziehungsweise Botschafter vorerst zurückzurufen. Die kubanische Regierung bezeichnete die Absetzung als einen „richterlich-parlamentarischen Staatsstreich“.

dpa/AS/grd