Jeder ist sich selbst der Nächste: Europas Fundament zeigt Risse. (Bild: Fotolia/pixs:sell)
EU-Defizitverfahren

Brüssels Angst vor der eigenen Courage

Spanien und Portugal haben die Brüsseler Vorgaben für das Haushaltsdefizit wieder verfehlt. Jetzt pocht EU-Kommissar Günther Oettinger auf Sanktionen für die Defizitsünder. Es geht um die Glaubwürdigkeit der EU-Haushaltsregeln und der Kommission. Aber Brüssel zögert die Entscheidung seit Monaten hinaus. Aus Angst vor der eigentlichen Defizit- und Staatsschulden-Zeitbombe im Euroraum: Frankreich.

Das ist schon eine Brexit-Folge: Stimmen werden laut, die fordern, Brüssel müsse es endlich genauer nehmen mit den selbst gesetzten Regeln und Auflagen. Etwa mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt und daraus abgeleiteten Haushaltsverpflichtungen für die Mitgliedsländer. So hat EU-Digitalisierungskommissar Günther Oettinger jetzt im Interview mit der Bild-Zeitung die EU-Kommission aufgefordert, Sanktionen gegen Portugal und Spanien zu beschließen. Beide Länder haben die Haushaltsverpflichtungen, die sie für das Jahr 2015 mit Brüssel vereinbart und sich selbst auferlegt haben, deutlich verfehlt. Oettinger mahnte: „Wenn die Kommission ihre Glaubwürdigkeit bei der Einhaltung von Haushaltsregeln bewahren will, müssen wir Sanktionen gegen Spanien und Portugal beschließen.“

Wenn wir uns gemeinsame Regeln geben, müssen sie auch eingehalten werden. Alles andere kann man den Menschen nicht erklären.

EU-Kommissar Günther Oettinger

Oettingers warnende Begründung: „Wenn wir uns gemeinsame Regeln geben, müssen sie auch eingehalten werden. Alles andere kann man den Menschen nicht erklären.“ Tatsächlich hat jetzt auch der für den Euro zuständige lettische Kommissar und Kommissions-Vizepräsident Valdis Dombrovskis dafür plädiert, nun Sanktionen gegen die beiden Länder zu verhängen: „Beide Länder haben ihre Defizite nicht rechtzeitig korrigiert, also werden wir nun die nötigen Entscheidunbgen treffen.“  Was bei näherer Betrachtung allerdings nicht so einfach werden wird.

Spaniens und Portugals bedrohlich wachsende Schuldenberge

Doch der Reihe nach. Eigentlich hätte das Thema längst erledigt sein können. Portugal, das im Jahr 2011 mit EU-Hilfskrediten über 78 Milliarden Euro vor dem Staatsbankrott gerettet wurde, hätte schon bis Ende 2015 sein Haushaltsdefizit unter drei Prozent seiner Wirtschaftskraft senken müssen. Mit einem Defizit von 4,4 Prozent hat es dieses Ziel weit verfehlt. Spanien, das ein Jahr länger Zeit hatte, um sein Haushaltsdefizit auf unter drei Prozent zu senken, hätte bis Ende 2015 sein Haushaltsminus aber immerhin auf 4,2 Prozent zurückführen müssen. Stattdessen verzeichnete es ein Haushaltsloch von 5,1 Prozent. Spanien hat damit zum vierten Mal in Folge die Haushaltsvorgaben der EU gerissen. Und so geht es weiter. Denn angesichts dieser Zahlen hat Madrid auch keine Chance mehr, das für dieses Jahr vereinbarte Haushaltsziel zu erreichen. In Brüssel rechnet man damit, dass Madrid 2016 mit einem Defizit von 3,9 und 2017 mit einem Fehlbetrag von 3,1 Prozent abschließt – wenn alles gut geht.

Wenn dann die Zinsen wieder steigen, wird es für beide bankrottgefährlich.

Was die Sache so bedrohlich macht: die riesigen Schuldenberge beider Länder. Mit 129 Prozent Staatsverschuldung belegt Portugal hinter Griechenland (176,6) und Italien (132,7) Rang drei auf der Skala der EU-Schuldenländer. Spaniens Staatsverschuldung ist jetzt auf 100,5 Prozent gestiegen. Wenn es Madrid und Lissabon nicht gelingt, die Staatsausgaben zu senken und die Haushaltsdefizite zu reduzieren, wachsen die Schuldenberge weiter. Wenn dann eines Tages die Zinsen wieder steigen, wird es für beide bankrottgefährlich. Experten zufolge sind Staatsschulden von über 130 Prozent kaum noch trag- und finanzierbar.

Eine symbolische Strafe von Null Euro?

Die Zahlen lagen der EU-Statistik-Behörde Eurostat spätestens Ende April vor. Laut den EU-Regeln hätte beiden Ländern jetzt eine Bußzahlung von 0,2 Prozent der Wirtschaftsleistung gedroht – was Spanien 2,16 Milliarden und Portugal 359 Millionen Euro gekostet hätte. Anfang Mai befasste sich die Kommission auch mit der Frage, ob jetzt eine Verschärfung der Defizitverfahren angebracht sei – und wich zurück. Es sei „ökonomisch und politisch nicht der richtige Moment“ für eine solch weitreichende Entscheidung, erklärte der französische EU-Wirtschaftskommissar Pierre Moscovici. Der Moment war „nicht richtig“, weil in Spanien Parlamentswahlen bevorstanden. „Wir wollten nicht den Wahlkampf beeinflussen“, gab kurz vor dem Wahltermin auch Oettinger zu. Auf Drängen von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker schlug die Kommission darum vor, beiden Ländern ein Jahr mehr Zeit zu Erreichung ihrer Haushaltsziele zu geben. Bei der Empfehlung blieb es. Eine Entscheidung fiel nicht, sondern wurde verschoben bis Anfang Juli – nach den Wahlen in Spanien.

Vor der Wahl in Spanien war ökonomisch und politisch nicht der richtige Moment.

Pierre Moscovici

Jetzt ist diese Entscheidung fällig. Doch nach dem Brexit-Votum fällt es der Kommission schwerer, über Madrids und Lissabons Bruch der Haushaltsverpflichtungen einfach hinweg zu gehen. Passieren wird den beiden Defizitsündern wohl trotzdem nichts. Das Brüsseler Verfahren ist einfach zu kompliziert. Am morgigen Dienstag wollen die EU-Kommissare immerhin darüber beraten. Problem: Die Kommissare müssen Urteil und Entscheidung gemeinsam fällen. Aber Kommissare aus notorischen Defizitländern sehen die Sache anders. Als nächstes müssten die EU-Finanzminister das Urteil der Kommissare bestätigen. Aber ob das Thema schon beim nächsten Finanzministertreffen in einer Woche auf der Agenda steht, ist noch offen. Eine Entscheidung über Sanktionen würde so oder so nicht vor September fallen.

Keine Entscheidung solange es in Madrid keine neue Regierung gibt.

Die genannten Bußgelder in Millionen- und Milliardenhöhe müssen Madrid und Lissabon allerdings in keinem Fall fürchten. Angaben der Neuen Zürcher Zeitung zufolge war im Mai in Brüssel von einer „symbolischen Strafe“ die Rede – in Höhe von Null Euro. Problem: Selbst wenn die Kommission eine Strafe von Null Euro verhängte, wäre sie gezwungen, Spanien und Portugal EU-Strukturhilfegelder zu sperren. Aber auch hiermit hat niemand Eile. Solange es in Madrid noch keine neue Regierung gibt, soll keine Entscheidung fallen, hieß es jetzt vom neuen slowakischen Vorsitzenden des Rats der Finanzminister, Peter Kazimir. Und solange keine Entscheidung über Spanien fällt, soll es auch keine über Portugal geben.

Das größte Problem der Eurozone: Frankreichs Schuldenberg

Aber es gibt noch einen großen Grund für die Zurückhaltung von Kommissaren und Ministern – und der heißt Frankreich. Auch Paris hat seit 2009 von Brüssel schon mehrfach Aufschub erhalten, um sein Defizit von aktuell 3,6 Prozent bis Ende 2017 auf unter drei Prozent zurückzuführen. Jüngste Entwicklung: Nicht einmal Frankreichs Rechnungshof glaubt mehr, dass das noch gelingen kann und wartet mit bedrohlichen Zahlen auf: Um das Ziel zu erreichen, hatte die Regierung von Premierminister Manuel Valls sich vorgenommen, innerhalb von drei Jahren die Staatsausgaben um 50 Milliarden Euro zu senken – 14,5 Milliarden im Jahr. Aber weil fällige Sparmaßnahmen immer wieder verschoben wurden, müsste Paris im kommenden Jahr 18,7 Milliarden Euro einsparen, um das Ziel zu erreichen. Was im Wahljahr 2017 nicht wirklich realistisch ist.

Allein im ersten Quartal 2016 ist Frankreichs Staatsverschuldung um 40,7 Milliarden Euro gewachsen.

Schaut man auf die jüngsten Zahlen der nationalen französischen Statistikbehörde Insee, wird sogar sichtbar, dass Frankreich im Grunde gar nicht spart: Allein im ersten Quartal 2016 ist Frankreichs Staatsverschuldung um 40,7 Milliarden Euro gewachsen auf insgesamt 2137,6 Milliarden Euro (Deutschland: 2251,3 Milliarden). Das Finanzministerium will Ende 2016 einen Schuldenstand von 96,2 Prozent ausweisen. Problem: Er liegt schon jetzt bei 97,5 Prozent.

Hollande verteilt das Geld, das er gar nicht hat, ohne es zu zählen.

Le Figaro

Seit 2010 sind Frankreichs Staatsausgaben nie gesunken, sondern immer nur gestiegen, bis 2015 um insgesamt zehn Prozent. Die Staatsquote, also die Gesamtsumme aller Staatsausgaben, liegt schon bei 56,8 Prozent der Wirtschaftskraft des Landes – nach Finnland der zweithöchste Wert in der EU. Paris profitiert sehr von den aktuell rekordniedrigen Zinsen. Aber wenn die wieder steigen, wird es brandgefährlich für Frankreich und für die Eurozone. Paris klagt unaufhörlich über Austeritäts- und Sparpolitik, hat aber seit 2010 noch nie Staatsausgaben gesenkt und je wirklich gespart. Ein Jahr vor der Präsidentschaftswahl wird es damit kaum anfangen. Im Gegenteil: Präsident Franςois Hollande „verteilt das Geld, das er gar nicht hat, ohne es zu zählen“, kommentiert  die Pariser Tageszeitung Le Figaro auf der ersten Seite. Es ist Zeit für Wahlgeschenke: 2017 sollen die Lohnsteuern um zwei Milliarden Euro sinken, Staatsdiener sollen insgesamt drei Milliarden Euro mehr erhalten.

Weil es Frankreich ist.

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker

Paris bekommt seine Staatsausgaben nicht unter Kontrolle. Früher oder später wird sich die EU-Kommission darum auch wieder mit Frankreichs Haushaltsdefizit befassen müssen. Was sie aber nicht will. Warum Frankreich denn überhaupt ständig Ausnahmen von den Defizit-Regeln eingeräumt würden, wurde Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker Ende Mai einmal gefragt. Seine Antwort: „Weil es Frankreich ist.“ Man könne den Stabilitätspakt nicht blind anwenden. Was im Grunde bedeutet: Man kann ihn gar nicht anwenden.