London will verhandeln
London wird so schnell in Brüssel keinen Austrittsantrag stellen, sondern will zuerst verhandeln. Das erwartet ifo-Chef Clemens Fuest: Über die EU-Binnenmigration könne die EU nicht verhandeln, über das Thema Sozialleistungen aber sehr wohl. Fuest warnt davor, jetzt London bestrafen zu wollen: Die EU darf keine Organisation sein, die ihre Mitglieder nur halten kann, wenn sie ihnen droht.
Nach dem Brexit

London will verhandeln

London wird so schnell in Brüssel keinen Austrittsantrag stellen, sondern will zuerst verhandeln. Das erwartet ifo-Chef Clemens Fuest: Über die EU-Binnenmigration könne die EU nicht verhandeln, über das Thema Sozialleistungen aber sehr wohl. Fuest warnt davor, jetzt London bestrafen zu wollen: Die EU darf keine Organisation sein, die ihre Mitglieder nur halten kann, wenn sie ihnen droht.

„Es ist völlig klar: Die britische Regierung wird den Antrag zum Austritt aus der EU nicht stellen. Sie will erst verhandeln.“ Diese Sicht der Dinge erläuterte Clemens Fuest, neuer Präsident des renommierten Münchner Instituts für Wirtschaftsforschung (ifo) am Rande des 15. Münchner Wirtschaftsgipfels, den das ifo-Institut und die BMW-Stiftung Herbert Quandt gemeinsam ausrichten. Artikel 50 des Vertrags über die Europäische Union (EUV), der den Austritt und das zweijährige Austrittsverfahren regle, so Fuest, sei für den Austretenden sehr ungünstig und benachteilige ihn stark. Schon eine kleine Sperrminorität von EU-Mitgliedern könne ein für Großbritannien günstiges Austrittsabkommen blockieren und verhindern. Fuest: „Keine (britische) Regierung wird sich in diese Situation begeben.“ London werde erst über den Austritt und über sein neues Verhältnis zur EU verhandeln wollen und dann zu gegebener Zeit den Austrittsantrag stellen.

Austritts-Artikel 50 benachteiligt den Austretenden

Tatsächlich ist es so, dass Artikel 50 EUV eine zweijährige Frist für die Aushandlung des Austrittsvertrages setzt. Eine Verlängerung der Frist kann es nur geben, wenn alle übrigen 27 EU-Mitglieder im Rat sie einstimmig beschließen. Sonst endet Großbritanniens EU-Mitgliedschaft nach zwei Jahren ohne Austrittsabkommen und ohne Vertrag etwa über die Bedingungen für Großbritanniens weitere Teilnahme am Binnenmarkt. Die Briten wären dann draußen, richtig draußen.

Keine (britische) Regierung wird sich in diese Situation begeben.

Clemens Fuest, Präsident des Münchner Instituts für Wirtschaftforschung (ifo)

Entscheidend ist allerdings: Nur Großbritannien ganz allein kann diese Zweijahresfrist in Gang setzen, in dem es im EU-Rat den anderen 27 Mitgliedsländern sein Austrittsgesuch auf den Tisch legt. Denn nach Artikel 50 EUV läuft erst von diesem Tag an die Uhr und die zweijährige Verhandlungsfrist. Daraus folgt etwas Wichtiges: Solange die Briten in Brüssel kein Austrittsgesuchen vorlegen, ist und bleibt London Herr des Verfahrens. An dem Tag, an dem es dem Europäischen Rat seine Austrittsabsicht „mitteilt“, wie Artikel 50 EUV das formuliert, übergibt es die Herrschaft über das Austrittsverfahren vollständig an Brüssel und an 27 EU-Mitglieder, von denen nicht wenige derzeit durchblicken lassen, dass sie London bestrafen wollen. Fuest hat sicher recht: Keine Regierung in London, die halbwegs bei Verstand ist, würde sich in eine solche Lage begeben.

Kühle Köpfe in Europa gesucht

London wird also zuerst über den Austritt verhandeln wollen und dann seinen Austrittwunsch mitteilen. Natürlich heißt es jetzt aus Brüssel und aus einigen EU-Hauptstädten, dass die Reihenfolge nur umgekehrt sein kann, und dass es keine Verhandlungen geben wird. So zuletzt Bundeskanzlerin Angela Merkel in Berlin. Fuest glaubt nicht, dass dies das letzte Wort sein wird, sondern geht davon aus, dass früher oder später eben doch verhandelt wird: „Man weiß ja, wie das in der EU läuft.“

Es wäre ein historischer Fehler, wenn die EU sich jetzt als Organisation zeigt, die ihre Mitglieder nur halten kann, wenn sie ihnen droht. Dann hätte die EU keine Zukunft – und zu recht.

Clemens Fuest

Der ifo-Chef hielte es für sehr falsch, wenn die EU sich nun zum Ziel setzte, Großbritannien für das Brexit-Votum zu bestrafen. Es wäre „ein historischer Fehler“, wenn die EU sich jetzt als Organisation zeige, die ihre Mitglieder nur halten könne, wenn sie ihnen droht. Fuest: „Dann hätte die EU keine Zukunft – und zu recht.“ Es müsse jetzt darum gehen, „den Schaden für Europa zu minimieren“. Denn sonst könnte sich „der Zerfall beschleunigen“. Fuest weiter: „Ich kann nur hoffen, dass, wenn sich der Staub gelegt hat, alle Beteiligten einen kühlen Kopf bewahren.“ Der Ärger der Europäer über die die Leave-Kampagne der Brexit-Befürworter sei zwar verständlich, so der ifo-Chef. Aber mit Versuchen, jetzt den Briten wirtschaftlichen Schaden zuzufügen, würde Europa sich selbst schaden. Fuest erinnerte außerdem daran, dass die Briten sich am 23. Juni so entschieden hätten, „obwohl sie wussten, dass ihnen Schaden entstehen kann“.

Worüber mit den Briten verhandeln?

Worüber könnten kühle EU-Köpfe jetzt also mit den Briten verhandeln? Wie weit könnte man den Briten entgegen kommen? Völlig klar sei, so Fuest, dass die EU den Binnenmarkt unbedingt schützen müsse. Aber man könne darüber reden – „ohne Schaum vor dem Mund“ – in welchem Umfang Einschränkungen des Binnenmarktes möglich seien oder eben nicht. Sicher nicht reden könne Brüssel über den freien Personenverkehr: „Einschränkungen der (Binnen-)Migration kann Europa nicht hinnehmen.“ Einschränkungen bei Sozialleistungen für EU-Migranten, wie die Briten sie fordern, seien dagegen denkbar und stünden auch dem Schutz des Binnenmarkts nicht entgegen. Im Gegenteil, denn, so Fuest: „Freie Migration und Sozialstaat sind im Grunde nicht miteinander vereinbar.“

Freie Migration und Sozialstaat sind im Grunde nicht miteinander vereinbar.

Clemens Fuest

Jetzt „Großbritannien vom Binnenmarkt abzuschneiden“, sei für Europa „selbstschädigend“, betonte Fuest schließlich. Der ifo-Chef erinnerte daran, dass Großbritannien Deutschlands drittwichtigster Exportmarkt ist: Deutschland führt jährlich Güter im Wert von 90 Milliarden Euro nach Großbritannien aus.