„Wir werden mit aller demokratischen und juristischen Macht dagegen kämpfen, dass Schottland gegen seinen erklärten Willen aus der EU herausgenommen wird.“ Diese deutlichen Worte wählte Nicola Sturgeon, Schottlands Ministerpräsidentin und Chefin der separatistischen Scottish National Party (SNP), schon wenige Stunden nach der Brexit-Entscheidung. Immerhin hatte sich ihr Land mit überwältigender Mehrheit für einen Verbleib des Königreichs in der EU ausgesprochen.
Sturgeons Mandat, das sie von der Bevölkerung bekommen hat, ist also klar. Und am Dienstag ließ sie den markigen Worten auch erste Taten folgen. Sie reiste zu einem nur wenige Stunden zuvor bekanntgegebenen Termin nach Brüssel, um dort mit EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker, Ratspräsident Donald Tusk und Parlamentspräsident Martin Schulz zu sprechen.
Juncker: „EU mischt sich nicht in innerbritische Angelegenheiten ein“
Mit der britischen Regierung hatte die EU „informelle Gespräche“ im Vorfeld der offiziellen Brexit-Verhandlungen ausdrücklich abgelehnt – mit der schottischen Ministerpräsidentin dagegen könne, ja müsse man sich jetzt sogar unterhalten, hieß es aus Junckers Umfeld. Und auch wenn Martin Schulz das Treffen mit dem Hinweis, man unterhalte sich häufig mit Regionalpolitikern, herunterspielen wollte: Die Botschaft der EU an die pro-europäischen Schotten ist klar: Im Falle eines Austritts des britischen Nordens aus dem Vereinigten Königreich steht die EU den Schotten zur Seite.
Wir haben nicht die Absicht, uns in innerbritische Angelegenheiten einzumischen. Das ist nicht unsere Aufgabe.
Jean-Claude Juncker
Dennoch bemühte sich Jean-Claude Juncker, den Schulterschluss mit Schottland als nicht ganz so eng darzustellen. „Wir haben nicht die Absicht – weder Donald Tusk noch ich – uns in innerbritische Angelegenheiten einzumischen. Das ist nicht unsere Aufgabe“, teilte Juncker mit. Will heißen: Sollte sich die schottische Regierung dazu entschließen, erneut über die Unabhängigkeit des Landes von London abstimmen zu lassen, hielte sich die EU voll und ganz aus der Debatte heraus. Sollte Schottland aber tatsächlich unabhängig werden, dürften erste Assoziationsgespräche nicht lange auf sich warten lassen.
Aktuell ist der EU aber offenbar besonders wichtig, in London nicht den Eindruck zu erwecken, man versuche die Schotten schon jetzt – bevor die Brexit-Verhandlungen überhaupt begonnen haben – auf seine Seite ziehen zu wollen. Nicola Sturgeon war mit den Gesprächen allerdings dennoch sehr zufrieden. In einem kurzen Statement vor ihrer Abreise sagte sie, sie habe „viele freundliche Menschen getroffen, die Schottland ihre Unterstützung zugesagt haben bei dem Bestreben, sein Verhältnis zur EU zu bewahren.“ Von der EU erhoffe sie sich, dass die Verantwortlichen einen „klaren Kopf bewahren“ und „alle Szenarien für Schottland“ in Betracht zögen.
Der ‚Scotland Act‘ besagt, dass die Schotten Gesetzen der britischen Regierung zustimmen müssen, wenn sie Schottland betreffen. Es ist schwer vorherzusagen, was genau passieren wird, denn eigentlich haben wir in Großbritannien keine schriftliche Verfassung so wie in der Bundesrepublik. Hier wird alles über Präzedenzfälle entschieden, aber den gibt es beim Brexit natürlich nicht.
Anthony Glees, im Tagesschau-Interview
Wie legitim dieses Vorhaben ist, beschrieb der schottische Politikwissenschaftler Anthony Glees gegenüber der Tagesschau: Zwar hätten die Schotten kein verfassungsrechtlich garantiertes Veto-Recht gegen den Brexit – sie könnten es London aber trotzdem sehr schwer machen, erklärt Glees. “ Zum einen über den „Scotland Act“, der die Rechte des schottischen Parlaments stärkt, und zum anderen über eine Art „psychologisches Veto“, indem sie im Fall des Brexits in die Unabhängigkeit gehen – und Großbritannien Schottland dann verlieren würde.
„Wir wissen, dass eine Aufnahme Schottlands in die EU schwierig ist“
Was in Brüssel – übrigens parteiübergreifend – besonders gut ankommt, ist Nicola Sturgeons Sinn für realistische Einschätzungen der Lage. „Wir Schotten wissen, dass es schwierig für die EU wäre, ein unabhängiges Schottland aufzunehmen“, stellte sie in einer Rede am Wochenende klar. Schottland sei kein wirtschaftliches „Powerhouse“, entwickle sich aber in den letzten Jahren höchst erfreulich. Befürworter einer schottischen EU-Mitgliedschaft weisen zudem darauf hin, dass es auch keine wirtschaftlichen Erwägungen gewesen sein können, die damals die Aufnahme von Ländern wie Rumänien oder Bulgarien in die EU gerechtfertigt hatten.
Brüssel-Besuch erhöht den Druck auf London
Für Sturgeon und ihre Partei, die 2014 mit einem ersten Unabhängigkeitsreferendum noch gescheitert war, ging es bei dem Besuch um Signale in verschiedene Richtungen: Zunächst einmal konnte sie ihrer eigenen Bevölkerung signalisieren, dass sie gewillt ist, den schottischen Wählerwillen durchzusetzen. Zum anderen erhöht sie den Druck auf das britische Parlament und den scheidenden Regierungschef David Cameron – dessen letzte Wochen im Amt dürften davon geprägt sein, die Schotten zu beruhigen und ein „Schexit“-Referendum zu verhindern. Und nicht zuletzt sichert die EU durch ihren Empfang den Schotten zu, sich mit deren Lage intensiv zu beschäftigen – auch wenn die Union zunächst einmal nur wenig mehr als moralische Unterstützung leisten kann, um London nicht noch mehr zu verärgern.