„Europa ist in großer Gefahr“
Kurz vor Beginn der Fußball-Europameisterschaft warnt Frankreichs Inlandsgeheimdienst-Chef vor weiteren Terroranschlägen des Islamischen Staats: „Frankreich ist heute das am meisten bedrohte Land.“ Neue Gefahr: 400 Kinder von Dschihadisten mit französischen Pässen in Syrien und Irak. Paris hat den Ausnahmezustand zum dritten Mal verlängert – bis über das Ende der EM hinaus.
Paris: Terrorwarnung

„Europa ist in großer Gefahr“

Kurz vor Beginn der Fußball-Europameisterschaft warnt Frankreichs Inlandsgeheimdienst-Chef vor weiteren Terroranschlägen des Islamischen Staats: „Frankreich ist heute das am meisten bedrohte Land.“ Neue Gefahr: 400 Kinder von Dschihadisten mit französischen Pässen in Syrien und Irak. Paris hat den Ausnahmezustand zum dritten Mal verlängert – bis über das Ende der EM hinaus.

„Frankreich stellt weiterhin ein vorrangiges Terrorziel dar, wegen des entschlossenen Kampfes, den es in der Sahelzone, in Irak und in Syrien gegen den Dschihadismus führt.“ Das erklärte Patrick Calvar, der Chef des französischen Inlandsgeheimdienstes, vor dem Verteidigungsausschuss der französischen Nationalversammlung – exakt einen Monat vor dem Anpfiff der Fußballeuropameisterschaft in Frankreich. „Frankreich ist heute eindeutig das am meisten bedrohte Land“, so Calvar laut einer schriftlichen Wiedergabe seiner Anhörung, die am 18. Mai öffentlich gemacht wurde.

Wir müssen uns auf eine neue Form von Terrorangriffen gefasst machen: Sprengsätze an vielen Plätzen gleichzeitig, auf denen sich große Menschenmengen befinden, um ein Klima der Panik zu verursachen.

Frankreichs Inlandsgeheimdienst-Chef Patrick Calvar

Dem Geheimdienstchef zufolge geht die größte Bedrohung von Terroristen des Islamischen Staates aus, die offenbar „eine neue Form von Terroranschlägen“ vorbereiten: „eine Terrorkampagne mit Sprengsätzen an vielen Plätzen gleichzeitig, auf denen sich große Menschenmengen befinden, um ein Klima der Panik zu verursachen.“

Der Islamische Staat will Vergeltung üben

Die Terrorgefahr sei umso größer, da der Islamische Staat derzeit in Syrien und Irak Rückschläge erleide. Calvar: „Der Islamische Staat befindet sich in einer Lage, die ihn dazu treibt, so schnell und so hart zuzuschlagen wie möglich: Die Organisation erleidet auf eigenem Terrain Rückschläge, will davon ablenken und Vergeltung üben für die Schläge der Koalition.“ Der DSGI-Chef weiter: „Wir wissen, dass der Islamische Staat neue Anschläge mit Kämpfern aus seinem Gebiet plant, die jene Routen nutzen, die ihnen den Zugang zu unserem Territorium erleichtern, und wir wissen, dass Frankreich ganz klar ein Ziel ist.“

Al-Kaida muss mit einer großen Aktion sein Ansehen wieder aufwerten

Eine zusätzliche Gefahr geht von der islamischen Terrororganisation Al-Kaida aus, die, so Calvar, „ihr Ansehen wieder aufwerten muss“. Al-Kaida werde darum, gibt die Pariser Tageszeitung Le Figaro den Geheimdienstchef wieder, zu gegebenen Zeitpunkt eine Aktion in großem Stil unternehmen, die es ihr dann erlaube, wieder international Terroranhänger zu rekrutieren. Al-Kaida im Maghreb, so Calvar, betrachte Frankreich „als Feind Nummer eins“.

Neue Gefahr: 400 Dschihadisten-Kinder

Besondere Sorge macht dem DGSI-Chef eine neue Bedrohung: Etwa 400 Kinder und Jugendliche von Dschijadisten mit französischen Pässen in Syrien und Irak. Calvar: „Zwei Drittel dieser Kinder sind mit ihren Eltern dorthin gezogen, das restliche Drittel besteht aus Kindern, die vor Ort geboren sind und also weniger als vier Jahre alt sind.“ Von diesen Kindern, „die vom Islamischen Staat trainiert und instrumentalisiert“ würden, gehe eine „reale Gefahr“ aus: „Diese Kinder werden entsprechend konditioniert und an Schusswaffen ausgebildet.“ Der französische Inlandsgeheimdienst verfügt über Videos, auf denen solche Kinder in Syrien und Irak Gefangene hinrichten.

Luftangriffe der Koalitionstruppen gegen den Islamischen Staat haben einen abschreckenden Effekt.

Derzeit sollen sich mindestens 645 Personen mit französischen Pässen im Gebiet des Islamischen Staates aufhalten. Immerhin stagniert offenbar die Zahl jener, die aus Frankreich in das syrisch-irakische Bürgerkriegsgebiet aufbrechen wollen, weil die Luftgangriffe der Koalitionstruppen „einen abschreckenden Effekt haben“, berichtet Calvar. Umgekehrt wachse aber die Zahl jener, „die auf unseren Boden zurückkehren wollen, was aber durch die Politik des Islamischen Staates erschwert wird, der jeden Rückkehrwilligen als Verräter betrachtet, der sofort hingerichtet wird“. Gleichzeitig wachse die Zahl jener potentiellen Dschihadisten, die Libyen erreichen wollen.

Verlängerung des Ausnahmezustands in Frankreich

Dass sich ein französischer Geheimdienstchef öffentlich zu Wort meldet, ist ungewöhnlich. Calvars Auftritt diente der Aufklärung des Parlaments, das eine Woche später über die Verlängerung des Notstands abstimmen sollte. Inzwischen ist die Abstimmung erfolgt, bei auffällig geringer Beteiligung der Parlamentarier, und der Ausnahmezustand bis zum 26. Juli verlängert worden – bis zum Ende der Europameisterschaft und der Tour de France. Es ist die dritte Verlängerung seit den Terroranschlägen vom 13. November 2015 in Paris, bei denen über 300 Personen ums Leben kamen. In der sozialistischen Regierungsfraktion wächst der Widerstand gegen die mit dem Ausnahmezustand verbundene Einschränkung von Grundrechten: Die Behörden können etwa ohne Richterbeschluss Hausarrest verhängen oder Hausdurchsuchungen durchführen.

Überall wachsen die Extremismen. Die Ultra-Rechte wartet nur auf die Konfrontation, und diese Konfrontation wird stattfinden. Noch ein oder zwei Anschläge, und dann kommt sie.

Patrick Calvar

Europa müsse viel nachdrücklicher gegen Waffenschmuggel und illegalen Waffenhandel vorgehen, um es den Terroristen schwerer zu machen, sich zu bewaffnen, forderte Calvar vor den Abgeordneten. Der DGSI-Chef wies auf das Beispiel Großbritanniens hin, „wo es heute praktisch unmöglich sei, sich Schusswaffen zu beschaffen“.

Wenn es nicht gelinge, den islamistischen Terror einzudämmen, sei „Europa in großer Gefahr“, warnt Calvar. Denn „überall wachsen die Extremismen“. Die Ultra-Rechte warte nur auf die Konfrontation, so der Geheimdienstchef: „Und diese Konfrontation, denke ich, wird stattfinden. Noch ein oder zwei Anschläge, und dann kommt sie.“