Wenig Substanz: SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz bei der SPD Nordrhein-Westfalen. (Bild: Imago/Schüler/Eibner-Pressefoto)
Agenda 2010

Schulz in der Sackgasse

Beim Politischen Aschermittwoch der SPD im niederbayerischen Vilshofen forderte SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz erneut, dass für mehr soziale Gerechtigkeit die von SPD-Kanzler Gerhard Schröder initiierte Agenda 2010 reformiert werden müsse. Doch die Kritik an diesem Plan wird immer lauter.

Die Wettbewerbsfähigkeit des Landes stünde nicht auf dem Spiel, so Schulz, wenn Betroffene ein Jahr länger Arbeitslosengeld erhielten und in dieser Zeit weiterqualifiziert würden. Schulz hatte zudem angekündigt, befristete Arbeitsverträge einschränken zu wollen.

Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen.

Gerhard Schröder, im März 2003, über seine Agenda 2010

Die Kritik an diesen Plänen reißt jedoch nicht ab. Am Mittwoch hatte sich der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, in einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung zu dieser Idee geäußert. „Mehr Verteilung schafft Leistungsempfänger statt Leistungserbringer“, schrieb Weise. Er warnte vor einem „Wettlauf um die höchsten Zahlungen“ im Bundestagswahlkampf. Dieser führe in eine Sackgasse, denn er schaffe oder sichere keine Arbeitsplätze, sondern belaste Steuer- und Beitragszahler. „Die triviale Erkenntnis, dass die Verteilung erst am Ende der staatlichen ‚Nahrungskette‘ steht und zuvor die höheren Steuer- und Beitragseinnahmen von Arbeitnehmern und Wirtschaft aufzubringen sind, gerät so in Vergessenheit“, mahnte Weise. Transferleistungen könnten keinen Sinn für Arbeit stiften. Entscheidender sei das Bewusstsein, gebraucht zu werden und Nützliches zu tun. Priorität sollte daher Bildung haben.

Kopf schütteln auch bei der SPD

Kritik kam auch aus der eigenen Partei: So sprach sich der frühere SPD-Vorsitzende Franz Müntefering in der Neuen Osnabrücker Zeitung gegen ein Zurückdrehen der Agenda 2010 aus: „Ich denke, dass es eher darum geht, die Agenda fortzuentwickeln unter dem Gesichtspunkt: Was können wir für ältere Beschäftigte tun, damit sie in Arbeit bleiben können?“ Die Höhe und Bezugsdauer von Arbeitslosengeld müsse „Anreiz sein und Ermutigung“, sagte Müntefering. „Unser Land braucht das Wissen und Können dieser Generation. Neue Frühverrentungskonzepte wären falsch.“

Sollte also die Agenda 2010 mitsamt Arbeitsmarktreformen ein Fehler gewesen sein, dann hat Martin Schulz jedenfalls tatkräftig, wie es seine Art ist, daran mitgewirkt.

Wolfgang Clement

Deutliche Worte kommen auch vom ehemaligen SPD-Mitglied Wolfgang Clement, der unter Schröder Arbeits- und Wirtschaftsminister war. „Die von Schulz gewünschte längere Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes hätte nur einen Effekt: Sie würde den vorzeitigen Übergang in die Frührente beflügeln“, schreibt Clement in einem Gastbeitrag für das Handelsblatt. „Das hatten wir schon einmal. Industriekonzerne haben die Vorlage genutzt, ältere Arbeitnehmer vorzeitig auf Gemeinkosten zu verabschieden. Wer kann das wieder wollen?“ Clement erinnerte den SPD-Spitzenkandidaten daran, dass er einst zu den Unterstützern „unseres Reformwerks“ gehört habe: „Sollte also die Agenda 2010 mitsamt Arbeitsmarktreformen ein Fehler gewesen sein, dann hat Martin Schulz jedenfalls tatkräftig, wie es seine Art ist, daran mitgewirkt.“

Gerechtigkeit kommt nicht durch Umverteilung zustande.

Wolfgang Clement

Der Ex-Minister hält die Agenda 2010 jedoch für alles andere als einen Fehler. Der IWF und alle europäischen Institutionen versuchten „seit Jahren, die südeuropäischen Mitgliedstaaten der Währungsunion, Frankreich eingeschlossen, zu eben solchen oder jedenfalls sehr ähnlichen Reformen zu bewegen“, so Clement weiter. Wer noch weiter denke und den demografischen Wandel und die fortschreitende Digitalisierung in der Arbeitswelt nicht ausblende, „kann über den guten Menschen von Würselen nur den Kopf schütteln“. Auf NDR Info warf er Schulz sogar Wahlkampfmache und Populismus vor. Beim derzeitigen Arbeitsmarkt würde ein qualifizierter Arbeitnehmer, ein Facharbeiter, in der Regel nach drei Monaten einen neuen Job haben. Nur gering qualifizierte Arbeitnehmer, Nicht-Qualifizierte oder ältere Arbeitnehmer hätten Probleme. Für sie brauche man Lösungen, aber keine Gesetzeskorrekturen oder eine weitere Rücknahme der Reformen. Clement fürchtet um die erreichte Flexibilität im Arbeitsrecht. Und er schreibt dem SPD-Kandidaten ins Stammbuch: „Gerechtigkeit kommt nicht durch Umverteilung zustande.“ Was Clement auch ärgert: Schulz tue so, als sei er „in der Opposition“. Dabei sei die SPD bereits in der zweiten Großen Koalition. Und in dieser stellt die SPD die Ministerien für Wirtschaft sowie für Soziales.

Union: Solidarität ist keine Einbahnstraße

Auch die CDU erinnert Schulz in einer Pressemitteilung an die Ausgangslage, die die Agenda 2010 erforderlich machte: „Im Februar 2005 waren 5,2 Millionen Menschen in Deutschland arbeitslos. Heute sind es nur noch rund 2,7 Millionen“, heißt es dort. Gleichzeitig hätten noch nie so viele Leute einen Job wie heute, auch die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten steige. Das sei nicht nur, aber auch ein Verdienst der Agenda 2010. „Sie war richtig, weil sie den Druck auf Arbeitsunwillige erhöht hat, einen Job anzunehmen. Denn Solidarität ist keine Einbahnstraße. Wer lieber Stütze kassiert, obwohl er arbeiten kann, handelt unsolidarisch.“ Weiter heißt es: „Ja, die Umsetzung der Agenda ist bis heute mit Zumutungen verbunden. Und ja, sie hatte auch Fehler und Ungerechtigkeiten.“ Einige davon seien korrigiert worden, etwa durch die verlängerte Zahlung des Arbeitslosengeldes I für Ältere, durch die Förderung von Branchenmindestlöhnen und durch Verbesserungen bei der Zeitarbeit und Mini-Jobs. Auch erfolge bei Hartz IV der Rückgriff auf das ersparte Vermögen nicht mehr in dem Umfang, in dem es von Rot-Grün ursprünglich umgesetzt wurde.

Nicht alles, was gerecht klingt, ist auch klug.

CDU

Was Martin Schulz aber jetzt an Ideen vorgeschlagen habe, sei nicht nur Augenwischerei. Denn die verlängerte Auszahlung des Arbeitslosengeldes I wäre für Arbeitslose nur ein zusätzlicher Puffer, bevor sie doch auf Hartz IV angewiesen wären. „Was Menschen in dieser Situation aber brauchen, sind keine Puffer, sondern ist ein Job“, so die CDU. Wenn dann die SPD noch die sachgrundlose Befristung abschaffen wolle, zerstöre man eine der Brücken, die gerade Langzeitarbeitslosen den Weg in Arbeit möglich machten. „Nicht alles, was gerecht klingt, ist auch klug.“ Befristete Jobs sorgten zwar beim Arbeitnehmer für Unsicherheit und fielen häufig in die Zeit der Familiengründung. „Aber befristete Stellen werden von Firmen ja nicht aus Spaß vergeben. Sondern sie überbrücken Unsicherheiten in der Entwicklung des Arbeitgebers.“

Die Agenda wirkt

Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) erinnerte noch an einen anderen wichtigen Erfolg der Agenda: Im Jahr 2005 waren 12,5 Prozent der unter 25-Jährigen in Deutschland ohne Job, inzwischen nur noch 5,4 Prozent (2015) – die niedrigste Jugendarbeitslosenquote Europas. In absoluten Zahlen: 620.000 junge Menschen arbeitslos im Jahr 2005, zehn Jahre später nur noch 239.000. Bevor die Agenda-Reformen wirkten, waren zudem 1,8 Millionen Menschen in Deutschland langzeitarbeitslos, also länger als zwölf Monate ohne Job. Inzwischen sind es rund 700.000 weniger. Obendrein seien aktuell laut IAB in Deutschland über eine Million Arbeitsplätze unbesetzt, so viele wie nie zuvor.

Wer Menschen ab 50 – sicher mit den besten aller Absichten – in sozialpolitische Watte packt, erreicht das Gegenteil des erhofften Effekts.

INSM

Eine längere Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes (ALG I) ist laut INSM falsch, weil zwischen der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes und der Dauer der Arbeitslosigkeit ein in der Arbeitsmarktforschung gut belegter Zusammenhang existiere: Eine lange Bezugsdauer führe zu einer langen Arbeitslosigkeitsdauer. Das liege an den Arbeitslosen sowie an denen, die ihnen bei der Arbeitsplatzsuche helfen sollen. Arbeitslose mit der Aussicht auf zwei Jahre Arbeitslosengeld würden mit einem erkennbar geringeren Erfolg in einen neuen Job vermittelt, als wenn schon nach zwölf Monaten Hartz IV drohe. Wer länger auf Geld vom Amt vertrauen kann, suche zudem mit weniger Nachdruck einen Job und verlerne dabei berufliche Fähigkeiten. „Wer Menschen ab 50 – sicher mit den besten aller Absichten – in sozialpolitische Watte packt, erreicht also das Gegenteil des erhofften Effekts“, so die INSM. Dies zeige auch hier die Entwicklung: Während 2005 nur 28 Prozent der 60- bis 64-Jährigen einer Erwerbstätigkeit nachgingen, waren es 2015 bereits 53 Prozent.

Auch bei der Befristung liege Schulz falsch, so die INSM. Nur 18 Prozent und nicht 40 Prozent der 25 bis 34-Jährigen befänden sich in einem befristeten Arbeitsverhältnis. Diese Quote sei auch seit Jahren stabil. Ein Blick in die Statistik zeige ebenfalls, dass mit steigendem Alter die Befristungsquote stark abnehme. Das bedeute, dass für Berufseinsteiger eine befristete Beschäftigung ein Sprungbrett für eine unbefristete Stelle darstelle.