Der Auszug Großbritanniens aus der EU könnte drohen, wenn die Volksabstimmung, die David Cameron versprochen hat, entsprechend ausgeht. (Bild: Ralph Peters/imago)
Brexit

Der Tag danach

Wie geht es weiter am Tag nach dem morgigen Referendum um den britischen Ausstieg aus der EU? Journalisten in Paris und London wagen den Blick in die Zukunft. Ergebnis: Egal wie das Votum ausfällt, nach dem Referendum beginnen die Verhandlungen zwischen London und Brüssel erst richtig. Wichtig für die EU: Nach der langen Kampagne für oder wider EU-Ausstieg sind jetzt alle Briten Euroskeptiker.

Dieses BBC-Szenario kommt nicht einmal in dem von den Brexit-Befürworten so geschimpften „project fear“, der Angstkampagne, von Premierminister David Cameron vor: Der Ausstieg der Hauptstadt London aus Großbritannien als Folge eines Votums für den Brexit an diesem Donnerstag. Aber Professor Tony Travers von der renommierten Universität London School of Economics hält das nicht für ausgeschlossen: „Wenn Großbritannien für den Austritt aus der EU stimmt, dann ist so gut wie sicher, dass London, Schottland – und vielleicht auch Wales und Nordirland – dafür gestimmt haben werden, in der EU zu bleiben. Alle Umfragen sagen das.“ Gut möglich, so Travers, dass als Reaktion die Londoner die dann gleichen Autonomierechte für sich fordern werden, wie sie Schotten und Waliser schon haben: „Die Schotten können es und die Waliser können es. Dabei haben sie eine viel kleinere Wirtschaft als wir. Das Votum hat demonstriert, wie sehr London sich vom  Rest Englands unterscheidet. Das muss anerkannt werden, wenn es um lokale Vollmachten und lokale Besteuerung geht.“

In 20 bis 30 Jahren werden die Londoner ein Referendum über den Austritt aus dem Vereinigten Königreich abhalten – und weg sind sie.

Forschungs-Chef der in London ansässigen europäischen Privatbanker-Vereinigung KBL

Der Forschungs-Chef der in London ansässigen europäischen Privatbanker-Vereinigung KBL, deren Mitglieder zusammen immerhin 41 Milliarden Euro Kapital auf die Waage bringen, geht noch weiter als der LSE-Professor: „In 20 bis 30 Jahren werden die Londoner ein Referendum über den Austritt aus dem Vereinigten Königreich abhalten – und weg sind sie.“ Ganz aus der Luft gegriffen ist das nicht. Mit einer Bevölkerung von 8,7 Millionen ist London größer als Schottland und Wales zusammen, und es ist die mit Abstand wirtschaftlich stärkste Region im Lande. Vor zwei Jahren, vor dem Referendum der Schotten über die Selbständigkeit, hielt es auch die Wochenzeitung The Economist für möglich, dass die großen Ballungsräume im Königreich – London, Birmingham, Manchester – früher oder später die gleichen Rechte beanspruchen würden wie die Schotten. Ein Votum für den Brexit am 23. Juni könnte da tatsächlich Entwicklungen in Gang setzen oder beschleunigen.

Le Monde: Brexit ohne Exit

Soweit ist es in London und Großbritannien allerdings noch nicht. Doch wie geht es denn nun am 24. Juni weiter, am Tag nach der Schicksalsabstimmung über Europa, über „in“ oder „out“? Der Blick in die Zukunft ist schwierig, der Blick zurück leichter. Aus dem Grund erzählte die Pariser Tageszeitung Le Monde am vergangenen Wochenende die Brexit-Geschichte lieber mit zwei Jahren Abstand aus dem Jahr 2018: In der amüsant zu lesenden „fiction politique“, die sechs Le-Monde-Korrespondenten aus London, Brüssel und Madrid zusammen geschrieben haben, gewinnen die Brexit-Befürworter mit 53,4 Prozent. Schottland und Wales stimmen mit 59 und 56 Prozent ebenso klar gegen den EU-Austritt, Nordirland stimmt mit 50,6 Prozent ganz knapp dafür. Was natürlich Folgen haben wird.

Verletzte in Belfast, Ärger in Gibraltar.

Aber der Reihe nach: Die Brexit-Zukunft beginnt in Le Monde am 24. Juni wie vielfach vorhergesagt: In London stürzen Pfund und Aktienkurse. Am Montag muss Premierminister David Cameron seinen Rücktritt verkünden. Erst am 7. Juli setzt sich Boris Johnson in der Unterhausfraktion der Tories als sein Nachfolger durch. Eine Woche später, auf seinem ersten Brüsseler EU-Gipfel, erklärt Premier Johnson entsprechend Artikel 50 des Vertrags von Lissabon den britischen EU-Austrittswunsch und setzt damit die zweijährige Verhandlungsfrist in Gang. In Nordirland kommt es am Oraniertag erst zu hohem Alkoholkonsum und dann zu Gewalt zwischen protestantischen Oraniern und katholischen Republikanern: 23 Verletzte. Schottland verkündet ein neues Unabhängigkeitsreferendum für Juni 2018. Ärger auch in Gibraltar: Die Spanier lassen die Schranken nieder, kassieren am Grenzübergang frech Maut und wollen London zwingen, über Gibraltar zu verhandeln. Ende Oktober verabschiedet sich die US-Großbank Goldman Sachs aus der Londoner City. Pech für die Franzosen: Sie zieht nicht nach Paris, sondern nach Frankfurt.

Hollands enge Handelsbeziehungen zu Großbritannien.

Doch den eigentlichen politischen Knatsch gibt es im Le-Monde-Rückblick nicht bei den Briten, sondern sogleich in der EU – durchaus plausibel. Frankreichs Staatspräsident Franςois Hollande will die Briten so schnell wie möglich aus der EU haben und redet von der Neugründung der EU, vom neuen europäischen Projekt. Die Niederländer wollen mit Blick auf ihre besonders intensiven Handelsbeziehungen mit Großbritannien das Austrittsverfahren in die Länge ziehen. „Die Franzosen haben nur ein einziges Projekt: uns unser Geld wegzunehmen“, zitiert Le Monde aus Berlin einen Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Für ein Kanzlerinnen-Wort vom 24. Juni im Bundestag braucht es keine seherischen Gaben: „Europa bleibt unsere Schicksalsgemeinschaft.“ Das sagt sie garantiert, Wort für Wort, egal wie die Briten abstimmen.

Streit in der EU: Wer zahlt nun die britischen Netto-Beiträge?

In Brüssel beginnen zwei Verhandlungsteams ihre Arbeit: eine französisch geführte Delegation soll über die Austrittsbedingungen verhandeln, eine deutsch geführte über einen neuen Assoziierungsvertrag zwischen EU und Großbritannien. Das geht schnell schief: Auf dem Brüsseler EU-Gipfel im Februar 2017 streiten die Staats- und Regierungschefs darüber, wer denn nun die britischen EU-Nettozahlungen über zehn Milliarden Euro übernehmen muss. Nach geltenden alten EU-Regeln sollen Deutsche und Niederländer viel mehr zahlen als die Franzosen. Wütend verlangen Berlin und Den Haag die drastische Kürzung des EU-Agrarhaushalts. Das würde Frankreich treffen. Hollande lehnt empört ab, verlangt einfach, dass die Briten für den Zugang zum Gemeinsamen Markt halt jedes Jahr sechs Milliarden Euro Gebühr zahlen sollen – und verabschiedet sich vom Gipfel in den französischen Präsidentschaftswahlkampf.

Premierminister Boris Johnson muss nach Canossa.

Damit endet der EU-Ausstiegsprozesses, wie London ihn sich vorgestellt hat: Das Ende der zweijährigen Verhandlungsfrist und der britische Zwangsaustritt rücken näher. Belgier und Italiener verweigern jede Verlängerung. Aber die Verhandlungen über die britische EU-Assoziierung, deren Ergebnis dann noch von 27 EU-Mitgliedern ratifiziert werden müsste, bleiben blockiert. Den Briten droht der EU-Rauswurf ohne Zugang zum Gemeinsamen Markt. Westminster muss sozusagen nach Canossa, schreibt höhnisch Le Monde: Dem dann amtierenden Premierminister Johnson bleibt keine Wahl – er kapituliert und muss den britischen Austrittswunsch wieder zurückziehen. Hübsche Pointe der Le-Monde-Redakteure: Der EU-Ausstritt ist zwar rechtlich möglich, aber erweist sich als technisch doch nicht machbar. Ein Happy End trotz Votum gegen Europa: Brexit ohne Exit.

The Sunday Times: Brexit, aber kein Antrag in Brüssel

Soweit die Prognose aus Paris. Ganz andere Brexit-Vorstellungen hat in London die Wochenzeitung The Sunday Times. „Es ist Zeit für Großbritannien, mit Europa einen neuen Handel abzuschließen“, überschreibt das Blatt seinen etwa 10.000 Zeichen langen Hauptkommentar und wirbt mit einem spannenden Argument für das „Ja” zum Brexit: Am 24. Juni sollen die Verhandlungen für eine „fundamentale Reform“ der EU erst richtig beginnen. Denn aus Sicht der Sunday Times gibt es für den Premierminister am 24. Juni überhaupt keinen Grund, den Austrittsprozess sofort in Gang zu setzen. Im Gegenteil: „Wenn wir am Donnerstag für das ‚leave‘ stimmten und dann die Umsetzung des Austrittsverfahrens nach Artikel 50 verzögerten, dann könnten wir und der Finanzplatz London noch jahrelang im gemeinsamen Markt bleiben.“ Das ist sachlich richtig: Nur der Austrittskandidat entscheidet, wann er den Antrag zum Austritt aus der EU stellt. Wenn davor etwas Zeit verstriche, wäre das fast allen Abgeordneten im Parlament in Westminster recht – und ebenso etwa den deutschen Automobilherstellern, die in Großbritannien ein Fünftel ihres Absatzes machen, meint das Blatt: „Es ist von fundamentaler Bedeutung, dass wir verzögern.“ Bisher habe Brüssel sich noch immer auf Verhandlungen eingelassen, wenn ein Mitgliedsland deutlich gemacht habe, dass es sich „nicht länger herumschubsen lassen wolle“.

Wenn wir am Donnerstag für das ‚leave‘ stimmten und dann die Umsetzung des Austrittsverfahrens nach Artikel 50 verzögerten, dann könnten wir und der Finanzplatz London noch jahrelang im Gemeinsamen Markt bleiben.

The Sunday Times

Mit dem Austritts-Votum im Rücken soll dann London erzwingen, was Premierminister Cameron in seinen bisherigen Verhandlungen mit Brüssel nicht erreichen konnte: etwa eine „Notbremse bei der Zuwanderung“, die Bundeskanzlerin Merkel verweigert habe. „Nur ein kleiner Preis, wenn man uns an Bord halten will“, so The Sunday Times. Dem Blatt zufolge soll London außerdem den Zentralisierungskurs stoppen, den Brüssel eingeschlagen habe um die Eurozone zu retten: „Dieser Kurs ist weder in unserem Interesse, noch letztlich dem Europas.“ Die Briten könnten jetzt vielmehr den Europäern den Anstoß geben, neu über sich und ihre politischen Ziele nachzudenken: „Wir wollen eine lockerere und flexiblere Verbindung mit Europa. Das soll keine Abweisung von Freunden sein, sondern ein Appell für eine wirkliche Reform. Wenn man den Völkern Europas nur die Möglichkeit dazu gäbe, dann würden sie zustimmen.“

Nein zum Brexit – aber alle Streitfragen bleiben

Und wenn die Briten sich am Donnerstag gegen den Brexit und für Europa entscheiden? Dann bleibt es trotzdem spannend, in London und in Brüssel. Die Tory-Fraktion in Westminster ist regelrecht in zwei Teile gerissen. Während der Kampagne für und gegen den Brexit haben sich in beiden Lagern Wut und Bitternis angesammelt. In der Labour-Party sieht es kaum besser aus, schreibt ebenfalls in der Sunday Times der Labour-Abgeordnete Tristram Hunt aus dem mittelenglischen Stoke-on-Trent: „An diesem Tag der Abrechnung wird Labours Herz in zwei Teile gerissen.“ Labours großstädtische Mittelklasse-Liberale sind für Europa, aber die eher sozialkonservative Labour-Wählerschaft aus der Arbeiterschicht tendiert zum Brexit. Labour wird am Tag danach, am Freitag den 24. Juni, in ähnlicher Not sein wie die Konservativen.

Abgesehen von ein paar seltenen Ausnahmen sind wir jetzt alle Euroskeptiker.

The Sunday Times

Beim „Nein“ zum Brexit bliebe erst mal alles wie es ist: die Briten in der EU und alle britisch-europäischen Streitfragen ungelöst auf dem Brüsseler Tisch – Einwanderung, der britische Sonderstatus, Brüssels Kompetenzen, das europäische Projekt, die Konsolidierung der Eurozone und die „immer engere Union“. Auch bei diesem Ausgang des Referendums würde Cameron in Brüssel neue Verhandlungen erzwingen, sieht die New Yorker Internetzeitung The Fiscal Times voraus und beschreibt plastisch, was der Premier in Brüssel seinen Kollegen im Rat der Staats- und Regierungschefs sagen würde: „Es ist geklärt. Wir bleiben. Und jetzt will ich, dass die Dinge in Bewegung kommen.“ Und dann würde Cameron Kommission und Rat sozusagen den ganzen Beschwerde-Katalog der Brexit-Befürworter neu auftischen.

Wenn wir für die Mitgliedschaft in der EU stimmen, dann muss sich Labour voll zu Europa bekennen und sein eigenes Reformpaket präsentieren, mit dem wir Europa hinkriegen.

Tristram Hunt, Labour-Abgeordneter

Seine Konservative Partei in London würde das wieder zusammenführen. Labour würde mitmachen, schon aus Sorge um die Einheit der Partei. So sieht es jedenfalls der Labour-Abgeordnete Hunt aus Stoke-on-Trent: „Wenn wir für die Mitgliedschaft in der EU stimmen, dann muss sich Labour voll zu Europa bekennen und sein eigenes Reformpaket präsentieren, mit dem wir Europa hinkriegen.“ Labour solle dann die Regierung drängen, die britische EU- Ratspräsidentschaft 2017 zu nutzen, um die EU-Reisefreiheit zu überprüfen, den Zugang zu den Sozialsystemen zu ändern, schärfere Kontrolle der Schengen-Grenzen und ein Ende der Niedriglöhne für Arbeitsmigranten herbeizuführen. Auch das klingt fast wie der Beschwerde-Katalog der Brexit-Befürworter – diesmal von Labour. Kein Wunder, denn die monatelange Kampagne für und gegen Brexit hat vor allem ein Ergebnis, beobachtet The Sunday Times: „Außer ein paar seltenen Ausnahmen sind wir jetzt alle Euroskeptiker.“

Brexit hin oder her, egal ob „Leave“ oder „Remain“, zwischen London und Brüssel bleibt am 24. Juni wahrscheinlich alles beim alten: Die Verhandlungen um den britischen EU-Status und die Zukunft des europäischen Projekts gehen weiter. „Back to square one“ wird man in London sagen – zurück zum Ausgangspunkt.