Der türkische Präsident Recep Erdogan. (Foto: Zuma-Press/imago)
Türkei

Heftige Kritik am Autokraten Erdogan

Immer mehr nahmhafte Politiker aus der Union äußern ihre Vorbehalte gegen das Vorgehen des türkischen Präsidenten. Bundestagspräsident Lammert sagt, die Türkei entferne sich immer weiter von "unseren Ansprüchen an eine Demokratie". Der Fraktionschef der europäischen Konservativen, Manfred Weber, fordert die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu stoppen.

Die Kritik am selbstherrlichen und undemokratischen Verhalten des türkischen Präsidenten Erdogan in der Union wird lauter. Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) hat in der Süddeutschen Zeitung das Vorgehen des türkischen Staatspräsidenten Recep Erdogan gegenüber dem Parlament in Ankara scharf kritisiert. Lammert warf Erdogan mit Blick auf die geplante Aufhebung der Immunität vor allem von Abgeordneten der prokurdischen Oppositionspartei HDP „autokratische Ambitionen“ vor. Erdogans Vorgehen setze „leider eine ganze Serie von Ereignissen fort, mit denen sich die Türkei immer weiter von unseren Ansprüchen an eine Demokratie entfernt“, kritisierte der Bundestagspräsident.

Angriff auf die Immunität von Abgeordneten

Nach wochenlangem Streit hatte eine breite Mehrheit des türkischen Parlaments am Dienstag in einer ersten Runde für die Aufhebung der Immunität von mehr als einem Viertel der Abgeordneten gestimmt. Die nötige Zweidrittelmehrheit für eine direkte Verfassungsänderung zu diesem Zweck wurde am Dienstagabend in Ankara jedoch nicht erreicht. Die entscheidende Abstimmung folgt am Freitag. Staatspräsident Erdogan hatte dazu aufgerufen, die Immunität der HDP-Abgeordneten aufzuheben. Er wirft ihnen vor, der „verlängerte Arm“ der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK im Parlament zu sein.

Jetzt ist der Selbstbehauptungswille des türkischen Parlaments gefragt.

Norbert Lammert

Lammert sagte, die Empörung über die neue Attacke Erdogans auf die parlamentarisch-demokratischen Strukturen in der Türkei könne nur erfolgreich sein, „wenn das Parlament sich auf dem Wege der Selbstentmachtung dazu bereitfindet“. Denn die dafür notwendige Mehrheit komme „nur dann zustande, wenn nicht nur die Abgeordneten der regierenden AKP zustimmen, sondern auch eine Mindestzahl an Abgeordneten anderer Fraktionen“. Deshalb sei jetzt der „Selbstbehauptungswille des türkischen Parlaments gefragt“.

CSU  lehnt Visafreiheit ab

Auch Franz Josef Jung (CDU), der stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion, verurteilte gegenüber der Süddeutschen Zeitung das Vorgehen Erdogans scharf: „Was da im türkischen Parlament passiert, ist ein Unding.“ Offensichtlich werde „dort versucht, allein die kurdischen Abgeordneten zu treffen“. Die aktuellen Ereignisse in Ankara seien „ein weiterer Baustein dafür, dass die Türkei mindestens zur Zeit die europäischen Werte nicht einhält“.

Bundestagsvizepräsident Johannes Singhammer (CSU) sagte ebenfalls der Süddeutschen Zeitung, mit der geplanten Immunitätsaufhebung „überschreitet Erdogan den Rubikon“. Spätestens jetzt dürfe die Europäische Union keine Visumfreiheit für Türken mehr beschließen. Diese ist ein zentraler Bestandteil der Vereinbarung zur Rücknahme von Flüchtlingen, die die Europäische Union vor allem auf Betreiben von Bundeskanzlerin Angela Merkel getroffen hat. Neben der Aussicht auf Visafreiheit zählt auch die Zusage, die EU-Beitrittsverhandlungen zu intensivieren, zum EU-Türkei-Paket. Die CSU lehnt sowohl die vollständige Visafreiheit als auch einen EU-Beitritt der Türkei entschieden ab.

Wenn die Türkei mit Drohungen antwortet, kann das für uns kein Maßstab sein.

Horst Seehofer

Auch der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer sagte jetzt der „Welt am Sonntag“ bezüglich der wüsten Ansagen aus Ankara, man werde wieder Flüchtlinge auf den Weg nach Europa schicken, wenn Europa die Zustimmung zur Visafreiheit verweigere: „Auf Drohungen darf man sich gar nicht einlassen. Ich habe große Achtung vor dem Europäischen Parlament, das sehr klar sagt: Wenn die Türkei bestimmte rechtsstaatliche und demokratische Normen nicht erfüllt, entscheiden wir nicht über die Visafreiheit. Wenn die Türkei dann mit Drohungen antwortet, kann das für uns kein Maßstab sein.“

Wir sollten jetzt dazu kommen, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu beenden.

Manfred Weber

Der Fraktionschef der europäischen Konservativen, Manfred Weber (CSU), hat die EU dazu aufgerufen, die Gespräche mit der Türkei über eine Mitgliedschaft zu beenden. „Wir sollten jetzt dazu kommen, die Partnerschaft zwischen Europa und der Türkei auf eine neue Grundlage zu stellen, die Beitrittsverhandlungen jetzt zu beenden und pragmatisch zusammenzuarbeiten bei Themen, wo wir gemeinsame Aufgaben auf dem Tisch haben“, sagte Weber am Donnerstag der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. Ankara bewege sich bei Demokratisierung, Rechtsstaatlichkeit und Pressefreiheit auf negativem Weg. Da wäre es der richtige Zeitpunkt, „eine Lebenslüge in dieser Partnerschaft zu beenden, nämlich die der Vollmitgliedschaft. Es wird zu einer Vollmitgliedschaft aufgrund der Einsicht beider Seiten nicht kommen.“

Türkei bestreitet immer noch den Völkermord

Zwischen der Türkei und Deutschland bahnt sich zudem ein weiterer Konflikt an. Der Bundestag will am 2. Juni eine Resolution beschließen, in der die Ermordung vieler hunderttausender Armenier durch die Türkei als „Völkermord“ bezeichnet werden soll. Gegen diese Kategorisierung wehrt sich die türkische Regierung vehement. Die Tageszeitung Die Welt zitiert einen Sprecher von Präsident Erdogan: „Völkermord ist ein ernster Vorwurf. Davon zu sprechen, ohne Beweise zu haben, bedeutet, dies für politische Zwecke zu instrumentalisieren.“ Damit liegt er allerdings falsch: 2001 stellte das „International Center of Transitional Justice“ im Auftrag der Türkisch-Armenischen Versöhnungskommission fest, dass im Falle der ab 1915 getöteten Armenier alle Straftatbestände der UN-Genozidkonvention erfüllt sind.

Der Antrag von Union, SPD und Grünen trägt den Titel „Erinnerung und Gedenken an den Völkermord an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten vor 101 Jahren“. Unionsfraktionschef Volker Kauder sagte dazu: „Wir wollen an der Aufarbeitung mit dem Ziel mithelfen, das Trennende zwischen Armeniern und der Türkei zu überwinden.“ Der türkische Botschafter in Deutschland, Hüseyin Avni Karslioglu, nannte es in der Rheinischen Post fragwürdig, wie der Bundestag mit der Entschließung zur Normalisierung der Beziehungen zwischen der Türkei und Armenien beitragen könne.

Die Türkei bezeichnet die Vorkommnisse der Jahre 1915 bis 1917 beschönigend als „Zwangsumsiedlung“. Im damaligen Osmanischen Reich wurden die Armenier aus Anatolien vertrieben. Bei Massakern und auf Todesmärschen kamen dabei hunderttausende Armenier ums Leben. Im vergangenen Jahr zog die Türkei vorübergehend ihren Botschafter aus dem Vatikanstaat ab, nachdem Papst Franziskus die Massaker an den Armeniern als ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts bezeichnet hatte. Die „Welt“ nennt auch einen wichtigen Grund für die beharrliche Weigerung Ankaras: „Wer Völkermord sagt, muss zahlen“, sprich die Armenier entschädigen.