Mahnwachen in Kiew anlässlich des Jahrestages der durch Stalin verursachten ukrainischen Hungersnöte in den 30 er Jahren sowie als Zeichen der Solidarität mit den Krimtataren. (Bild: Imago/Zuma)
Kriegsverbrechen

Berichte aus der ostukrainischen Hölle

17 ukrainische Menschenrechtsorganisationen haben tausende Fälle schwerer Folter, Zwangsarbeit sowie Verschleppungen in der Ostukraine meist durch prorussische Rebellen dokumentiert. 79 Foltergefängnisse wurden identifiziert. Auch russische Militärangehörige sollen an den Kriegsverbrechen beteiligt sein. All dies soll dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag übergeben werden.

In 28 Städten und Dörfern gebe es 79 solcher illegalen „Haftanstalten“, meldete der Deutschlandfunk als erstes Medium über den Bericht. Meist seien es Keller in Verwaltungsgebäuden, Universitäten wie in Lugansk, Schulen, oder sogar Krankenhäuser und Restaurants – alle befinden sich aber in den beiden sogenannten „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk, wo demnach der weit überwiegende Teil der Kriegsverbrechen geschehe. Von über 4000 Opfern wissen russische und ukrainische Menschenrechtsorganisationen nach Befragungen von Zeugen und Betroffenen. Zahlreiche Fotos belegen schwere Misshandlungen durch Schläge, Elektroschocks oder Strangulierungen, sogar abgetrennte Gliedmaßen sind zu sehen. Der Bericht „Surviving Hell“ (Die Hölle überlebt) der Helsinki-Stiftung für Menschenrechte scheint auch deshalb glaubhaft, weil auch Verschleppungen und Folter auf ukrainischer Seite verzeichnet wurden.

Folter dank russischer Unterstützung

Das Ausmaß der Verbrechen sei den Umständen geschuldet, dass die Täter im Herrschaftsgebiet der prorussischen Separatisten bislang keinerlei Strafen zu fürchten hatten und den Beobachtern der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) fast vollständig den Zutritt verwehrten. Sogar der Ministerpräsident der „Donezker Volksrepublik“, Alexander Sachartschenko, soll einem der registrierten Opfer mit einem Hammer den rechten Zeigefinger zertrümmert haben. „Die Separatisten haben mit Moskaus Hilfe ein Terrorregime errichtet“, heißt es im Deutschlandfunk. Denn von 58 russischen Militär- und Geheimdienstangehörigen wüssten die Juristen der Menschenrechtsorganisationen namentlich, dass sie bei Festnahmen und Folter beteiligt waren.

Militärs aus Russland beaufsichtigten die Gefangenschaft. Sie verschwiegen ihre Herkunft nicht. Sie sagten, sie seien auf einem Manöver in Rostov. Ich habe nicht verstanden, ob sie wirklich glaubten, sie seien in Russland, aber sie trugen russische Uniformen mit Abzeichen.

Zeuge С-53

Es gebe massenhafte willkürliche Festnahmen, natürlich ohne Rechtsbeistand. Viele Gefangene werden laut den gesammelten Zeugenaussagen angeblich auch zur Zwangsarbeit verpflichtet, müssten unter anderem LKW mit angeblich humanitärer Hilfe, in Wahrheit jedoch Waffen entladen. Unter Androhung von Schlägen mussten Gefangene russischen Journalisten mit Falschaussagen für anti-ukrainische Propaganda zur Verfügung stehen. Auch Scheinexekutionen, Schlaf- oder Essensentzug und dauernde Bedrohungen mit Körperstrafen oder dem Tod standen auf dem „Programm“. Diese Aussagen wollen die in der Helsinki-Stiftung für Menschenrechte vertretenen Organisationen nun dem Internationalen Kriegsverbrechertribunal in Den Haag und dem Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg übergeben.

Der Maniak zeigte mir ein Operationsbesteck. Er erklärte jedes einzelne Instrument und sagte, dass er mir mit der Knochensäge Stück für Stück die Finger absägen wird.

Oleksander Hryschtschenko, Folteropfer

Als ausführliches Beispiel wird der Fall des Tierarztes Oleksander Hryschtschenko geschildert: Der 55-Jährige wurde von den Separatisten in der Ostukraine über Monate brutal misshandelt. Hryschtschenko wird zu seinen Peinigern so zitiert: „Einer nannte sich ‚Maniak‘, ‚Irrer‘. Er trat mir mit voller Wucht auf den Brustkorb. Ich fiel zu Boden. Ein anderer mit Decknamen ‚Janek‘ versetzte mir Stromstöße mit Elektroschockern.“ Und weiter: „Der Maniak zeigte mir ein Operationsbesteck. Er erklärte jedes einzelne Instrument und sagte, dass er mir mit der Knochensäge Stück für Stück die Finger absägen wird. Er setzte die Säge zwischen Ring- und kleinem Finger an. Hier ist die Narbe. Es war furchtbar. Schmerzhaft. Ich flehte ihn an, mich nicht zu verstümmeln.“ Ihm seien mit Fußtritten die Rippen und das Brustbein gebrochen werden. Hunderte Mitgefangene hat Hryschtschenko während seiner vier Monate in dem Folterkeller gezählt. Dabei seien die Haftgründe schlicht willkürlich, es reiche ein Farbfoto im Pass genauso wie ein Schwarz-Weiß-Foto, der Kauf eines Bieres oder die Missachtung der Sperrstunde um fünf Minuten. Ein anderer Zeuge berichtet, jemand sei gefoltert worden, weil er Fan des falschen Fußballclubs war.

Erschütternde Zeugenaussagen

Eine Frau (Zeugin C-83) verlor ihr Kind: „Ich bat sie, mich nicht zu schlagen, und teilte ihnen mit, dass ich schwanger war. Sie sagten, es wäre gut, wenn das „ukrop“ Kind (das Wort steht wohl in etwa für ukrainischer Bastard, Anm. d. Red.) sterben würde. Sie schlugen uns mit allem, einschließlich Stöcken, Füßen oder schusssicheren Westen. Sie schlugen alle Teile des Körpers. Sie drückten Zigaretten auf mir aus. Er klebte mir die Augen mit Klebeband zu weil ich zusah und schrie, wenn sie die anderen schlugen. Ich war im dritten Monat schwanger und nach den Schlägen hatte ich Blutungen. Ich wurde bewusstlos.“

„Eine Frau wurde geschlagen von einem Mann, der sich Oleh Kubrak nannte. Er drohte ihr mit Vergewaltigung. Er schnitt ihr mit einem Messer in die Hände, den Hals und den Rücken.“ (Zeuge С-30)

„Sie schlugen mich mit einem Schlagstock auf meinen Rücken und meine Beine, schossen mit traumatisierenden Waffen von den Schultern zu den Fingern, und hielten Scheinexekutionen ab. Mein Rücken und meine Beine wurden schwarz von der Folter. Die Finger beider Hände waren gebrochen. Ich konnte für mehrere Tage nicht mehr gehen.“ (Zeuge C-19)

„Von den drei Gefangenen des Frauenbataillons wurden zwei kastriert, erzählten sie (einer lebt heute in Lemberg). Die Kastration wurde demonstrativ vor den anderen Gefangenen durchgeführt.“ (Zeuge C-19)

„Sie hielten mir die Waffe an die Stirn. Der Schuss ging direkt neben meinem Ohr los. Dann benutzten sie den Elektroschocker, immer wieder.“ (Zeuge C-93)

„Sie brachen meine Rippen, und mein ganzer Körper war schwarz. Sie schlugen mich während und zwischen den Verhören, mit Händen, Füßen und Waffen. Sie folterten mich mit Strom. Sie fesselten mich mit Handschellen an ein Metallbett, legten Drähte an meine Hände und drehten den Strom auf. Sie berührten meinen Kopf und meine Genitalien mit einer Metallstange, die mit Strom geladen war. Sie schlugen mich mit einem Ladestock. Sie hängten mich an der Decke auf und gossen Eiswasser über mich.“ (Zeuge C-46)

Viele seien in Folge der Folterungen gestorben. „Um den 20, August 2014 hörte ich Schreie aus der Nachbarzelle. Später fand ich heraus, dass eine Person zu Tode gefoltert wurde. (…) Am Morgen verpackten sie seinen Körper in ein Leichentuch.“ (Zeuge C-55)

Hohe Dunkelziffer?

Vermutet wird hinter diesen aufgedeckten Fällen auch noch eine hohe Dunkelziffer. „Wir haben 165 Personen befragt, die durch eine ähnliche Hölle gegangen sind. Wir können nachweisen, dass im vergangenen Sommer 4000 Menschen in Geiselhaft gewesen sind. Die realistischen Zahlen sind vermutlich noch höher, denn die Geiselnahmen finden ja immer weiter statt. Die Verwandten wenden sich nicht an unsere Hilfsorganisationen, weil sie annehmen, dass wir ihnen nicht helfen können. Und sie wenden sich auch nicht an die ukrainischen Sicherheitsorgane, weil sie ihnen nicht trauen und sie fürchten“, so Oleksandra Matwitschuk vom Zentrum für Bürgerliche Freiheit im Deutschlandfunk. Die Opfer wurden offenbar über Monate festgehalten und später in andere Gefängnisse verlegt mit der Zusage, ihre Misshandlung werde juristisch verfolgt. Dazu sei es aber nie gekommen.

Ich wusste nicht, was sie den Gefangenen antaten, aber ihre Schreie waren sehr laut. Sie kamen um 21 Uhr an und bis 4 Uhr morgens konnte ich wegen ihrer Schreie nicht einschlafen. Ihre Schreie ließen einem die Haare zu Berge stehen.

Zeuge C-49

Auch Amnesty bestätigte die Berichte

Eine weitere Studie stärkt die Glaubwürdigkeit der neuen Enthüllungen: Bereits im Juli 2014 hatte auch die Organisation Amnesty International einen erschütternden Bericht über hunderte Entführungen und Folterungen in der Ostukraine vorgelegt. In dem Bericht „Abductions and Torture in Eastern Ukraine“ wurden erdrückende Beweise für gravierende Menschenrechtsverletzungen durch beide Kriegsparteien vorgelegt. „Die meisten Entführungen gehen auf das Konto von bewaffneten Separatisten“, sagte schon damals Denis Krivosheew von Amnesty International, Vizedirektor für Europa und Zentralasien. „Die Opfer wurden oft brutal geschlagen und gefoltert. Aber auch seitens der regierungstreuen Kräfte haben wir Menschenrechtsverletzungen dokumentiert.“ Dabei gehe es neben der Einschüchterung der Bevölkerung auch um die Erpressung von Lösegeld. Krivosheew weiter: „Es herrscht ein Vakuum, was Autorität und Sicherheit angeht. Die Angst vor Repressalien, Entführungen und Folter war bei den Menschen allgegenwärtig.“

Es muss jetzt endlich klargemacht werden, dass solche Menschenrechtsverletzungen nicht straflos bleiben. Allein das könnte bereits eine abschreckende Wirkung haben.

Gernot Erler

Der Russlandbeauftragte der Bundesregierung, Gernot Erler (SPD), zeigte sich in der Passauer Neuen Presse „tief geschockt“ über den Bericht und forderte ein gerichtliches Vorgehen. „Es muss jetzt endlich klargemacht werden, dass solche Menschenrechtsverletzungen nicht straflos bleiben. Allein das könnte bereits eine abschreckende Wirkung haben.“ Es gebe zwar schon seit langem Berichte über Tötungen, Verschleppungen, Folter, Zwangsarbeit, Erniedrigungen, Scheinerschießungen und Vergewaltigungsdrohungen in der Ostukraine, sagte Erler im Deutschlandfunk. Bisher sei aber die Beweislage schwierig gewesen. Nun gebe es jedoch genaue Dokumentationen und Klarnamen, die dem IStGH vorgelegt werden könnten, sagte Erler dem Sender. Wichtig sei auch die Erkenntnis, „dass russische Militärangehörige involviert sind in diese Verbrechen.“

Sanktionen auf dem Prüfstand

Die EU-Außenbeauftragte Mogherini rechnet in einem Interview mit der Zeitung „Die Welt“ mit einer Verlängerung der Sanktionen gegen Russland im Juli. Die EU-Staats- und Regierungschefs hätten eine Aufhebung der Strafmaßnahmen an eine vollständige Umsetzung der Minsker Abkommen gekoppelt. Diese sei allerdings bislang nicht geschehen. „In der zweiten Hälfte dieses Jahres sollten dann jedoch die EU-Regierungen eine grundsätzliche politische Bewertung vornehmen, inwieweit die Minsker Abkommen umgesetzt wurden und wie der weitere Weg zur Lösung des Konflikts in der Ukraine aussieht“, sagte sie der Welt. „Wir haben Russland lange Zeit als strategischen Partner betrachtet. Das ist heute nicht mehr der Fall, aber es ist immer noch ein strategisches Land.“ Man arbeite deshalb mit Russland in Bereichen, wo es gemeinsame Interessen gebe, „selektiv“ zusammen.

Laut Münchner Merkur erhöhen die Wirtschaft und auch die Landwirte den Druck auf die deutsche Regierung, die Sanktionen wegen ihrer Einbußen fallen zu lassen.

Ein Lied wird politisch

Unterdessen wurde die ukrainische Sängerin Jamala nach ihrem Sieg beim Eurovision Song Contest von Staatschef Petro Poroschenko mit dem Titel „Volkskünstlerin der Ukraine“ geehrt. Man könne sagen, dass sie einen großen Beitrag dafür geleistet habe, dass die Frage der Krim erneut auf den ersten Zeitungsseiten auftauchte, sagte Poroschenko gemäß einer Pressemitteilung. Die Schwarzmeerhalbinsel Krim war 2014 handstreichartig von Nachbar Russland besetzt und annektiert worden. Aktivisten der Krimtataren klagen seitdem über Verfolgung. Jamalas Siegerlied „1944“ beschäftigte sich mit der Deportation von rund 200.000 Krimtataren nach Zentralasien ab 1944 durch Stalin. Russische Abgeordnete kritisieren den Sieg der Ukraine als politisch motiviert. Jamala erreichte jedoch auch die russischen Zuschauer. Zehn Punkte gab es von den Fans aus Russland, während die vom staatlichen Fernsehsender eingesetzte Jury den ukrainischen Beitrag komplett ignorierte. Umgekehrt gab es zwölf Punkte von den ukrainischen Zuschauern für den russischen Drittplatzierten Sergej Lasarew. Die Jury in Kiew gab ebenfalls null Punkte für ihn.