Dort, wo Bayern fast endet, steht das Zentrallager der Bio-Republik Deutschland. Asphalt, Stahlbeton, Dämm-Fassaden auf der Fläche von mehr als 15 Fußballfeldern. Grün sind hier nur die Wiesen außen herum. Auf dem Parkplatz warten Kolonnen von Lastwagen auf die Beladung. Wer sich dem oberfränkischen 1000-Einwohner-Ort Töpen an der Thüringer Landesgrenze nähert, denkt im ersten Moment, das ganze Dorf sei überdacht worden. Die 91.000 Quadratmeter Lagerhallen des größten deutschen Großhändlers für Öko-Lebensmittel nehmen fast so viel Raum ein wie die eigentliche Gemeinde.
Zwischen den Autobahnen
Das Logistikzentrum und die Verwaltungszentrale der Firma Dennree wachsen langsam um den Dorf-Friedhof herum. Von dem Örtchen im Schnittkreuz der Autobahnen A 9 und A72 bei Hof aus beliefert der noch relativ unbekannte Handelsriese rund 2000 Bio-Supermärkte, Ökoläden, Reformhäuser. Darunter auch die Bio-Discounter der konzerneigenen Kette „Denn’s“, die mit 64 Filialen im Freistaat und fast 300 in der gesamten Bundesrepublik schon heute die größte ist.
Bayern und Baden-Württemberg sind die am weitesten entwickelten Bio-Regionen.
Lukas Nossol, Marketing-Chef
Dreißig Prozent der landwirtschaftlichen Fläche im Freistaat sollen bis 2030 ökologisch bewirtschaftet werden, nachdem die Staatsregierung beschlossen hat, das erfolgreichen „Volksbegehren Artenschutz“ 1:1 ins bayerische Umweltschutzgesetz zu übernehmen. Aber ohne einen wachsenden Handel mit Bio-Produkten ist dieses ehrgeizige Ziel nach Einschätzung von Marketing-Chef Lukas Nossol kaum zu erreichen. Soll heißen: Ohne bislang noch eher versteckte Champions wie Dennree.
Nossol, 33, Betriebswirt und Antroposoph, ist eines von acht Kindern des Firmengründers Thomas Greim, 67. Die vier Ältesten sind als Manager für das Familienunternehmen tätig. Pionier Greim, der bereits Anfang der 1970er-Jahre Biomilch auslieferte und Dennree seither zum Logistik-Riesen mit 1,025 Milliarden Euro Umsatz formte, meidet den öffentlichen Auftritt. Das Reden übernimmt Sohn Lukas.
Bio-Kartoffeln aus Ägypten?
Rund 14.000 Artikel listet der Großhändler am äußersten Rand des einstigen Zonenrandgebiets. Nudeln, Wein, Säfte, Süßwaren, Milchprodukte. Dazu Obst und Gemüse aus deutschem Anbau – aber auch Bananen aus Ecuador, Birnen aus Argentinien, Melonen aus Marokko, Avocado aus Mexiko. Dass Teile der Bio-Ware nicht regional hergestellt sind, erzürnt immer wieder eingefleischte Bio-Konsumenten. Mitte April empörte die Öko-Gemeinde, dass ägyptische Bio-Frühkartoffeln bei Denn’s sogar günstiger zu haben waren als einheimische. „Wir verstehen uns als Vollsortimenter“, hält Marketing-Mann Nossol dagegen, „wenn saison-bedingt nicht genug Ware aus dem Inland kommt oder sich die CO2-Bilanz der restlichen Lagerware verschlechtert, dann unterstützen wir auch Bio-Bauern im Ausland.“ Auch in Nordafrika oder in Südamerika.
Wenn große Ketten wie Lidl oder Aldi mittlerweile mehrere Dutzend Sorten von Bio-Lebensmitteln ins Sortiment nehmen, versteht Nossol das als Signal an den gesamten Markt: „Die Discounter sind systemkritische Marktakteure. Wenn die bio wollen, dann wird das Standard.“ In deren Filialen kommen manche Kunden, die nie ein Reformhaus betreten hätten, erstmals in Berührung mit dessen Produkten. Und wenn sie Geschmack daran finden und bereit sind, höhere Preise für nachhaltige Nahrung zu bezahlen, findet ein Teil auch den Weg in den Bio-Supermarkt, so das Kalkül. Warum sollte sie dann der größte Bio-Einzelhändler mit eingeschränktem Angebot verschrecken? Keine Äpfel im Winter, keine Kartoffeln zum Spargel in der frühen Saison. „Die Menschen sind beim Einkauf inzwischen gewohnt, alles in einem Geschäft mitzunehmen“, sagt Nossol, „also muss das auch bei uns so sein.“
Per Elektroschlitten ins Eisfach
Wie breit mittlerweile die Produktpalette deutscher Bio-Hersteller ist, lässt sich in den riesigen Dennree-Lagerhallen besichtigen. Mitarbeiter sausen auf Elektro-Transportschlitten durch die schier endlosen, sieben Meter hohen Regalreihen und sammeln mit einer Lieferliste aus dem Bordcomputer die Bestellung für je einen Kunden zusammen. Aus den Reifekammern für Südfrüchte karren sie palettenweise Bananen. Mit Hydraulikhebern wuchten sie Keks- oder Schokoladen-Chargen herab. Die Männer in der Tiefkühl-Halle tragen bei – 23 Grad auch im Hochsommer Wollmütze und Anorak, wenn sie Pizza, Fischstäbchen oder Vanilleeis für den Versand aus den Gefrierfächern holen.
Auch der konventionelle Handel springt auf den Zug auf: Bio ist plötzlich Trend.
Thomas Greim, Dennree-Gründer
Dass so ein Logistikzentrum enorme Energiemengen für Kühlung oder Beleuchtung schluckt, dass die bundesweite Auslieferung per Lkw nicht abgasfrei erfolgt, bestreiten die Dennree-Leute erst gar nicht. „Bio ist, mit unsere Werten betrachtet, bereits ein Kompromiss“, sagt Manager Nossol, „unsere 240 Laster fahren mit Diesel, viele unserer Mitarbeiter pendeln mit dem Auto nach Töpen.“ Dies bedeute jedoch nicht, dass es nicht besser geht – sondern nur, dass sein Unternehmen noch keine bessere Lösung gefunden habe. Die Betonung legt er auf: noch. „Hundert Prozent Biolandwirtschaft muss irgendwann kommen. Aber auch das wäre dann immer noch ein Kompromiss“, sagt er mit einer Mischung aus Optimismus und Pragmatismus.
Diesen Mix hat Vater Greim stets gepflegt. Als sich der aus dem benachbarten Bad Steben stammende Franke 1974 mit seinem damals noch kleinen Öko-Business in Töpen ansiedelte, galt er vielen als „Spinner“. CSU-Bügermeister Klaus Grünzner erinnert sich gut: „Die Leute haben so einen belächelt: Biolebensmittel, Müslis, Körnerzeugs, das wird nix, das hält sich ned.“ Aber das Gegenteil war der Fall. Aus dem Biomilch-Lieferbetrieb wurde ein vollumfänglicher Nahrungsmittel-Logistiker mit eigenem Einzelhandelsnetz. 5900 Mitarbeiter, darunter 470 Lehrlinge. Als der Gigant Lidl 2009 sein Töpener Auslieferlager schloss, übernahm Greims Dennree die Halle. „Wir sind mit denen immer gut gefahren“, sagt Grünzner, „eine solche Industriebrache mit leeren Lagerhallen am Dorfrand kann keiner gebrauchen.“
Sonderbar, wir haben den größten Ökovertrieb im Ort – aber nur wenige Ökolandwirte.
Klaus Grünzner, CSU-Bürgermeister
Heute ist Dennree mit 2,5 Millionen Euro der größte Gewerbesteuerzahler im Ort. „Und so ein Betrieb in der Gemeinde färbt ab“, sagt der Bürgermeister. Ihn selbst hat das Unternehmen mit dem grünen Logo inspiriert: Wird im Ort eine neue Straße asphaltiert, lässt Grünzner stets blühende Alleebäume wie die Wildbirne pflanzen mit Bienenwiesen darunter. Nur eines wundert ihn: „Sonderbar, wir haben den allergrößten Öko-Vertreib im Ort – aber nur wenige Öko-Landwirte.“ Genauer gesagt: nur einen einzigen Biobauern. „Ich verstehe selber nicht, warum unsere Landwirte da nicht innovativer sind“, grübelt Grünzner. Aber vielleicht ändere sich das ja.
Dorf mit Biosupermarkt
Mutmaßlich ist Töpen das einzige bayerische Dorf mit Bio-Supermarkt. Im Denn’s am Ortseingang geht auch Grünzner gern einkaufen. Wenn dies künftig immer mehr Menschen so halten, kalkuliert der Lokalpolitiker, profitiert davon auch Dennree. Und je mehr so ein Großhändler verkauft, desto mehr muss er zuvor bei Landwirten erstehen. Langfristig jedenfalls werden auch mehr Bauern in Oberfranken bio produzieren, ist der Rathaus-Chef überzeugt.
Händler Greim entwickelt sich derweil selbst zum Biobauern. Das war nämlich sein ursprünglicher Berufswunsch, ehe er in den 70ern seine Firma mit dem französischen Wort für Nahrungsmittel – „denrée“ – im Namen gründete. Im rund 30 Kilometer entfernten sächsischen Dörfchen Eichigt hat er für rund 20 Millionen Euro eine vormalige Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (LPG) aus DDR-Zeiten übernommen und zu einer riesigen Bio-Farm umfunktioniert. 70 Hektar Weiden, nach Öko-Standards renovierte Ställe, darin 3000 Rinder, von denen er 1400 als Milchkühe halten lässt.
Gewaltige Ökofarm
Gewaltige Dimensionen im Vergleich zu vielen Familienbetrieben in Bayern, die oft nur fünfzig oder hundert Tiere halten. Täglich 25.000 Liter Biomilch kommen aus Eichigt, die Greim über sein Handelsimperium vermarktet. Seit den Anfangstagen ist Milch sein umschlagstärkstes Handelsgut. Ein Spleen – seine Herzensangelegenheit. Sohn Lukas Nossol grinst: „Seinen Pragmatismus kann er als Händler ausleben. Seinen Idealismus kann er als Landwirt richtig aufleben lassen.“ Ganz nebenbei könne er auch beweisen, „dass man ökologische Landwirtschaft auch in diesen Größenordnungen richtig betreiben kann“. Die Natur pflegen, auf den Wiesen Totalherbizide wie Glyphosat vermeiden, das Tierwohl achten und gesunde Milli melken.
Womöglich überzeugt das auch die Bauern in der Umgebung. Oder aber das Projekt setzt sie langfristig unter massiven Druck, ob sie nun konventionell oder ökologisch produzieren. Denn so eine Großagrofarm, die zu einem Handelskonzern gehört, kann unter ganz anderen ökonomischen Bedingungen wirtschaften als ein kleiner bäuerlicher Betrieb. Vom eher positiven Effekt ist indes Bürgermeister Grünzner überzeugt: „Die ganze Bio-Branche wäre ohne diesen Mann nicht so weit wie sie ist. Ich hoffe sehr, dass der Funke auch auf die Bauern nebenan überspringt.“