Hand-Werk: Metzgermeister Norbert Wittmann zeigt Kunden, wie er seine Weißwürste "handabdreht". (Foto: Wittmann)
Landwirtschaft

Auf Messers Schneide

Seit der Schlachthof in Neumarkt geschlossen hat, sterben dem Metzger Norbert Wittmann die Viehzuchtbetriebe, die Fleisch für seine Weißwürste lieferten. Wie kommunale Infrastruktur-Entscheidungen die bäuerliche Kultur einer ganzen Region verändern.

So ein Weißwurst-Akademiker stellt einen ganz speziellen Typus Bildungsbürger dar: Genussmensch, Steak- und Filet-Connaisseur, Veggie-Skeptiker, obendrein firm im Fachwortschatz des Fleischerhandwerks. Der Neumarkter Metzger Norbert Wittmann, 52, hat gleich ein Dutzend solcher Gelehrten in seine „Weißwurst-Akademie“ geladen. Es herrscht Männerüberschuss. Kutter, Knochensäge, Fleischwolf, Brühkessel – die Herren sind mit dem traditionellen Werkzeug bestens vertraut.

Haben die Bauern keine Schlachtbank mehr, hören die einfach auf.

Norbert Wittmann, Metzgermeister

Um unter Wittmanns kundiger Anleitung Weißwürste nach original Oberpfälzer Rezept zu fertigen, dafür sind einige bis aus Thüringen angereist. Mageres Kalbfleisch, Schweinespeck, granuliertes Kalbskopf-Häutelwerk, gewürzt mit Macis, Kardamom, Pfeffer, Zitronenschale, Petersilie. „Dass da exotische Aromen drin stecken, hätte ich nie gedacht“, staunt einer.

Der Metzgermeister zeigt, wie sie die Zutaten zu Brät kuttern und dann „handabdrehen“, also aus einer Presse in Schafsdarm füllen und diese lange Röhre mit einem einfachen Schwenk aus beiden Handgelenken paarweise zu Würsten formen. Während ihre mal mehr, mal weniger krummen Ergebnisse im kochenden Wasser garen, verteilt Wittmann das „Weißwurst-Diplom“. Nach dem Zeugnis kommt die Verkostung. Zu Weißbier, Brezen und süßem Senf verspeisen die Diplomanden ihre Würste. „So macht Lernen Spaß“, ruft einer der Männer.

Vom Fleisch gefallen

Hinter der Gaudi steht für Metzgermeister Wittmann freilich ein ernstes Thema: „Gegründet habe ich die Akademie, weil ich meinen Kunden erklären musste, warum bei mir Fleisch und Wurst teurer wurden.“ Denn vor zwanzig Jahren schloss der Schlachthof am nördlichen Rand der Neumarkter Altstadt. Von den damals zwölf selbständigen Metzgereien sind heute nur mehr drei übrig. Die meisten Einheimischen kaufen Schnitzel, Braten und Aufschnitt inzwischen im Supermarkt. Für Wittmanns Delikatessenbetrieb war allerdings bedrohlicher: Von den 34 Landwirte aus der Umgebung, die ihm Rind- und Schweinefleisch lieferten, sind heute nur mehr zwei übrig. „Haben die Bauern keine Schlachtbank mehr, über die auch der Vertrieb läuft“, stellt er ernüchtert fest, „da hören die einfach auf.“

Die Stadt erklärte seinerzeit die Schließung mit Hygieneproblemen und mangelnder Wirtschaftlichkeit. Nach ähnlichen Mustern haben in ganz Bayern immer mehr öffentliche Schlachtereien dicht gemacht, in den vergangenen fünf Jahren erwischte es mehr als hundert. In Wittmanns Region traf es allein 2018 die Schlachthäuser in Lauf und in Amberg.

Oft übernehmen große Fleischkonzerne vormals kommunale Betriebe – nur, um sie gleich danach zu schließen und die Discounter vor Ort mit abgepackter Ware aus ihren Zentralviehhöfen zu beliefern. „So eine Entscheidung einer Stadt killt unsere ganze Kultur“, warnt Metzger Wittmann. Seine Rohstoffe bezieht er mittlerweile aus 150 Kilometern Entfernung von Ökobauern in Schwäbisch Hall.

So eine Entscheidung killt unsere ganze Kultur.

Norbert Wittmann

Entsprechend teurer verkauft er auch seine Bio-Weißwürste inzwischen. Zur didaktischen Aufklärung der Kundschaft hat er die „Weißwurst-Akademie“ ursprünglich gegründet, in der er Herkunft, Qualität und Preis seiner Zutaten am Beispiel der Würste erklärt. Dass daraus eine Attraktion für Feinschmecker wird, die auch von weiter her anreisen, überrascht ihn selbst. Viele Viehzüchter rund um Neumarkt hat derweil der Kahlschlag ereilt. In Sengenthal, einem Örtchen südlich der Stadt, existiert kein einziger Bauernhof mehr.

Noch Mitte der 1990er-Jahre lieferten neun Landwirte von dort an den Familienbetrieb Wittmann. „Die Schließung des Schlachthofs hatte mit Sicherheit Auswirkungen auf diese Entwicklung“, bestätigt Stephan Kratzer, 38, für die CSU Zweiter Bürgermeister im Dorf. Er erinnert sich an seine Großtante, die von ihrem Hof aus Schweine zum Neumarkter Schlachthof karrte. „Wenn die Bauern Viech‘ hatten, ging’s ohne nicht weiter,“ sagt Kratzer. Heute stamme doch „das meiste Fleisch aus der Industrie“.

Ein Dorf ohne Bauern

Vor 18 Jahren gab auch Christa Fink den von den Eltern geerbten Hof in Sengenthal auf. Der Kuhstall hätte teuer modernisiert werden müssen, ihr Mann Andreas ist im Dienst des neben dem Ort ansässigen Baukonzerns Max Bögl die ganze Woche unterwegs. „Ich allein hätte das nimmer geschafft“, erinnert sich Frau Fink.

Landwirtschaft im Nebenerwerb lohnt sich ohnehin nicht mehr.

Stephan Kratzer, CSU-Bürgermeister

Neben der fehlenden Schlachtmöglichkeit sieht sie aber auch andere Ursachen für die massive Veränderung der bäuerlichen Struktur. „Die Erben für die Höfe sind oft nicht mehr da. Viele haben studiert und arbeiten lieber woanders in einer Position, die höher angesehen ist als der Landwirt“, stellt sie fest. In ihrer direkten Nachbarschaft weiß sie allein zwei Nachkommen alteingesessener Bauern, die nach Regensburg und nach Nürnberg zur Arbeit pendeln. Laut Bürgermeister Kratzer lohnt sich die Landwirtschaft im Nebenerwerb ohnehin nicht mehr.

Metzger Wittmann merkt unterdessen, wie sich der Zeitgeist von einst problematisch auf die Gegenwart auswirkt. „Lange Zeit galt das als angesagt, dass städtische und staatliche Behörden ihren Besitz privatisieren“, sagt er. Aber wenn sich die Öffentliche Hand aus vitalen Bereichen der Gesellschaft zurückziehe, verliere sie auch den Zugriff. „Auch wenn so ein Schlachthof defizitär ist – vielleicht muss sich die Allgemeinheit das leisten“, meint Wittmann, „sonst geht’s dahin.“

Shoppen statt Schlachten

Jahrelang stritten die Neumarkter erbittert um die Weiterverwendung des Fleischbank-Areals nördlich des Unteren Stadttores. Beim letzten von mehreren Bürgerentscheiden stimmten 89 Prozent für die Bebauung mit einem Einkaufszentrum durch die Bögl-Firmengruppe: der 130 Millionen Euro teure Arkade „Neuer Markt“ mit 13.000 Quadratmetern Ladenfläche und 5.000 Quadratmetern für Büros und Arztpraxen, die das Unternehmen nicht nur errichtet hat, sondern seit der Eröffnung 2015 auch betreibt und vermarktet. Laut Gesellschafter Johann Bögl „ein großes Risiko“. Die Shopping-Mall ist selbst an manchen Samstagen eher mäßig besucht.

Auch Fleischhauer Wittmann will bauen. Den Ausweg aus dem Strukturwandel sieht er in der Veredelung und plant, sein Geschäft nebst Restaurant und Hotel-Pension am Neumarkter Bahnhof für sechs Millionen Euro aufzustocken und weiterzuentwickeln. Mit Erlebnismetzgerei, Bier-Bar, Konferenzräumen – und einer modernisierten „Weißwurst-Akademie“.