Der Sozialstaat macht uns gleich
Die Vermögen in Deutschland sind viel weniger ungleich verteilt, als oft behauptet: Denn für den größeren Teil der Bevölkerung sind die Altersvorsorgeansprüche aus dem Sozialstaat das entscheidende und gar nicht geringe Vermögen.
vbw-Studie

Der Sozialstaat macht uns gleich

Die Vermögen in Deutschland sind viel weniger ungleich verteilt, als oft behauptet: Denn für den größeren Teil der Bevölkerung sind die Altersvorsorgeansprüche aus dem Sozialstaat das entscheidende und gar nicht geringe Vermögen.

Das Vermögen der meisten Deutschen besteht vor allem in ihren Ansprüche aus ihrer Altersversorgung. Das ist das Ergebnis einer Studie, die das Kölner Institut der deutschen Wirtschaft (IW) für die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw) angefertigt hat.

Eine Vielzahl von Experten will Jahr um Jahr nachweisen, dass in Deutschland die Vermögen besonders ungleich verteilt seien, dass sehr viele Leute sehr wenig besäßen, aber dafür sehr wenige Leute sehr viel. Egal, was die üblichen Statistiken und Zahlen dazu sagen – es trifft nicht zu. Die neue IW/vbw-Studie über „Die Vermögensverteilung im internationalen Vergleich“ führt es vor.

Wichtigstes Vermögen: Rentenansprüche

158.000 Euro beträgt der IW-Untersuchung zufolge das durchschnittliche Vermögen deutscher Haushalte. Haushalte mit Wohneigentum kommen im Schnitt auf 420.000 Euro, Mieter-Haushalte auf ein Nettovermögen von durchschnittlich 52.000 Euro.

Altersvorsorgeansprüche erhöhen das Vermögen erheblich – auch für die Haushalte in der unteren Hälfte der Verteilung.

IW-vbw-Studie: Die Vermögensverteilung im internationalen Vergleich

Aber in keinem dieser Vermögenswerte sind die Ansprüche aus den staatlichen Rentensystemen, der betrieblichen Altersvorsorge und der privaten Vorsorge enthalten. Rechnet man diese hinzu, ergibt sich ein neues Bild: Das deutsche Durchschnittsvermögen steigt von 158.000 auf knapp 410.000 Euro. Die untere Einkommenshälfte im Lande springt von einem angenommenen Nettovermögen von Null Euro auf knapp 130.000 Euro. Eine auf 43.000 Euro Nettovermögen veranschlagte gesellschaftliche Mitte kommt auf 327.000 Euro. Die obere Einkommenshälfte mit einem durchschnittlichen Nettovermögen von 200.000 Euro erreicht mit ihren Versorgungsansprüchen ein Gesamtvermögen von knapp 550.000 Euro.

Hohe Relevanz der Vorsorgeansprüche, deren Mittelwert in Deutschland sogar den des traditionell gemessenen Nettovermögens übersteigt.

IW/vbw-Studie

Wichtige Erkenntnis aus alledem: Für die untere Einkommenshälfte im Lande sind die Versorgungsansprüche das entscheidende und eigentliche Vermögen. Sonst haben sie fast nichts. Und es geht dabei um sehr viele Menschen. In der statistischen Theorie beträfe das etwa alle Mieter – also 56 Prozent aller deutschen Haushalte. Denn nur 44 Prozent der Haushalte verfügen über Wohneigentum – im internationalen Vergleich ein sehr niedriger Wert.

Erträgliche Ungleichheit

Rechnet man die Versorgungsansprüche in die Vermögensverhältnisse hinein, glättet sich die in Deutschland vermeintlich besonders ungerechte Vermögensverteilung. Ohne Versorgungsansprüche beträgt der sogenannte Gini-Koeffizient, der solche Ungleichheit ausdrückt, für Deutschland 0,765 – auf der Gini-Skala von null bis eins bedeutete null die absolute Vermögensgleichheit (alle besitzen gleich viel) und eins die größtmögliche Ungleichheit (einer besitzt alles, die anderen nichts). Mit allen Versorgungsansprüchen beträgt dieser Gini-Ungleichheits-Index für Deutschland nur noch 0,511.

Noch klarer: Ohne Versorgungsansprüche besitzen die Reichsten zehn Prozent der Gesellschaft 55 Prozent allen Nettovermögens im Lande. Rechnet man dagegen mit den Versorgungsansprüchen aus dem Sozialstaat, so besitzen die reichen zehn Prozent nur noch 32 Prozent des landesweiten Nettovermögens. Was keine Ungerechtigkeit ist, sondern im mittelständisch geprägten Deutschland fast eine Notwendigkeit: 2,4 Millionen mittelständische Familienunternehmen, die in Deutschland etwa die Hälfte aller Arbeitnehmer beschäftigen, brauchen beachtlich große Betriebs- und Familienvermögen, wenn sie Erfolg haben wollen.

Sozialstaat oder Vermögensaufbau

Aufschlussreich ist ein Blick auf das Verhältnis zwischen sozialstaatlicher Absicherung und dem Vermögensanteil der ärmeren 50 Prozent der Bevölkerung. In Deutschland beträgt der Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) hohe 28 Prozent. Die vermögensärmeren 50 Prozent der Bevölkerung besitzen allenfalls drei Prozent des Netto-Gesamtvermögens (Verhältnis: 28:3). In Österreich ist das Verhältnis ähnlich (30:3). Frankreich gibt den EU-Spitzensatz von 35 Prozent des BIP für Sozialausgaben aus. Die ärmere Hälfte der Bevölkerung besitzt dort auch nur 5 Prozent des Nettovermögens.

Je höher die Sozialausgaben, desto geringer ist der Vermögensanteil der unteren Hälfte der Bevölkerung.

Hubertus Bardt, Institut der deutschen Wirtschaft, Köln

In Polen beträgt das Verhältnis von Sozialausgaben zu Anteil am Nettovermögen der unteren Einkommenshälfte dagegen 18:9, in Rumänien 15:13. Am besten schneidet die weniger reiche Bevölkerungshälfte in Ungarn ab – mit 21 Prozent am nationalen Nettovermögen. Aber dafür gibt der ungarische Staat nur 20 Prozent des BIP für Sozialleistungen aus. Entsprechend niedrig sind dort die Sozialleistungen und Sozialstandards.

In Ländern mit starker sozialer Sicherung besteht ein geringerer Anreiz zur privaten Vorsorge.

Bertram Brossardt, vbw-Hauptgeschäftsführer

Grundsätzlich gilt: Je höher die Sozialausgaben eines Landes, desto geringer ist dort der Anteil der Vermögen der weniger reichen 50 Prozent der Bevölkerung. Je besser der Sozialstaat, desto größer ist die Ungleichheit bei der Vermögensverteilung. Die Erklärung für das Phänomen ist einfach: Wenn die sozialstaatliche Absicherung gut ist, wird für die Menschen der Anreiz – oder Zwang – zur privaten Absicherung und Vorsorge geringer. Sie haben auch weniger Gelegenheit dazu: Denn wer viel Geld an den Sozialstaat abgeben muss, dem bleibt weniger für eigene Spar- oder Vermögensmodelle – zum Beispiel für den Erwerb von Wohneigentum.

Entscheidend: Bildung

Gibt es einen Ausweg aus diesen Zahlen? Gibt es einen Weg, auf dem auch die einkommensschwächere Hälfte zu mehr Vermögen kommen könnte? Bei der Vorstellung der IW/vbw-Studie in München gibt einer ihrer Kölner Autoren eine Antwort: „Wie kommt man zu Vermögen? Mit einem guten Einkommen. Wie kommt man zu einem guten Einkommen? Mit Bildung, Ausbildung.“ Das ist eine wichtige Einsicht: Anders als oft behauptet ist eben nicht Wohlstand die Voraussetzung für Bildung. Es verhält sich genau umgekehrt: Bildung ist die Voraussetzung für Wohlstand.