Im Vorspiel steckt bereits die ganze Seifenoper. Im Salon der Villa Wahnfried bearbeitet Komponist Wagner den Flügel, dessen geöffnetem Deckel immer weitere Alter Egos entsteigen. Allesamt mit Backenbart und Wagner-Barett auf dem Kopf. Gattin Cosima, die unter Migräne leidet, winkt entnervt ab. Schwiegervater Liszt schreitet im Takt der Musik umher. Selbst der jüdische Dirigent Hermann Levi, den der antisemitisch gesinnte Hausherr so gerne quält, ist da. Und natürlich fehlen bei dieser Familienaufstellung die beiden treuen Hunde Molly und Marke nicht, zwei stattliche Neufundländer.
Die Historie der Geschichte
Als erster jüdischer Regisseur bei den Bayreuther Festspielen hat der Australier Barrie Kosky zur diesjährigen Eröffnung die „Meistersinger von Nürnberg“ inszeniert. Schon im etwa 10-minütigen Vorspiel zum ersten Akt erzählt er szenisch aus, was der Clou seiner ganzen Inszenierung ist: Kosky deutet die Geschichte biografisch und erzählt, was sich historisch daraus entwickelte – die spätere Geschichte der Geschichte. Ähnlich wie 2008 schon Regie-Kollege Stefan Herheim, der den „Parsifal“ erst vor Wagners Wohnhaus und im Verlauf der Oper auch im Bundestag spielen ließ. „Zum Raum wird hier die Zeit“, wie es in dem Bühnenweihfestspiel heißt.
Bei Kosky treten in der Villa der Schuster Hans Sachs, sein Lehrling David ebenso wie der Ritter Stolzing als Personifizierung des Komponisten auf. Der egomane Selbstinszenierer des deutschen Musiktheaters in multipler Persönlichkeitsspaltung. Die Eva, um die dieser Wagner-Junker buhlt, wird zu Cosima, Evas Vater Veit Pogner mit charakteristischem Langhaar zu Cosimas Vater Franz Liszt. Und der Dirigent Levi verwandelt sich in den Stadtschreiber Beckmesser, den der selbsternannte „Meister“ als Karikatur eines angeblich kunst-unfähigen Juden gestaltet hat. Ganz wie er seine krude Theorie im Machwerk „Das Judenthum in der Musik“ ausbreitet.
Nürnberger Bart-Würste
Nürnberg existiert in diesem Bayreuther Salon nicht. Als Abgesandte der Reichsstadt treten in mittelalterlichen Pumphosen, bärtig und mit langen Lockenmatten auf dem Haupt die Meistersinger ins Wohnzimmer. Reimende und singende Wiedergänger Albrecht Dürers, die auch an den vom Hügel verjagten Parsifal-Regisseur Jonathan Meese oder den Schlager-Transvestiten Conchita Wurst erinnern. Mit so viel Witz und komödiantischer Frechheit setzt Kosky diesen ersten Akt in Szene, dass auf einen kurzweiligen Abend zu hoffen ist mit dieser im Dritten Reich so unselig überhöhten Oper.
Die Sänger Michael Volle (Sachs), Klaus Florian Vogt (Stolzing), Anne Schwanewilms (Eva), Günther Groissböck (Pogner) singen und spielen auf eindrucksvollem Niveau. Auch wenn Wagners stabgereimte Texte nicht immer glasklar verständlich sind. Ensemble-Szenen wie das komplexe Quintett am Schluss von Akt I gelingen den Stars mit durchscheinender Klarheit – während das Wahnfried-Zimmer wie eine Puppenstube langsam in den Bühnenhintergrund fährt.
Nürnberg ist in Wagners Oper kein realer Ort. Es ist geboren aus seiner Sehnsucht.
Barrie Kosky, Regisseur
Im zweiten Akt jedoch geht es dahin mit der Unterhaltsamkeit. Auf einer struppigen, verkrauteten Kunstrasenwiese in einem holzvertäfelten Saal komponiert Sachs mit Stolzing das Meisterlied, das er auch noch dem Schreiber Beckmesser unterschiebt. Mit beklemmendem Slapstick-Humor stammelt und stottert dessen Darsteller Johannes Martin Kränzle die Melodie. Der „kunst-unfähige Jude“, wie ihn die Nationalsozialisten bei „Meistersinger“-Aufführungen während der Nürnberger Reichsparteitage sehen wollten.
Am Ende der Szene bekommt Kränzle einen riesigen Pappmaché-Judenkopf aufgesetzt, der unverkennbar an das Filmplakat zum NS-Propagandafilm „Der ewige Jude“ erinnert. Als Pointe zeigt Koskys Inszenierung szenisch, wie aus Wagners scheinbar kleiner antisemitischer Satire im Staat seines Bewunderers Adolf Hitler eine monströse Riesensache wurde: Aus dem Bühnenboden pumpt sich derselbe bösartige Judenkopf mit Hakennase und Schillerlocken zu zehn Metern Größe auf, so dass Kränzle mit seiner kleinen Maske dahinter verschwindet.
Wagner vor Gericht
Nach dem genialen ersten und dem abgründigen zweiten Akt verliert der Bayreuther „Meistersinger“-Abend jedoch im dritten den Faden. Zwar spielt er in einem Gerichtssaal, der jenem nachempfunden ist, in dem der Nürnberger Kriegsverbrecherprozess gegen Göring & Co. geführt wurde. Aus dieser Kulisse folgt bei Kosky indes erzählerisch nicht viel – außer, dass eben das Festwiesen-Preisgericht der Meistersinger dort tagt. Im Grunde arg bieder fährt der Regisseur hier die Volksszenen in konventionellen mittelalterlichen Kostümen ab.
Den heiklen „Heil, Heil“-Gesang des Chors am Schluss fängt er damit ab, dass das Ensemble nebst Playback-Orchester auf einem Rollpodium auf die Bühne und wieder herunter gefahren wird. Umso irritierender klingt nach dem letzten Takt das obligatorische „Hei“-Gebrüll, mit dem begeisterte Wagnerianer wie jedes Jahr auch die diesjährige Premiere feiern. Viel Applaus für die Sänger, das Regieteam und Dirigent Philippe Jordan, der das Festspielorchester sehr transparent geführt hat – perfekte Dienstleistung für die bestens aufgelegten Stimmkünstler.
„Königlicher Glanz“
Beim anschließenden Staatsempfang, zu dem Ministerpräsident Horst Seehofer neben dem schwedischen Königspaar Carl Gustaf und Silvia und Bundeskanzlerin Angela Merkel zahlreiche Minister des Bundeskabinetts sowie der bayerischen Staatsregierung begrüßte, lobte der Gastgeber: „Die Bayreuther Festspiele sind nicht nur ein Fixstern am bayerischen Kulturhimmel, sondern auch ein internationales Highlight.“
Im Konsens mit der Berliner Regierungschefin – Bund und Land betreiben zusammen mit der Stadt Bayreuth und dem Mäzenatenverein „Freunde von Bayreuth“ die Festspiele – kündigte Seehofer an, die „wohlwollende Unterstützung“ für das Haus auf dem Hügel in den nächsten Jahren ohne Abstriche fortzusetzen. Summen dürfe er aber nicht nennen, habe ihn die Kanzlerin ermahnt.