Ministerpräsident Horst Seehofer, hier auf dem CDU-Parteitag in Karlsruhe, hat seine Forderungen an Bundeskanzlerin Angela Merkel in einem Brief formuliert. Foto: Imago
Flüchtlingskrise

„Das sprengt die Grenzen des Leistbaren“

In einem Brief hat sich Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer an Bundeskanzlerin Angela Merkel gewandt. Nun hat die Staatsregierung das Schreiben veröffentlicht. Darin zeichnet Seehofer ein dramatisches Bild von der Situation im Freistaat und fordert eine Begrenzung des massenhaften Zustroms von Flüchtlingen. Der Brief im Wortlaut.

Der bayerische Forderungsbrief an Kanzlerin Angela Merkel  ist nun öffentlich. Die bayerische Staatsregierung stellte am heutigen Freitag das Schreiben ins Internet. Ministerpräsident Horst Seehofer fordert darin eine Kehrtwende Merkels in der Flüchtlingspolitik – samt Festlegung einer Obergrenze von 200 000 Menschen pro Jahr. Der CSU-Vorsitzende verlangt „unverzügliches Handeln“. Sollten die notwendigen Maßnahmen nicht ergriffen werden, „behält sich Bayern eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht ausdrücklich vor“. Merkel hat sich bislang nicht zu dem Brief geäußert – aber eine Antwort in Aussicht gestellt: „Briefe werden beantwortet und nicht öffentlich diskutiert“, sagte sie am späten Donnerstagabend.

Hier der Brief im vollständigen Wortlaut:

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,

liebe Angela,

die aktuelle Lage in der Flüchtlingskrise ist dramatisch. Der ungebremste und ungeregelte Zustrom der Flüchtlinge hat zu untragbaren Zuständen an den bayerischen Landesgrenzen zu Österreich und zu nicht verkraftbaren Belastungen für Freistaat, Kommunen und Hilfsorganisationen geführt.

Im Jahr 2015 haben mehr als eine Million Asylbewerber die Grenze zwischen Österreich und Bayern überschritten. Ein großer Teil davon musste in Bayern untergebracht und versorgt werden. Der Freistaat und seine Kommunen sowie Hilfsorganisationen haben alles in ihrer Macht stehende geleistet, um winterfeste Quartiere für die vielen Asylbewerber bereitzustellen. Turnhallen, Zeltplätze und Traglufthallen wurden vielerorts hergerichtet, um Menschen zu beherbergen. Tausende von Asylbewerber- und Flüchtlingskindern und -jugendlichen wurden in das bayerische Schulsystem integriert. Umgekehrt hat die staatliche Verwaltung alles unternommen, um ausreisepflichtige Ausländer schnellstmöglich aus dem Land zu bringen, aber nur mit wenigen ausländischen Staaten bestehen effektive Rückführungsübereinkommen. Zudem wächst der Antragsstau beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge täglich.

Der Zustrom von Flüchtlingen hält weiter an. Seit Anfang des Jahres wurden täglich zwischen rund 1.100 und 3.400 Personen von der Landes- und Bundespolizei in Bayern erfasst. Dazu kommen die Direktzugänge in den bayerischen Erstaufnahmeeinrichtungen, so dass allein in den ersten Januarwochen trotz jahreszeitlich bedingter schwieriger Witterungsverhältnisse bereits rund 50.000 Asylbewerber in Bayern ankamen. Wenn es nicht gelingt, diesen Zustrom deutlich zu reduzieren, werden wir auch 2016 mit einer Million oder mehr Asylbewerbern rechnen müssen. Das sprengt die Grenzen des Leistbaren.

Die Integration der anerkannten Flüchtlinge stellt Freistaat und Kommunen vor kaum mehr zu bewältigende Aufgaben. In vielen Städten und Kommunen in Bayern, vor allem in den Wachstumsregionen München, Nürnberg und Augsburg, fehlt angemessener Wohnraum zur Unterbringung der anerkannten Flüchtlinge. Die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, vor allem in und im Umfeld von Flüchtlingsunterkünften, bindet zunehmend mehr Polizeikräfte. Zugleich steigt der Personalbedarf zur Gewährleistung einer wirksamen Strafverfolgung. Insgesamt mussten allein im Haushalt 2016 des Freistaats Bayern knapp 5.500 neue Stellen ausgewiesen werden, um auf die Flüchtlingskrise zu reagieren. Diese Entwicklung kann so nicht mehr weitergehen.

Vor diesem Hintergrund hat einer der namhaftesten Staatsrechtler Deutschlands, der ehemalige Bundesverfassungsrichter Prof. Dr. Dr. Udo Di Fabio, im Auftrag der Bayerischen Staatsregierung in einem Rechtsgutachten, das ich meinem Schreiben beifüge, überzeugend dargelegt, dass eine verfassungsrechtliche Pflicht des Bundes zur Begrenzung des massenhaften und unkontrollierten Zustroms von Flüchtlingen auch gegenüber den Ländern besteht. Der Bund ist verpflichtet, einen wirksamen Schutz der Grenzen sicherzustellen. Eine funktionierende Staatlichkeit setzt die Beherrschbarkeit der Staatsgrenzen voraus.

Das Gutachten zeigt, dass die derzeitige unkontrollierte Einreise mit dem Grundgesetz nicht vereinbar ist. Geltendes Recht wird nicht beachtet. Das gemeinsame europäische Grenzsicherungs- und Einwanderungsregime ist nicht nur vorübergehend, sondern dauerhaft gestört. Das europäische Dublin- und Schengensystem findet de facto keine Anwendung mehr. Der Bund ist deshalb gehalten, im Sinne einer Gewährleistungsverantwortung selbst für den Schutz der Grenzen zu sorgen. Diese Aufgabe nimmt er bislang nicht in dem gebotenen Maße wahr. Die im Grundgesetz verankerte Drittstaatenregelung, die bestimmt, dass Asylbewerber an der Grenze zurückzuweisen sind, welche aus sicheren Drittstaaten einreisen, wird außer Acht gelassen. Dem ging auch keine Änderung der Rechtslage durch ein Gesetzgebungsverfahren unter Wahrung der Mitwirkungsrechte der Länder über den Bundesrat voraus. Der Bund steht somit in der Verantwortung, die Herrschaft des Rechts wieder herzustellen. Die Zahl der illegal einreisenden Flüchtlinge muss nachhaltig begrenzt werden. Weder aus dem Grundgesetz noch aus dem Völker- oder Europarecht kann eine Verpflichtung Deutschlands abgeleitet werden, den Schutz aller Menschen weltweit durch Einreiseerlaubnis zu garantieren. Es besteht auch keine Verpflichtung Deutschlands zur unbegrenzten Aufnahme von Opfern eines Bürgerkriegs oder bei Staatenzerfall.

Angesichts der dramatisch wachsenden Belastung aller Länder in den letzten Wochen und Monaten ist jeder Gestaltungsspielraum des Bundes auf ein Minimum geschrumpft. Es ist unverzügliches Handeln erforderlich.

Die Bayerische Staatsregierung erwartet endlich wirksame Maßnahmen durch den Bund zur Begrenzung des Flüchtlingsstroms.

  • Auf europäischer Ebene ist alles zu unternehmen, um die wirksame Sicherung von EU-Außengrenzen sowie eine effektive und faire Verteilung von Flüchtlingen durchzusetzen. Eine wirksame Sicherung der Grenzen muss sich daran messen lassen, dass alle, die die Aufnahme als Flüchtling in der Europäischen Union begehren, sofort bei Betreten des Schengen-Raumes lückenlos registriert werden. Eine effektive und faire Verteilung von Flüchtlingen bedeutet zudem, dass Europa die angekommenen Flüchtlinge entsprechend der jeweiligen Leistungsfähigkeit seiner Mitgliedstaaten verteilt und ihre Gesamtzahl auf eine nachhaltig verkraftbare Größe begrenzt. Die bisherigen Bemühungen sind leider ohne spürbaren Erfolg geblieben.
  • Bis zur Wiederherstellung eines ausreichenden Schutzes der EU-Außengrenzen sind umgehend effektive eigene Grenzkontrollen durchzuführen, die vor allem eine vollständige Registrierung der einreisenden Flüchtlinge (einschließlich einer unmittelbar bestandsbildenden und recherchefähigen erkennungsdienstlichen Behandlung) an allen Grenzübergängen sicherstellen. Dafür müssen die personellen Kapazitäten der Bundespolizei an den bayerischen Grenzen deutlich aufgestockt werden. Falls der Bund sich außerstande sieht, dieses Personalkontingent zu stellen, ist Bayern bereit, die Bundespolizei mit eigenen Kräften zu unterstützen.
  • Da nicht zuletzt auch mit Blick auf die aktuellen Entwicklungen in Österreich und anderen europäischen Staaten nicht erkennbar ist, dass es zeitnah zu einer wirksamen Regelung auf EU-Ebene kommt, ist möglichst umgehend eine Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen von jährlich 200.000 Personen bezogen auf Deutschland festzulegen. Ein Antrag, in dieses Kontingent aufgenommen zu werden, soll nicht an der deutschen Grenze, sondern nur und bereits in den Ländern gestellt werden können, in denen die Flüchtlinge zuerst Schutz gesucht haben. Hierin läge ein wichtiges Signal an die Herkunftsländer, aber auch an die anderen Mitgliedstaaten, dass auch Deutschland nicht länger zu einer unbegrenzten Aufnahme bereit ist.
  • Bis zu einer wirksamen europäischen Lösung ist die im Grundgesetz verankerte Drittstaatenregelung anzuwenden, nach der alle aus sicheren Drittstaaten wie Österreich illegal Einreisenden noch an der Grenze zurückzuweisen sind.

Solche nationalen Maßnahmen können nach unserer Überzeugung auch die Bereitschaft der anderen Mitgliedstaaten fördern, an einer gemeinsamen europäischen Lösung mitzuwirken. Die bisher unbegrenzte Aufnahmebereitschaft Deutschlands hat die Herbeiführung eines europäischen Konsenses ganz offensichtlich nicht befördert, sondern erkennbar erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht. Die Freizügigkeit für alle Europäer und der freie Warenverkehr werden durch die Grenzkontrollen nicht in Frage gestellt. Die mit Grenzkontrollen verbundenen Belastungen für Bürger und Wirtschaft müssen so gering wie möglich gehalten werden, sind in diesem Umfang aber zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, die auch einen wesentlichen Standortfaktor darstellt, hinzunehmen. Temporäre nationale Maßnahmen sind jedenfalls in der jetzigen Situation auch für Europa eine Chance, um zu geordneten Verhältnissen zurückzukehren.

Die geforderten Maßnahmen werden über Deutschland hinaus wirken. Das Vorgehen sollte deshalb den übrigen Staaten der EU vorab dargelegt werden. Soweit eine Überforderung einzelner Staaten auf der bisherigen Fluchtroute droht, wird die Bundesrepublik auch Unterstützung vor Ort anbieten müssen, um humanitäre Notlagen abzufedern. Dazu gehört auch, die Arbeit des UNHCR weiter zu unterstützen und dadurch mitzuhelfen, die Flüchtlingslager vor Ort besser auszustatten. Es muss unser gemeinsames Ziel sein, dass die Flüchtlinge vor Ort ordentlich versorgt werden.

Diese Maßnahmen müssen angesichts der akuten Gefährdung der innerstaatlichen Funktionsfähigkeit schnellstmöglich umgesetzt werden. Wirksame Grenzkontrollen sind auch der Schlüssel, um die Sicherheit in der EU wieder zu gewährleisten und die gefährlichen Reisen der Flüchtlinge über das Mittelmeer zu stoppen. Durch die rechtzeitige Einbindung unserer europäischen Partnerstaaten ist ferner sichergestellt, dass es nicht zu chaotischen Zuständen auf dem Balkan kommt.

Sollten diese dringend notwendigen Maßnahmen zur Begrenzung des Flüchtlingszustroms nicht unverzüglich ergriffen werden, behält sich Bayern eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht ausdrücklich vor.

Wir hoffen jedoch, dass der Bund nunmehr seine Kompetenzen in einer Weise ausüben wird, die die Interessen und Rechte der Länder wahrt. In Erwartung einer Antwort verbleibe ich

mit freundlichen Grüßen

Horst Seehofer