Die Stimmung ist gekippt
Beunruhigende Umfrage-Ergebnisse: Immer mehr Menschen machen sich Sorgen über die Flüchtlingssituation. Sie bezweifeln, dass die Politik die Kontrolle hat und Antworten geben kann. Es erscheint eine Kluft zwischen der Bevölkerung auf der einen und der Politik und den Medien auf der anderen Seite: Eine öffentliche – und offene – Debatte über eine Schicksalsfrage der Nation findet nicht statt.
Asylpolitik

Die Stimmung ist gekippt

Beunruhigende Umfrage-Ergebnisse: Immer mehr Menschen machen sich Sorgen über die Flüchtlingssituation. Sie bezweifeln, dass die Politik die Kontrolle hat und Antworten geben kann. Es erscheint eine Kluft zwischen der Bevölkerung auf der einen und der Politik und den Medien auf der anderen Seite: Eine öffentliche – und offene – Debatte über eine Schicksalsfrage der Nation findet nicht statt.

Die Stimmung kippt nicht mehr. Sie ist gekippt. Und immer Bürgern verlieren ihr Vertrauen in die Politik. Das ist aus aktuellen Umfragen herauszulesen: Laut dem aktuellen ZDF-Politbarometer sind 50 Prozent der Bundesbürger der Auffassung, dass Deutschland die vielen Flüchtlinge nicht verkraften kann. 52 Prozent finden, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel im Bereich Flüchtlinge und Asyl „ihre Arbeit eher schlecht“ macht. Nur 43 Prozent halten ihre Arbeit eher für gut. Dagegen halten jetzt 45 Prozent der Befragten die Arbeit von Innenminister Thomas de Maizière beim Thema Flüchtlinge und Asyl für gut – Im September waren es nur 34 Prozent. Der Innenminister hat kürzlich die Rückkehr zur Einzelfallprüfung für syrische Asylbewerber angeordnete – ohne vorherige Rücksprache mit dem Kanzleramt. Die Menschen im Lande, darf man schließen, honorieren es, wenn die Politik sich um Kontrolle bemüht.

Die Bürger wollen eine Obergrenze für die Flüchtlingszahl

Sehr ähnliche, aber dabei noch beunruhigender Erkenntnisse präsentierte vor gut zwei Wochen das Institut für Demoskopie Allensbach. Instituts-Chefin Renate Köcher stellte sie in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vor unter der Überschrift: „Kontrollverlust – die Besorgnis der Bürger wächst.“ In einem Interview mit der Berliner Tageszeitung Die Welt spricht sie jetzt von „Tiefer Beunruhigung in der Bevölkerung.“ Die Allensbacher Zahlen sprechen für sich: Im August hatten 40 Prozent der Befragten „große Sorgen“ über die „Entwicklung der Flüchtlingssituation in Deutschland“. Im September waren es 44 und im Oktober schon 54.

Zwei Drittel der Bürger gehen davon aus, dass die Flüchtlingswelle Deutschland stark verändern wird.

Renate Köcher in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

Die Menschen denken über die Entwicklungen nach und was sie für ihr Land bedeuten. Einschläfernde Parolen – etwa über Facharbeiter aus Afrika oder Ärzte aus Syrien − bewirken nichts mehr: Allensbach zufolge glauben nur 14 Prozent der Bürger, dass viele der Flüchtlinge gut ausgebildet seien. Dafür wird einer Mehrheit klar, dass der Migrantenstrom „die Zahl der in Deutschland lebenden Muslime signifikant erhöht“, so Köcher in der FAZ: „Zwei Drittel der Bürger gehen davon aus, dass die Flüchtlingswelle Deutschland stark verändern wird.“ Anders als Bundeskanzlerin Merkel vertrat schon im Sommer die Mehrheit der Befragten die Auffassung, „das Land insgesamt sei an der Kapazitätsgrenze angelangt. Im Oktober sagten 69 Prozent der Bürger, dass die meisten ihrer Verwandten, Freunde und Bekannten „die Aufnahme weiterer Flüchtlinge ablehnen“. Bundeskanzlerin Merkels Wort, das Grundrecht auf Asyl kenne keine Obergrenze, stößt auf Ablehnung: Deutlich mehr als die Hälfte der Bürger  – 56 Prozent – „fordern eine Obergrenze für die Anzahl an Flüchtlingen, die Deutschland aufnehmen kann und will“.

Eine Mehrheit der Bürger hält die Politik für überfordert und ratlos

Zur Differenz in der Sache tritt bei immer mehr Bürgern die Befürchtung, dass die Politik die Kontrolle über die Situation verloren hat. 57 Prozent der Bürger seien überzeugt, berichtet Köcher, „dass Deutschland jegliche Kontrolle darüber verloren hat, wie viele Flüchtlinge ins Land kommen.“ Diese Mehrheitseinschätzung ist leider richtig: Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge schätzt, dass sich bis zu 290.000 Migranten völlig unregistriert im Lande bewegen. Das Bundesinnenministerium gibt zu, dass es nicht einmal weiß, wie viele Migranten in Aufnahmelagern versorgt werden und wie viele sich zurzeit in Deutschland aufhalten. Dazu passt, dass eine Mehrheit der Bürger die Politik in der Migrantenkrise schlicht für überfordert und ratlos hält. Köcher in der FAZ: „Besonders kritisch ist, dass in der Bevölkerung Zweifel daran weit verbreitet sind, ob die Politik überhaupt eine Vorstellung hat, wie die Probleme eingegrenzt und bewältigt werden können.“

Wer Grenzen in Frage stellt, der stellt das ganze Land in Frage

Vorschub geleistet hat diesem Gefühl des Kontrollverlusts wohl auch jene Bemerkung von Bundeskanzlerin Merkel, dass man 3000 Kilometer Grenzen Deutschlands gar nicht schützen könne. Es habe eine „enorme Wirkung, wenn ein solcher Satz fällt“, so Köcher jetzt zur Welt. Kein Wunder: Grenzen definieren und schützen einen Staat und alle seine Errungenschaften. Wer die Landesgrenzen in Frage stellt, stellt das ganze Land in Frage und alles was zu ihm gehört: Der Sozialstaat etwa verlangt nach Grenzen und ist ohne Grenzen gar nicht denkbar. Die Menschen, die für ihn Steuern und Sozialversicherungsbeiträge aufbringen und darauf rechnen, dass der Sozialstaat sie im Bedarfsfall  auch auffängt, wissen das genau. In Berlin weiß es offenbar nicht jeder.

Überwältigungsjournalismus

Ein ebenso wichtiger wie beängstigender Allensbach-Befund ist, dass 43 Prozent der erwachsenen Bevölkerung glauben, „dass man in Deutschland seine Meinung zu der Flüchtlingssituation nicht frei äußern darf und sehr vorsichtig sein muss, was man sagt.“ Eine Mehrheit der Bevölkerung, heißt das, fühlt eine Kluft zwischen sich und der Politik. Und sehr viele Bürger misstrauen den Medien: 47 Prozent halten die Berichterstattung der Medien zur Migrantenkrise für einseitig.

Angesichts der Flüchtlingswelle haben die Medien, besonders in Deutschland, die kritische Distanz verloren. Die Berichterstattung geriet zur Kampagne.

Neue Zürcher Zeitung

Diese letzte Allensbacher Zahl passt zu Beobachtungen der Neuen Zürcher Zeitung. Das üblicherweise als besonders sachlich geltende Blatt warf schon im Juni der deutschen Presse eine „Medienpraxis des Wegsehens und der camouflierenden Berichterstattung“ vor und regelrechte „Propaganda für die «Willkommenskultur»“ vor, „die die Einheimischen zum herzlichen Empfang für die Fremden erziehen will.“ Mitte September wurde die NZZ unter dem Titel „Berichterstatter als Stimmungsmacher“ noch deutlicher: „Angesichts der Flüchtlingswelle haben die Medien, besonders in Deutschland, die kritische Distanz verloren. Die Berichterstattung geriet zur Kampagne.“ Mit Blick auf die deutschen Medien – Presse wie Fernsehen – in der Flüchtlingskrise schreibt das Schweizer Qualitätsblatt von „Überwältigungsjournalismus“ und von „moralischen und emotionalen Ekstasen“: „Einseitigkeit war Trumpf.“

Noch immer fehlt eine faktengesättigte öffentliche Debatte

Der Meinungsjournalismus hatte eine Folge, und auch die erläutert die NZZ: „Die Einseitigkeit der Berichterstattung setzen dass Publikum nicht nur moralisch unter Druck, einen gesellschaftlichen Wandel von erheblichem Ausmaß zu akzeptieren, ohne die eigenen Sorgen, Vorbehalte und Bedürfnisse angemessen in die öffentliche Erörterung einbringen zu können. Es fehlt dieser Berichterstattung auch der Sinn fürs nüchterne Kalkül, das die divergierenden Interessen aller Beteiligten identifiziert, anerkennt und im kritischen Räsonnement ausbalanciert.“

Die Einseitigkeit der Berichterstattung setzen dass Publikum nicht moralisch unter Druck, einen gesellschaftlichen Wandel von erheblichem Ausmaß zu akzeptieren, ohne die eigenen Sorgen, Vorbehalte und Bedürfnisse angemessen in die öffentliche Erörterung einbringen zu können.

NZZ

Kurz: Die öffentliche Diskussion fand nicht statt. Die dringend notwendige faktengesättigte Debatte über das, was da im Land und mit dem Land geschah, blieb aus – in der Öffentlichkeit und darum auch in der Politik, jedenfalls außerhalb Bayerns. Wo der offene Austausch der Argumente und Meinungen nicht stattfinden kann, sind Konfrontation und Misstrauen die Folge. Es ist eher unwahrscheinlich, dass sich die nächste Allensbach-Studie wesentlich erfreulicher lesen wird.